Digitalisierung der Schulen

Ohne Pädagogik ist das Tablet nichts

29:15 Minuten
Schüler einer 7. Klasse sitzen auf dem Boden und lernen mit iPads im Matheunterricht an der Oberschule Gehrden in der Region Hannover.
Mit dem beschlossenen Digitalpakt stehen pro Schule etwa 125.000 Euro zur Verfügung. © picture alliance/dpa/Julian Stratenschulte
Von Manuel Waltz |
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Mit dem Digitalpakt können Schulen jetzt auch vermehrt mit Tablets arbeiten. Lehrkräfte haben damit mehr Verantwortung für den Lerninhalt. Schüler sollen individueller gefördert werden. In den Niederlanden hat man aus den ersten digitalen Versuchen gelernt.
Der Da Vinci Campus in Nauen, etwa 50 Kilometer westlich von Berlin. Knapp 1000 Kinder und Jugendliche lernen hier. Auf dem Campus: eine Grundschule, eine Gesamtschule und ein Gymnasium. Dazu Kita, Hort und Internat.
"Unser Konzept hat überzeugt. Wir sind eine der 15 besten Schulen Deutschlands."
So wirbt der Campus auf seiner Homepage. Beleg ist ein Schulwettbewerb, bei dem die Robert-Bosch-Stiftung federführend ist. Der Campus ist in privater Trägerschaft und verlangt ein nach dem Einkommen der Eltern gestaffeltes Schulgeld. Kleine Klassen, kein Unterrichtsausfall, mediengestützter Unterricht – drei von zehn Gründen, so die Eigendarstellung, die für den Da Vinci Campus sprechen.
"Sie können da draufdrücken, dann passiert etwas."

Wahl zwischen verschiedenen Lern-Profilen

Olaf Gründel steht mit zwei seiner Kollegen im Foyer. Es ist ruhig hier. In den Klassenräumen läuft der Unterricht. Gründel leitet das Gymnasium. Er zeigt auf einen Touchscreen, etwa einen Meter breit, 60 Zentimeter tief. Die Schüler hier können zwischen verschiedenen Lern-Profilen wählen. Und der Bildschirm ist ein Arbeitsergebnis des Medien-und Kommunikationsprofils.
"Die Schüler haben sich hier mit dem Thema Reformation beschäftigt. Das ist vor anderthalb Jahren entstanden zum Reformationsjahr, haben das, was man zum Thema Reformation erarbeitet – Biografie Luthers – im Unterricht, Deutsch und Geschichtsunterricht, erarbeitet, haben dann überlegt, wie sie daraus ein mediales Produkt machen können und sind so auf einen Touchscreen gekommen und den umzusetzen."
Auf dem Bildschirm, der in einen schweren, dunklen Holztisch eingelassen ist, sind Figuren zu sehen: zum Beispiel Martin Luther und Lukas Cranach. Die Figuren und andere Elemente kann man mit den Fingern anklicken, dann öffnen sich verschiedene Formate: Texte, Bilder, Filme.


"Dann waren sie in einer Hochschule in Berlin und haben dann mit den Studierenden zusammen sozusagen die Dinge entwickelt, die als Hintergrund laufen müssen, also die Programmierung. Dann haben sie die Grafik entwickelt und die Grafik auch umgesetzt mit den Studierenden. So. Und am Ende haben sie dann selbst diesen Tisch als Modell entworfen, haben den mit einer Tischlerei hier in der Region umgesetzt, da gab es also verschiedene Entwürfe, und raus kommt also dann so ein fertiges Produkt, was man hier einsetzen kann, was wir präsentiert haben in den Luther-Gedenkstätten zum Luther-Jahr, was dann im Museum der Reformation stand, in Mühlberg und jetzt eben hier in der Schule steht."

Olaf Gründel probiert die Funktionen des Tisches aus. Er will etwas über Luthers Zeit in Wittenberg erfahren. Die Figuren, die Häuser und die Landschaft sind gut zu erkennen. Alles ist in einem ansprechenden und detailreichen Design gestaltet, das Ganze erinnert an einen Comic.
"Und wir sehen hier in den Pausen in der Tat auch die Schüler rumstehen, die sich die Dinge angucken. Wenn ich hier ein Buch hinstellen würde zum Thema Reformation, glaube ich nicht, da würde niemand ein Interesse haben, sich das zu nehmen und in den Pausen anzugucken. Oder vielleicht zehn Prozent der Schülerschaft. Genau. Und das kann man jetzt von allen Seiten bewegen, kann man auch drehen. Wenn man es kann. Da wären die Fähigkeiten der Schüler, die könnten das jetzt, das können die eben alle viel besser."
Olaf Gründel, Leiter Gymnasium Da Vinci Campus, steht in der Schule vor einem Touchscreen.
Olaf Gründel, Leiter Gymnasium Da Vinci Campus in Nauen, Brandenburg, und seine Lehrerschaft haben bereits drei Jahre Erfahrung mit einer digitalen Schule.© Deutschlandradio / Manuel Waltz

Digitalisierung ist die nächste große Herausforderung

Digitalisierung in der Bildung – nach diversen Bildungsreformen und der Aufnahme von geflüchteten Kindern- und Jugendlichen ist das die nächste große Herausforderung für die Pädagogen im Land. Mit dem Digitalpakt stehen jetzt fünf Milliarden für rund 40.000 Schulen im Land bereit. Das klingt erst einmal viel, bedeutet aber pro Schule nur etwa 125.000 Euro.
Hinzu kommt Geld von den Ländern und Gemeinden. Wofür wird dieses Geld ausgegeben? Klar ist, dass es bei manchen Schulen erst einmal um Grundlegendes geht. Das sieht auch Christian Büttner so. Koordinator für IT und digitales Lernen in Nürnberg. Und Vorsitzender im "Bündnis für Bildung", ein Verein, der sich als "Schnittstelle zwischen der Bildungsindustrie und der Öffentlichen Hand" sieht.
"Die Stadt Nürnberg hat insgesamt 140 Schulen in zirka 180 Gebäuden. Die sind von der Kaiserreichszeit also aus dem Jahr 1890 bis jetzt Neubauten aus dem Jahr 2017 und dementsprechend besteht natürlich die Herausforderung, jedes Gebäude individuell anzuschauen, aber dann zu überlegen, wie kann ich dieses Gebäude infrastrukturell so ertüchtigen, dass ein Unterricht in der digitalen Zeit möglich ist."


Als grundlegend gelten dabei ein schneller Internetanschluss, ein LAN- und ein WLAN-Anschluss in jedem Klassenzimmer. Und darüber verfügen bei weitem noch nicht alle. Andere arbeiten schon selbstverständlich digital, haben interaktive White-Boards statt Tafeln, nutzen Tablets und eine Schulcloud. Die Unterschiede sind groß.
"Und ähnlich ist es auch bei der Lehrerausbildung. Die Lehrerausbildung ist auch da sehr heterogen. Es gibt sehr viele Lehrer, die sehr, sehr interessiert an dem Thema des Digitalen sind und es gibt eben Lehrer, die noch etwas Nachholbedarf haben."
Schüler am Gymnasium Carolinum in Neustrelitz nutzen iPads im Matheunterricht. 
Wie im restlichen Leben: Manche Lehrkräfte sind aufgeschlossen gegenüber der neuen Technik, andere nicht.© picture alliance/dpa/Britta Pedersen

Pioniere und Skeptiker unter den Lehrkräften

Einige Lehrkräfte haben aus eigenem Interesse digitale Lehrmethoden- und mittel im Unterricht eingeführt. Manche haben so die ganze Schule begeistert und mitgezogen. Die Ausgangsbasis für Fortbildungen ist also nicht einheitlich, manch ein Lehrer steht quasi bei null, andere dagegen sind weit fortgeschritten – mit allen Graustufen dazwischen. Darin sieht Christian Büttner aber auch eine Chance: Die Pioniere können als Best-Practice-Vorbilder dienen, können zeigen, wie es funktioniert und vor allem dass es funktioniert. Denn die Skeptiker wollen eines nicht: ihren reibungslosen Unterricht gefährden.
"Sie möchten dazu eine stabile Arbeitsumgebung, sie möchten Arbeitsgeräte, die auch funktionieren, die stabil funktionieren, die dauerhaft funktionieren und dann sind die Lehrkräfte auch bereit, sich fortzubilden."
Die technischen und personellen Voraussetzungen sind das eine. Doch was ist das Ziel der Digitalisierung? Sollen die Schülerinnen und Schüler fit gemacht werden für eine Arbeitswelt der Bits und Bytes? Oder sollen sie vor allem Medienkompetenz lernen, soll ihnen vermittelt werden, wie umzugehen ist mit Hass und Fake News im Netz, oder wie man seine Daten schützt? All das sind für Olaf Gründel vom Da Vinci Campus wichtige Inhalte des Unterrichts. Entscheidend aber ist für ihn, dass Tablets und Notebooks nur ein Mittel zum Zweck bleiben.
"Es geht gar nicht darum, dass wir Technik und Technik und Technik einsetzen, sondern, dass sich Kommunikation und Lernen verändern kann."

Hoffnung auf individualisierte Unterstützung beim Lernen

Er sieht sich erstmals in der Lage, Unterricht so durchzuführen, wie er es schon lange gerne würde – aber bisher nicht konnte.
"Und unsere große Hoffnung ist, dass sich Fragen lösen lassen, für die wir seit 30 Jahren keine Antworten haben und das ist Differenzierung von Lerngruppen, Individualisierung von Lernen und in der Tat eine Veränderung von Rollenverhältnissen in Schulen, die damit einhergehen."
Im Gymnasium des Da Vinci Campus wird in Kürze eine neue Lernplattform eingerichtet – eine sogenannte Schulcloud. Ein virtueller Raum, in den sich alle – Schüler, Pädagogen und Eltern mit unterschiedlichen Berechtigungen und individuellen Zugängen einloggen können. Die Lehrkräfte können Arbeitsmaterialien teilen, sich untereinander austauschen. Sie können über diese Cloud ihren Unterricht organisieren, den Schülern Arbeitsmittel zur Verfügung stellen und Aufgaben stellen. Die seit langem geforderte Individualisierung des Unterrichts wird so möglich, glaubt der Leiter des Gymnasiums.

"Einfach, weil Sie unterschiedliche Lerntypen in Zukunft anders bedienen können, als Sie es im Unterrichtssetting machen können – 25 oder 20 oder 22 Schüler, ein Lehrer vorne. Sie haben unterschiedliche Lerntypen vor sich sitzen, die können Sie unmöglich gleich alle in ihren unterschiedlichen Lerntypen bedienen. Das können Sie sehr viel besser über eine Plattform, in der Sie unterschiedliche Medien zur Verfügung stellen. Also etwas zum Hören, etwas zum Lesen, zum Sehen. Beim Haptischen ist es noch ein bisschen schwierig, aber alle anderen Lerntypen können Sie viel differenzierter ansprechen, als Sie es bisher können."

Die Technik als Dienstleister für den Lehrer. Für individuelle pädagogische Hilfe.
"Es bleibt immer noch eine große Herausforderung, das zu bündeln und zusammenzustellen, aber technisch ist es zum ersten Mal irgendwie denkbar. Das ist vorher nicht denkbar. Sie haben nur Arbeitsblätter oder Sie haben einen Bildschirm in der Klasse, da können Sie wenig differenzieren. So, Sie können sagen, die einen gucken auf ein Arbeitsblatt aber sobald Sie einen Bildschirm vorne anmachen, gucken natürlich alle auf den Bildschirm und sind nicht mehr bei ihren Blättern, auch wenn sie eigentlich besser arbeiten könnten. Aber das können Sie jetzt durch die Technik."

Drei Jahre Erfahrung mit digitaler Schule

Seine Zuversicht zieht Olaf Gründel aus den Erfahrungen seiner Kolleginnen und Kollegen der Gesamtschule. Seit fast drei Jahren schon arbeitet man hier ohne Bücher, nur noch mit Tablets. So auch in dieser elften Klasse. Antje Berger steht vor einer weißen Tafel, ein Beamer projiziert ein Bild von Maria Stuart darauf.

"Ich habe euch auf der Willkommensseite einmal aufgeschrieben, dass wir 16 Blöcke haben bis zur Klausur, die Klausur werden wir natürlich logischer Weise zu Maria Stuart schreiben. Das Drama kauft ihr bitte und habt es bitte bis spätestens Dienstag vorliegen."
Alle Schülerinnen und Schuler der Klasse sollen sich eine E-Paper-Version von Schillers Drama Maria Stuart kaufen.
"Könnt ihr euch leisten, 4,95. Gerade so."
Die Schüler sitzen jeweils zu viert an zwei zusammengestellten Tischen. Jeder hat ein Tablet in der Hand oder vor sich liegen.
"Für den Einstieg habe ich folgendes vorbereitet. Ich habe euch dieses Portrait mitgebracht von Francois Clouet. Und darauf abgebildet ist Maria Stuart. Falls euch dieses Bild komplett unbekannt ist, möglicherweise sagt euch ja dieses Bild etwas und auf einmal wisst ihr ganz viel über Maria Stuart. Nein? Kulturbanausen, ihr habt das nicht geguckt. Das ist der Auftrag zu nächstem Dienstag, guckt alle diese Staffel."
Sie hat jetzt das Bild der amerikanischen Fernsehserie "Reign" auf die Tafel projiziert, die in mehreren Staffeln das Leben der schottischen Königin inszeniert.
Schüler: "Sollen wir das jetzt gucken?"
Lehrerin: "Meine Bitte an euch ist, kramt mal in euren Oberstübchen, was ihr schon von Maria gehört habt und legt dazu eine Mindmap an."
Die Schüler beraten nun in Gruppen, was sie schon über Maria Stuart wissen.
Der Austausch findet sozusagen analog statt – die Mindmap entsteht anschließend bei jedem individuell und digital.
"Ich kann zeitgleich alles, was Schüler schreiben, kann ich verfolgen auf meinem Computer, also das ist ein absolut einfaches Arbeiten."

Schüler unterschreiben Nutzungsvertrag für Tablet

Oft wird befürchtet, dass mit dem Einsatz der Tablets in der Schule eine Vereinzelung einhergehe. Diese Gefahr bestehe zwar, sagt Antje Berger. Wenn man es richtig mache, dann sei das aber nicht der Fall. Im Gegenteil: Der Draht zu den Schülern ist so wesentlich direkter und sie kann individueller als zuvor auf die Schüler eingehen. Gerade bei Schwächeren kann sie diskret, online über die Cloud Hilfestellungen geben, ohne sie oder ihn vor der Klasse bloßzustellen. Ein Tablet bietet allerdings auch viele Möglichkeiten der Ablenkung.


"Also für die Schüler, glaube, war es anstrengend zu sagen, ok ich konzentriere mich auf den Unterricht und arbeite damit und gucke halt nicht YouTube-Videos oder spiele Spiele. Wir haben einen Schülervertrag, einen Nutzungsvertrag, den die Schüler unterschrieben, in dem sie zusichern, dass keine Spiele auf den Tablets vorhanden sind. Und das wir die gegebenenfalls auch löschen können und auch mal in das Tablet, in die Apps, reingucken können, was da drauf ist.

Das machen die Tutoren immer in ihren Vertiefungsphasen, kontrollieren, inwiefern also das Tablet nicht so genutzt wird, wie wir es uns eigentlich wünschen. Ansonsten war es sehr motivierend, weg vom Schulbuch und tatsächlich jetzt endlich mein digitales Gerät zum arbeiten. Ich selbst muss sagen, ich fand es am Anfang eine kurze Überwindung, weg vom Schulbuch und dieses sichere Medium, alles steht schon drin, was ich mit den Schülern machen soll und mir eigene Gedanken machen. Aber es macht wahnsinnig viel Spaß."
Ein Schülerin einer 7. Klasse bedient ihr iPad mit Unterrichtsmaterialien an der Oberschule Gehrden in der Region Hannover.
Die Verlockung ist groß, nur mit dem Tablet zu spielen. Ein Vertrag zwischen Schule und Schüler kann helfen. © picture alliance/dpa/Julian Stratenschulte

Pädagogen haben mehr Verantwortung für Lerninhalte

Die Rolle der Lehrerin wandelt sich durch den Einsatz der Tablets. Oder genauer, sie wandelt sich vor allem dadurch, dass es kein Schulbuch mehr gibt. Dies ist auch für Irene Petrovic-Wettstädt eine der größten Herausforderungen, die durch die Digitalisierung entsteht. Sie ist Geschäftsführerin und pädagogische Leiterin.
"Früher war ein Lehrbuch etwas Sakrosanktes, da standen Wahrheiten drin, da standen Texte drin, die waren abgesichert, die waren mitunter sogar fehlerfrei geschrieben. Heutzutage findet man so etwas ja nur noch unter Raritäten irgendwo. Und dann muss ich gleichzeitig immer fragen, warum bietet mir denn dieses Programm jetzt diesen Text mit diesem Hintergrund an. Ich bin ja doch sehr viel stärker manipulierbar und Bildung als Gut hat längst nicht mehr diesen Stellenwert in Gesellschaft. Das ist für mich eine ganz große Rollenverschiebung und ein natürlich Paradigmenwechsel, wie gehe ich auch damit um?"
Das Zentrum des klassischen Unterrichts ist – neben der Lehrerin – das Schulbuch. Schulbücher werden von einer Handvoll Verlagen in Deutschland gemeinsam mit den Kultusministerien der Länder entwickelt und dann zugelassen. Die einzelne Schule entscheidet anschließend, welches der verfügbaren Bücher angeschafft werden soll und die Lehrer richten ihren Unterricht darauf aus.

Unübersichtliches Angebot für Lehrerinnen und Lehrer

So, wie der Unterricht hier organisiert ist, sind die Pädagogen – natürlich orientiert am Lehrplan – vollkommen frei in der Auswahl der Materialien. Mit allen Chancen und Risiken. Die Verlage machen den Schulen zwar auch digitale Angebote, allerdings sind die meist wie die klassischen Lehrbücher aufgebaut, moniert Ilka Hoffman. Sie ist im Vorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, kurz GEW für die Digitalisierung zuständig.
"Da ist es im Moment der Stand, dass sie das, was sie an zugelassenen Lehrmitteln haben, dass das dann jetzt nicht nur analog, sondern auch digital zur Verfügung gestellt wird. Das durchläuft ja einen Prozess, der Begutachtung und auch der Zulassung. Viel problematischer sind die vielen kostenlosen Materialien von Firmen und Unternehmen und Organisationen, die im Netz herumschwirren. Und die einfach so zugänglich sind und wo es keinen Kompass gibt, sind die denn gut oder sind die problematisch oder was sind die Inhalte."
Das Angebot sei für die Lehrerinnen und Lehrer unübersichtlich. Eigentlich sollten die Ministerien diesen von Ilka Hoffmann geforderten Kompass – ein Siegel oder eine Positivliste – erstellen, bisher ist das aber noch nicht geschehen.
Kürzlich hat die Verbraucherzentrale einige Apps von unabhängigen Experten prüfen lassen. Die Ergebnisse, die im Netz veröffentlich wurden, sollen nun ein wenig Orientierung geben. Das sei bitter nötig, findet die Gewerkschafterin.

Lern-Apps und Clouds von Privatanbietern

"Da gibt es von allen möglichen Firmen, Schokoladenfirmen zum Beispiel, wie kommt die Schokolade zustande, und dann sind da solche Themen wie Fairer Handel ausgeblendet oder es gibt auch aus der Finanzwirtschaft Materialien, wo es um Anlageformen geht oder wie man sich privat Vorsorge treffen kann.

Der Versicherungskonzern Allianz betreibt beispielsweise über die My Finance Coach Stiftung GmbH, die auch von anderen Finanz- und Wirtschaftsberatungskonzernen unterstützt wird, die Internetseite myfinancecoach.org, die verschiedenste Unterrichtsmaterialien für Lehrer bereitstellt.
"Das ist ein ganz buntes Feld, was es da alles an Lobbyinteressen gibt und ein Transport von unterschwelligen Botschaften."

Für die Schulen stellt sich die Frage, ob sie mit einzelnen Apps arbeiten oder sich mit einer Schulcloud vernetzen oder beides nutzen. Neben den unzähligen Lernapps gibt auch unterschiedliche Clouds. OneNote von Microsoft beispielsweise, das zwar günstig ist aber möglicherweise bald eingestellt wird. Es heißt, OneNote sei nicht profitabel.
* ITS-Learning stammt aus Norwegen und ist dort Marktführer. Das Land Bremen arbeitet derzeit daran, mit Hilfe von ITS-Learning eine landesweite Cloud für alle Schulen aufzubauen. Die Schulen stehen also vor schwierigen Entscheidungen, müssen Datenschutz, Kosten, Umsetzbarkeit und Nutzen abwägen.

Kritik einer ziellosen Digitalisierung

Die größten Stiftungen Deutschlands, darunter die Bertelsmann Stiftung, die der Telekom oder Bosch, haben sich zum Forum Bildung Digitalisierung zusammengetan, um den Schulen zu helfen, sich in diesem Dschungel zurecht zu finden.
"Alle sieben Stiftungen wollen gemeinsam den digitalen Wandel im Bildungsbereich gestalten. Dabei geht es vor allem um die Chancen digitaler Medien für Schul- und Unterrichtsentwicklung."
Sagt Nils Weichert, der das Forum leitet. Um diese Chancen aufzuzeigen vernetzt der gemeinnützige Verein Schulen, bietet Handreichungen, organisiert Fortbildungen, genauso Kongresse und Veranstaltungen und will so Politik, Wissenschaft, Schulen und Wirtschaft zueinander bringen. Dabei gehe es nicht darum, das beste Tablet zu finden, sondern es sollten Inhalte entwickelt werden, so Nils Weichert.
"Wir betrieben Digitalisierung häufig sehr ziellos, das heißt eher so als eine Technisierung von Schule. Es wäre schön, wenn wir eine gemeinsame Vision entwickeln, von dem, was mit Digitalisierung an Schule eigentlich bezweckt und erreicht werden sollte."

Dass dafür aber große Stiftungen zuständig sein sollen, hinter denen die größten deutschen Konzerne stehen, das findet die Gewerkschafterin Ilka Hoffmann zweifelhaft.
"Es ist doch die Verantwortung für die Inhalte oder für die Umsetzung von Bildungsreformen, die sollte ganz klar in der Hand von Bildungsbehörden und von Schulen liegen. Und da beobachten wir so ein blindes Vertrauen in Stiftungen."

Niederländische Steve-Jobs-Schulen: Lernerfolg ungenügend

Die Niederlande sind bei der Digitalisierung der Bildung schon wesentlich weiter als Deutschland, wie praktisch alle anderen Industrienationen der Welt auch. Der Vorteil für Deutschland ist, dass man von den Erfahrungen der anderen lernen kann. 2013 entwickelte Maurice de Hond, ein landesweit bekannter Meinungsforscher in den Niederlanden, die Steve-Jobs- Schulen. Hier sollte nur an iPads gearbeitet werden, Schulbücher waren tabu. Joost Meijer ist Bildungsforscher an der Universität Amsterdam und hat seinerzeit eine solche Schule besucht.
"Ich war wirklich ganz schön beeindruckt von der Schule. Obwohl sie in keiner guten Gegend in Amsterdam lag, machte sie einen sehr guten Eindruck. Es wirkte so, als ob alle Schüler ihre Aufgaben am Tablet erledigten. Und auch die freundliche Atmosphäre hat mir gefallen."
Anfangs entstand ein regelrechter Hype um diese Schulen, es sollten Hunderte werden, auch die Expansion ins Ausland war geplant. Allerdings zeigten sich schnell gravierende Probleme. Niederländische Schulen werden regelmäßig von der staatlichen Schulaufsicht kontrolliert. Dabei wird der Lernerfolg ermittelt. Und dieser blieb bei den Steve Jobs Schulen aus. Warum genau, das wurde noch nicht abschließend untersucht.

Das Schulbuch ist nicht obsolet

Joost Meijer aber hat in seiner Forschung herausgefunden, dass reines digitales Lernen für Schüler nicht unbedingt ideal ist.

"Um ein abstraktes Verständnis für bestimmte Lerninhalte zu entwickeln, gibt es für Schülerinnen und Schüler immer einen formalen Weg. Und diesen Weg zu finden, ist in meinen Augen mit digitalen Lernmitteln sehr schwer, weil sie volatil sind, wie wir sagen. Sie bieten mehr Ablenkung als Bücher. Manche denken, sie könnten mehrere Sachen gleichzeitig lernen, sie parallel verarbeiten, also schnell von einem zum anderen wechseln. Aber die Forschung zeigt, dass das Gehirn Informationen im Wesentlichen nacheinander verarbeitet, nicht nebeneinander. Da wird es schwer, digitale Mittel zu nutzen, um diese, wie gesagt, komplizierteren Bildungsziele zu erreichen."


Einfache Arbeiten – Vokabeln lernen beispielsweise – können gut am Computer durchgeführt werden. Für komplexere Lernprozesse aber empfiehlt Joost Meijer nach wie vor Buch und Heft. Ein weiteres, oft vorgebrachtes Argument für Tablets kann der Bildungsforscher nicht stützen: Dass die Arbeit am Computer die Schüler zusätzlich motiviere.
Zwei Kinder sitzen an einer Schulbank und arbeiten jeweils mit einem Tablet.
Studien haben ergeben, dass Computer für Kinder und Jugendliche schnell die Faszination verlieren, wenn sie nicht damit ihre Zeit vertreiben können. © imago/Westend61
In mehrere Untersuchungen hat er gezeigt, dass dies nicht so ist. Computer sind für Kinder und Jugendliche dann interessant, wenn sie damit spielen oder Filme anschauen, bei der Schularbeit verlieren sie schnell ihre Faszination. Dies könnte ein Anhaltpunkt für die schlechten Leistungen in den Steve- Jobs- Schulen sein.
Kritiker sagen aber auch, das Konzept sei überhastet entwickelt worden und die verwendete Software der Firma O4NT schlicht nicht gut gewesen.
"Es gab diese Organisation O4NT, was niederländisch eine Abkürzung für ´Lernen für eine neue Zukunft` ist. Die Mitglieds-Schulen mussten die Software von der Organisation kaufen und jährlich eine Lizenzgebühr zahlen. Und die war sehr teuer. Viele Schulen konnten schließlich diese hohe Gebühr nicht mehr zahlen."

Die Steve-Jobs-Schulen jedenfalls gelten als gescheitert, manche von ihnen arbeiten zwar noch weiterhin mit den iPads, jedoch nicht mehr unter dem Namen und nach dem Konzept von Maurice de Hond.

Für eine Ende des vielen Kopierpapiers in Nauen

In der Gesamtschule auf dem Da Vinci Campus in Nauen waren auch wirtschaftliche Überlegungen entscheidend dafür, dass nur noch auf Tablets gearbeitet wird, sagt Anica Petrovic-Wriedt. Vor allem das viele Kopierpapier war der Schulleiterin ein Dorn im Auge.

"Und dann haben wir gesagt, da müssen wir irgendwie ran. Es muss aber relativ kostenneutral sein. Wir ärgern uns jedes Jahr über Schulbuchrechnungen über 280 Euro für einen Doppeljahrgang. Das ist einfach ein erheblicher Wert dafür, dass Wissen überall frei verfügbar ist. Und in dem Zusammenhang haben wir uns dann mit unterschiedlichsten Sachen beschäftigt, Whiteboard, Smartboard, Beamer, irgendwas, Monster-TV, meine Güte, es gibt ja alles Mögliche. Und dann haben wir letztendlich gesagt, man muss sich auch auf die Schüler einstellen und gucken, dass man nicht dem Lehrer ein neues Spielzeug in die Hand gibt. Da haben wir gesagt, wir sind eine Gesamtschule, wir wollen, dass alle aktiv sind, sprich: alle brauchen ein Endgerät."


Seitdem arbeiten alle mit Tablets und in einer Cloud mit unterschiedlichen Zugängen für Lehrer und Schüler. Darin liegen verschiedene Arbeitsmittel, Texte, Bilder, Videos und gleichzeitig hat man auch Zugang zum Internet.

"Und so haben wir angefangen, haben gesagt: Pass auf, wir verzichten komplett auf Schulbücher, weil wir sind ausgebildete Lehrer, wir wissen, wie es funktioniert und wir wissen auch, wo wir die richtigen Sachen finden. Wir arbeiten das alles digital auf, halten uns immer an die Rahmenlehrpläne, halten uns immer an alle Vorgaben. Gucken aber einfach nach guten Sachen, die wir für unsere Schüler greifbar machen können."

Die Tablets müssen die Schülerinnen und Schüler selbst kaufen. Familien, die sich das nicht leisten können – so berichtet es die Schulleiterin – würden darin unterstützt, dass die Kosten vom Jugendamt übernommen werden. Das gelinge in der Regel auch. In den wenigen Fällen, wo das Jugendamt nicht einspringe, könne das Tablet auch durch den Sozialfonds der Landesregierung angeschafft werden.
"Und das Schöne ist eigentlich, ich kann alle Inhalte, die ich dort vorbereitet habe, während der Stunde anpassen, ich kann Texte rausnehmen, ich kann Texte rein setzen, ich kann ein Erklärvideo von YouTube mit rein nehmen, ich kann das von einer anderen Internetseite, ich kann die, die schneller sind, interaktiv arbeiten lassen, das funktioniert auf ganz vielen Wegen. Ich muss den Schülern nur sagen, wo ist das richtige Wissen und welche Quellen sind auch einfach kritisch zu hinterfragen und wo dürft ihr das nicht einfach nur hinnehmen. Und ich glaube, unsere Schüler zu kritischen Menschen zu erziehen, das ist ja eine Aufgabe, die machen wir schon seit Jahren."
Die Arbeit mit den Informationen aus dem Internet führe dazu, dass die Schülerinnen und Schüler lernen, alles zu hinterfragen und auch mit unterschiedlichen Wahrheiten umgehen zu können, so Anica Petrovic-Wriedt.
Schüler einer 5. Klasse lernen mit einem iPad im Englischunterricht an einer Oberschule in der Region Hannover.
Lehrerin: "Ich muss den Schülern nur sagen, wo ist das richtige Wissen und welche Quellen sind auch einfach kritisch zu hinterfragen."© picture alliance/dpa/Julian Stratenschulte

Digitales Lernen passt zur Lebensrealität der Jugendlichen

Zurück im Deutschunterricht. Die Zeit, die Mindmap Maria Stuart zu erstellen, ist gleich um. Antje Berger findet, dass diese Art mit digitalen Mitteln zu arbeiten, viel mehr dem entspricht, was nach der Schulzeit auf die Jugendlichen wartet.
"Es wird nicht sofort das Blatt Papier zerknüllt, fliegt weg und landet in der Tonne und ich fange wieder komplett neu an. Sondern Schüler lernen auch tatsächlich, endlich mit ihren eigenen Produkten zu arbeiten, diese zu überarbeiten, zu verbessern."
Antje Berger schaltet den Beamer wieder an. Das Bild von Maria Stuart erscheint.
"Okay, zehn Minuten sind rum. Das soll jetzt nicht tatsächlich umsonst gewesen sein, was ihr gerade für euch erarbeitet habt oder an Vorwissen versucht habt zu notieren. Es geht mir darum, dass ihr euch bitte, selbständig die Dokumentation zu Maria Stuart anseht. Und Anna, liest mal bitte laut vor, welche Aufgaben ihr während des Betrachtens der Dokumentation lösen sollt."
Jeder Schüler bekommt von der Lehrerin den Link zu einer Dokumentation über das Leben Maria Stuarts geschickt. Die sollen sie jetzt anschauen und dabei drei Aufgaben lösen.
"Ok, wenn wir von dem Zitat sprechen, dann geht es darum: Tötet die Hure. Um dieses Zitat geht es in Aufgabe zwei. So also, ich bitte euch darum, jeder für sich zu schauen, damit ihr auch mal anhalten könnt, um die Fragen zu beantworten."
Ob die Digitalisierung des Unterrichts gelingt, liegt letztendlich daran, wie die Pädagogen mit den neuen Geräten und mit der neuen Form des Unterrichts umgehen. Geld für die Weiterbildung ist im Digitalpakt von Bund und Ländern nicht vorgesehen. Ilka Hoffmann von der GEW sieht aber gerade in der Pädagogik den Schlüssel bei der Digitalisierung. Dabei dürfe man auch nicht vergessen, dass an vielen Schulen Personal fehlt. Das führe dazu, dass Kollegen überarbeitet seien und auch nicht für Fortbildungen freigestellt werden könnten, weil sonst noch mehr Unterricht ausfällt.

"Wenn man über Qualität spricht, dann muss man über Weiterbildung nachdenken, sonst läuft man so den Dingen hinterher. Und ich glaube, viele Schulen haben auch so das Gefühl, dass sie so am Limit stehen und dass sie einfach da nur noch praktisch eine Unterrichtsversorgung auf dem notwendigen Niveau aufrechterhalten können und das kann nicht im Sinne der Bildung sein."
Vielleicht müssen Bund und Länder jetzt, wo der Digitalpakt Schule verabschiedet ist, auch über einen Pakt zur Aus- und Weiterbildung sprechen.
* An dieser Stelle haben wir das ursprüngliche Manuskript um eine Passage gekürzt.
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