Digitalisierung

Unsere falschen Träume vom Internet

Eine Grafik die Menschen verbunden in einem sozialen Netzwerk zeigt.
Menschen verbunden in einem sozialen Netzwerk. © imago / Ikon Images
Von Michael Seemann · 10.02.2017
Anstatt einen großen gleichberechtigten Diskurs zu ermöglichen, hat die Digitalisierung und Demokratisierung der Medien ein unübersichtliches Schlachtfeld geschaffen. Das Internet führte nicht zum Austausch von Argumenten und ausgleichenden Konzepten, meint der Kulturwissenschaftler Michael Seemann.
Wir hatten einen Traum. Eigentlich hatten wir zwei Träume. Einen schönen Traum und einen Albtraum. Sie handelten vom Internet.
Der schöne Traum feierte die demokratisierende Kraft des Internets. Meinungsfreiheit galt vor 20 Jahren nur auf dem Papier. Erst durch das Internet wurde sie zu einer realisierbaren Praxis für jedermann. Und auf einmal organisierte das Internet Politik. Arabischer Frühling, Occupy Wallstreet und Aufschrei. Politische Strömungen koordinierten sich an den bestehenden Institutionen vorbei, schufen ihre eigenen Medien und Öffentlichkeiten.
Das Internet schien alle politischen Prozesse noch mal neu zu erfinden, nur ohne Hierarchie, Zentralität und Gatekeeper – Post-Demokratie, aber diesmal als linksliberaler Traum.

Regime der Überwachung

Der Albtraum des Internets sah unsere Freiheit bedroht. Die Datenkonzerne von Google, Amazon bis Facebook haben ein Regime des Überwachungskapitalismus installiert. Dort wird uns unsere Privatsphäre aufgesogen und unsere Identität meistbietend verkauft. Die NSA hat derweil den weltweiten Überwachungsstaat installiert und hält uns im Zaum, indem es über all unsere Schritte wacht. Mit den bürgerlichen Freiheiten ist es jetzt vorbei; so steht es bei Edward Snowden.
Und auf eine Art stimmt das ja auch. Wir leben in einer totalen Überwachungsgesellschaft. Aber irgendwie scheint das schon o.k. zu sein. Niemand fühlt sich wirklich unfreier als vor 20 Jahren.
Das Gegenteil ist der Fall. In Wirklichkeit ist es der schöne Traum, der Wirklichkeit geworden ist. Nur hat er dabei jede Schönheit verloren. Der Bürger wurde durch das Internet ermächtigt, nicht geschwächt. Er wurde immer mächtiger und mächtiger. Er wurde zum Monster.
Was ist los? Der Wutbürger ist los! Und das Internet hat ihn entfesselt. Und wir – die Netzgemeinde – wollten das so.
Wir kämpften für freie Vernetzung, Abbau aller Hierarchien, für dezentrale Machtverteilung, alternative Medien, Gegenöffentlichkeiten und feierten den Tod des Gatekeepers.

Facebook-Gruppen und Fake News

Wir bekamen "Pegida" und andere Facebookgruppen voller Hass, ein Journalismus in der Krise, der niemanden mehr erreicht, weil die alternativen Medien jetzt überall sind und lieber Verschwörungstheorien und Fake News verbreiten. Eine weltweite Bewegung der desinformierten Wutbürger pflügt gerade die Welt um.
Wir haben den falschen Albtraum geträumt.
Es war der Albtraum unserer Großväter, formuliert von George Orwell in einer Zeit, als Digitalisierung noch nicht gedacht wurde. Wir ängstigten uns vorm allmächtigen Zentralstaat und seinen bürokratischen Institutionen und vor Politikern mit zu viel Macht. Wir misstrauten ihnen, weil sie die Kontrolle hatten. Doch die Kontrolle ist ihnen durch das Internet entglitten.

Falsche Dystopien

Und wir haben den richtigen Traum falsch geträumt. Wir waren angesteckt vom Hippietraum der anarchistischen Selbstorganisation. Wir glaubten an das Gute im Menschen und dass das Internet ihn nur befreien müsste. Doch die Ermächtigung des Menschen ist nach hinten losgegangen. Der Verlust des Vertrauens in die Institutionen sägt an den Pfeilern der Gesellschaft. Es droht der Umsturz nach rechts.
Wir sollten endlich aufhören, die falschen Dystopien zu bekämpfen und anfangen, uns unserer fehlgeleiteten Utopie entgegezunstellen. Das da sind unsere Geister.

Michael Seemann ist Kulturwissenschaftler, Autor und mit verschiedenen Projekten im Internet aktiv. Er gründete twitkrit.de und die Twitterlesung, betreibt den populären Podcast wir.muessenreden.de und bloggt hier.

Michael Seemann
© Deutschlandradio / Maurice Wojach
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