Matthias Gronemeyer ist Doktor der Philosophie und arbeitet als freier Autor und Publizist. Zuletzt erschien sein Essay „Die ironische Existenz. Plädoyer für einen radikalen Skeptizismus“. Im Corona-Lockdown hat er die Liebeslyrik-Dating-App „poesietrifft.de“ entwickelt und programmiert.
Mündige Menschen im Digitalzeitalter
Lesen und schreiben zu können, ist Grundlage einer freien und mündigen Existenz, sagt Matthias Gronemeyer. Heute müsse noch das Programmieren dazukommen. © imago / fStop Images / Ralf Hiemisch
Lernt endlich programmieren!
In Anlehnung an Kant fordert der Philosoph und Publizist Matthias Gronemeyer: Raus aus der selbst verschuldeten digitalen Unmündigkeit! Um die digitale Technik zu verstehen, müsse jeder selbst programmieren können.
Im alten Ägypten der Pharaonenzeit war Schrift gleichbedeutend mit Wahrheit. Was auf Stelen gemeißelt oder auf Papyrus gemalt war, galt – weil es so dem Vergessen entrissen war. Wer die Hieroglyphen lesen konnte, hatte direkten Zugang zur Wahrheit, wer sie schreiben konnte, war nahezu gottgleicher Produzent von Wahrheit. Der Rest – und das waren 99 Prozent der Bevölkerung – stand staunend davor und musste sich dem, was geschrieben stand, fügen.
Ich werde nun den Eindruck nicht los, dass man vor dem Phänomen der Digitalisierung hierzulande steht, wie weiland der altägyptische Bauer vor dem Wunder der Hieroglyphen oder sein mittelalterliches Pendant in Europa vor dem Latein des katholischen Priesters.
Tablets sind die Kinderbilderbibel für Leseunkundige
Wenn Deutschland heute den dritten Digitaltag begeht, dann klingt das denn auch mehr nach Kirchentag als nach Technologiekongress. Dass man, wie es auf der Website digitaltag.eu heißt, vor allem „Ängste und Sorgen“ diskutieren will, erhärtet diesen Verdacht. Digitalisierung wird immer noch als ein neues Phänomen betrachtet und dargestellt, dem man sich nicht ganz gewachsen fühlt, und das man deshalb wie einen mal belohnenden, mal strafenden Gott mystifiziert.
Die Bildungspolitiker aller Couleur wollen den Digitalgott dadurch besänftigen, indem sie regelmäßig „für jedes Kind ein Tablet“ fordern. Als wenn sich digitale Kompetenz in Onlineunterricht und ein wenig Wissenskollekte im Netz erschöpfte. Mit seiner grafischen Benutzeroberfläche gerät das Tablet eher zur Kinderbilderbibel für die Leseunkundigen des 21. Jahrhunderts. Wahlweise aber auch zum Tor zur Hölle, das den jugendlichen Nutzern Zugang zu allerlei teuflischen Verführungen gewährt. Digitalisierung ist denn auch eher ein Thema des Ethik- als des Matheunterrichts.
Digitaltechnik muss verstanden werden
Wer aber Technik vorschnell moralisiert, hat oft weder die Technik noch etwas von Moral verstanden. Moral sollte den Bereichen menschlichen Lebens vorbehalten bleiben, wo wir etwas definitiv nicht wissen können, uns aber dennoch entscheiden müssen. Die Technik, auch die im mikroskopisch kleinen Bereich werkelnde Digitaltechnik, ist aber vom Menschen nach den bekannten Naturgesetzen gemacht und daher im Bereich des Wissbaren angesiedelt.
Die Menschheit hat lange gebraucht, um die Schrift hervorzubringen, und jeder Einzelne muss lesen und schreiben mühsam erlernen. Unser Gehirn ist zu dieser Kulturleistung aber von Natur aus befähigt. Ebenso ist es dazu befähigt, digitalen Code hervorzubringen, um darüber mit Maschinen zu kommunizieren. Wer indes nicht einmal Code lesen kann, der bleibt, wie der Medienwissenschaftler Friedrich Kittler in seinem Aufsatz über Computeranalphabetismus feststellte, „Untertan einer Corporation“, heiße sie nun Apple, Google, Meta oder Microsoft.
Er unterliege, fügte Kittler hinzu, dem digitalen Code genauso undurchschaubar wie seinem genetischen Code. Wenn Aufklärung nach der berühmten Formel Immanuel Kants der Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit ist, dann wird sich der Macht der Corporations und ihrer Maschinen nur derjenige entziehen können, der sie selbst herzustellen weiß.
Schluss mit der selbst verschuldeten digitalen Unmündigkeit
Mit der Kinderbilderbibel lernt man aber weder lesen noch schreiben. Die digitale Unmündigkeit ist selbst verschuldet, solange in Deutschland auf 25 Deutschlehrer nur ein einziger Informatiklehrer kommt. So wird uns der Computeranalphabetismus noch weitere Jahrzehnte begleiten.
Mit der Erfindung der Schrift hat sich der Mensch einst dem magischen Denken entwunden und die Welt auf den Begriff gebracht. Lesen und schreiben zu können, ist Grundlage einer freien und mündigen Existenz. Der Imperativ der Aufklärung im digitalen Zeitalter muss also lauten: Leute, lernt programmieren!