Dinge, die man nicht wissen will
"Die Betäubung" heißt der neue Roman von Anna Enquist – und da eine der Hauptfiguren Anästhesistin ist und das Geschehen meist im Krankenhaus spielt, könnte man den Titel buchstäblich verstehen. Unsere Heldin betäubt: Betäubung ist ihr Beruf.
Doch die Holländerin Anna Enquist ist keine Autorin, die uns so leicht davonkommen lässt. Sie betäubt uns nicht, sondern schreibt uns ins Wachsein. Zwingt uns zum Hinsehen. Betäubung meint hier nicht nur eine operationsbedingte Narkose. Betäubung ist auch ein Lebenszustand.
Anna Enquist weiß, wovon sie spricht. Aus eigenem Leid und aus eigener Profession. Denn die 1945 in Amsterdam geborene Schriftstellerin ist nicht nur ausgebildete Konzertpianistin, sondern auch Psychoanalytikerin. Sie schreibt Romane und betreut in eigener Praxis Patienten.
Im Frühjahr 2010 fragte ein befreundeter Klinikarzt, der sich mit "Literatur und Heilkunde" beschäftigt, ob Anna Enquist bei dem Projekt "Schriftsteller auf der Abteilung" mitmachen wolle. Sie wollte. Gern sogar, denn sie hatte keinen Stoff für einen nächsten Roman im Kopf, nachdem sie das vermutlich schwierigste und persönlichste Buch ihres Lebens geschrieben hatte. Über ihre Tochter, die mit 27 Jahren nach einem Fahrradunfall gestorben war.
Sie sagte zu. Wählte die Anästhesie und ging monatelang in die Klinik. Befragte und beobachtete.
Nein, sie hat natürlich keinen Krankenhausroman geschrieben. Wir lesen vielmehr eine überaus verwickelte Familientragödie. Und Anna Enquist gelingt es in diesem Roman, eine Dramatik aufzubauen, deren Schrecken uns Leser bannt.
Die Anästhesistin Suzan hat aus guten Gründen diesen Beruf gewählt. Ihre mutterlose Kindheit war schwierig, lieblos. Und sie wagt bis heute nicht, sich ihrem Schmerz zu stellen. Die Wiederkehr des Verdrängten ist auch hier unausweichlich. Es gelingt Suzan nicht, Nähe zu ihrer einzigen Tochter herzustellen.
Ihr Bruder Drik ist einen anderen Weg gegangen. Er ist Psychotherapeut geworden, hat sich auf das genaue Hinsehen spezialisiert. Doch nun, nach dem Tod seiner Frau, ist er ratlos - was seine Vergangenheit angeht, seine Gegenwart, seinen Beruf. Als er wieder zu arbeiten beginnt und einen schwierigen, ja raffinierten Patienten bekommt, fühlt er sich bald überfordert. Geleitet er den jungen Arzt auf den richtigen Weg oder führt der ihn an der Nase herum?
Alsbald erfährt er Dinge, die er nicht wissen will, nicht wissen sollte. Und doch gelingt es ihm nicht, die Therapie abzubrechen. Und so wird sein so bedrohlicher wie bedrohter Patient nicht nur ihm und seiner Schwester zum Verhängnis
Betäuben oder Hinsehen? Beide Geschwister scheitern. Es gibt keinen richtigen Weg, scheint uns die Autorin zu sagen. Betäubung ist Trost und Desaster. Die Folgen können unheilvoll sein. Aber auch das Aufwachen ist schrecklich, das Auftauchen in eine unbegreifliche, grausame Welt.
Eine deprimierende Lebenswahrheit, die hier aber so dringlich und spannend erzählt wird, dass man das Buch so verzagt wie bestens unterhalten zugleich aus der Hand legt.
Besprochen von Gabriele von Arnim
Anna Enquist: Die Betäubung. Roman
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers
Luchterhand Verlag, München 2012
320 Seiten, 19,99 Euro
Anna Enquist weiß, wovon sie spricht. Aus eigenem Leid und aus eigener Profession. Denn die 1945 in Amsterdam geborene Schriftstellerin ist nicht nur ausgebildete Konzertpianistin, sondern auch Psychoanalytikerin. Sie schreibt Romane und betreut in eigener Praxis Patienten.
Im Frühjahr 2010 fragte ein befreundeter Klinikarzt, der sich mit "Literatur und Heilkunde" beschäftigt, ob Anna Enquist bei dem Projekt "Schriftsteller auf der Abteilung" mitmachen wolle. Sie wollte. Gern sogar, denn sie hatte keinen Stoff für einen nächsten Roman im Kopf, nachdem sie das vermutlich schwierigste und persönlichste Buch ihres Lebens geschrieben hatte. Über ihre Tochter, die mit 27 Jahren nach einem Fahrradunfall gestorben war.
Sie sagte zu. Wählte die Anästhesie und ging monatelang in die Klinik. Befragte und beobachtete.
Nein, sie hat natürlich keinen Krankenhausroman geschrieben. Wir lesen vielmehr eine überaus verwickelte Familientragödie. Und Anna Enquist gelingt es in diesem Roman, eine Dramatik aufzubauen, deren Schrecken uns Leser bannt.
Die Anästhesistin Suzan hat aus guten Gründen diesen Beruf gewählt. Ihre mutterlose Kindheit war schwierig, lieblos. Und sie wagt bis heute nicht, sich ihrem Schmerz zu stellen. Die Wiederkehr des Verdrängten ist auch hier unausweichlich. Es gelingt Suzan nicht, Nähe zu ihrer einzigen Tochter herzustellen.
Ihr Bruder Drik ist einen anderen Weg gegangen. Er ist Psychotherapeut geworden, hat sich auf das genaue Hinsehen spezialisiert. Doch nun, nach dem Tod seiner Frau, ist er ratlos - was seine Vergangenheit angeht, seine Gegenwart, seinen Beruf. Als er wieder zu arbeiten beginnt und einen schwierigen, ja raffinierten Patienten bekommt, fühlt er sich bald überfordert. Geleitet er den jungen Arzt auf den richtigen Weg oder führt der ihn an der Nase herum?
Alsbald erfährt er Dinge, die er nicht wissen will, nicht wissen sollte. Und doch gelingt es ihm nicht, die Therapie abzubrechen. Und so wird sein so bedrohlicher wie bedrohter Patient nicht nur ihm und seiner Schwester zum Verhängnis
Betäuben oder Hinsehen? Beide Geschwister scheitern. Es gibt keinen richtigen Weg, scheint uns die Autorin zu sagen. Betäubung ist Trost und Desaster. Die Folgen können unheilvoll sein. Aber auch das Aufwachen ist schrecklich, das Auftauchen in eine unbegreifliche, grausame Welt.
Eine deprimierende Lebenswahrheit, die hier aber so dringlich und spannend erzählt wird, dass man das Buch so verzagt wie bestens unterhalten zugleich aus der Hand legt.
Besprochen von Gabriele von Arnim
Anna Enquist: Die Betäubung. Roman
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers
Luchterhand Verlag, München 2012
320 Seiten, 19,99 Euro