Dionysos: Vom lüsternen Alten zum lockenköpfigen Jüngling

Von Jochen Stöckmann |
Für Dionysos haben Künstler viele Bilder gefunden. Die Ausstellung "Dionysos – Rausch und Ekstase" gibt eine Übersicht und wartet mit erhellenden Gegenüberstellungen auf.
Von keinem anderen Gott hat die Kunst sich – und uns – so viele Bilder gemacht wie von Dionysos. Bacchus nannten ihn die Römer, und auch dort hatte der Herr über den Wein, die Gottheit der rauschhaften Riten, viele Gesichter. Anfangs auf antiken Vasen und Sarkophagen meist als lüsterner Alter dargestellt mit struppigem Bart und efeubekränzt, gerieten seine Ebenbilder mit den Bronzeskulpturen der Renaissance und Gemälden des Barock zunehmend sanfter: Aus dem zupackenden Gott der Ekstase war ein verführerischer, lockenköpfiger Jüngling geworden. Für ihre Dionysos-Bilder konnten die Künstler unter zahllosen Mustern wählen. Was sie dabei bewegte, versucht Kurator Michael Philipp in der Hamburger Ausstellung anschaulich zu machen:

"Es gibt eine ganze Reihe von Selbstporträts von Malern als Bacchus. Und es gibt eine ganz frühe Skulptur von Michelangelo – ein Bacchus in Florenz, 1496 etwa – der programmatischer Ausdruck von Künstlerwillen ist: Er hat sich jetzt nicht selber als Bacchus dargestellt, aber er hat diese Figur als Ausdruck und Ausweis seiner künstlerischen Fähigkeiten genommen."

Allerdings hatte auch Apollo Michelangelos Interesse geweckt, jener Gott, der spätestens seit Nietzsche für Besonnenheit und Maß steht, im Gegensatz zum dionysischen Rausch und ungebärdige Formlosigkeit. Diesen philosophischen Streit der Prinzipien streift die kunstgeschichtliche, auf die Figur des Dionysos fokussierte Schau nur im Katalog. Widerstreitende Charaktere aber tauchen mit den breit ausgemalten Bacchanalien im Gefolge des Weingotts auf: Silen und Pan, Nymphen und Mänaden, dazu bocksbeinige Satyrn bevölkern die Szenerien der heidnischen Kulte.

"Es wird ekstatisch getanzt, es wird laute Musik gemacht und es wird getrunken. Wobei eben der dionysische Rausch dazu diente, sich mit dem Gott zu verbinden. Also das ist vielleicht eine transzendente Dimension, die wir heute nicht mehr haben. Aber ansonsten sind doch viele Grundkonstanten darin."

Was Ortrud Westheider, Direktorin des Bucerius Kunst Forum, als kulturgeschichtlich fest verankerte Größe benennt – die ekstatische Verbindung von Poesie, Tanz und Musik – das lässt sich naturgemäß mit bildnerischen Mitteln allein kaum fassen, weder mit Zeichnungen und Gemälden, noch mit Skulpturen. Da hätte ein Blick auf neuere Ausdrucksformen wie etwa die Performance nahegelegen. Dieses Manko jedoch wird ausgeglichen durch überraschende und erhellende Gegenüberstellungen von Leihgaben wie etwa der Kleinbronze einer schlafenden Nymphe mit darüber gebeugtem Satyr aus dem Grünen Gewölbe in Dresden oder der bereits im 1. Jahrhundert vor Christi verblüffend ausdrucksvoll tanzenden Mänade. Viele Werke mögen jedes für sich als exquisite Stücke gelten, ihr Bedeutungsreichtum aber erschließt sich erst jetzt im thematischen Kontext:

Westheider: "In einem archäologischen Museum hat ja so ein Artefakt, sei es eine Vase oder eine Skulptur, eher einen Denkmalcharakter, während wir das künstlerische darin sehen und auch die künstlerische Tradition. Und vor allem, wie das dann über die Jahrhunderte weitergegeben wird."

Man muss nur einmal hinschauen und erkennt: Rubens hat von einer römischen Brunnenskulptur abgekupfert, die jetzt direkt neben seiner Darstellung eines bärbeißigen, über den ausgeleerten Weinkrug gebeugten Silen steht. Und Mantegna ließ sich 1470 beim "Bacchanal vor der Weinkufe" offensichtlich vom Relief eines um 210 entstanden römischen Sarkophags inspirieren. Für Irritationen sorgt ein Porträt von Jusepe de Ribera, das Dionysos als melancholisch dreinblickenden Greis mit Rauschebart und Efeukranz zeigt. Mit Rückgriff auf ein antikes Relief malte der Spanier um 1635 einen altersweisen Gott, den man sich damals allgemein als Jünglingsgestalt dachte.

Solche Kreuz- und Querzüge mögen den kunsthistorisch nicht Vorgebildeten verwirren, sie führen ihm aber auch auf genussreiche Art vor Augen, dass sich zum Thema Dionysos alle pauschalisierenden Thesen verbieten:

Westheider: "Das ist eigentlich der Gott der Differenz, wenn man so will, weil er alles in sich vereinigt: Er ist der harmonische, zugewandte Liebhaber in dieser Liebesbeziehung zu Ariadne, gleichzeitig stachelt er die Mänaden auf, den Orpheus, den Sänger, zu töten. Es gibt eben dieses Dunkle, Herrschervolle und gleichzeitig das Subversive, das Unangepasste."

Was aber hat das mit dem eher biederen Porträt zu tun, das Anton Graff 1789, im Jahr der Französischen Revolution, von einer Bürgersfrau malte? Außer im Titel "Bacchantin" ist da nichts Dionysisches, gar Subversives auszumachen.

Philipp: ""Das wird nicht gezeigt. Es ist angedeutet durch die freien Schultern. Und insofern spielt also ein Moment der Freiheit und auch der Freizügigkeit mit. Und diese Frau sitzt da wie eine ganz brave Bürgerin, die auch irgendetwas anderes anhaben könnte. Aber hier soll zum Ausdruck gebracht werden: Ich sitze hier so ruhig, aber ich kann auch anders – und ich möchte auch anders."

Nicht nur für Kurator Michael Philipp macht diese Doppeldeutigkeit den Reiz seiner Ausstellung aus. Und damit ist zumindest eines gewiss: Lovis Corinths eher ironische Darstellung eines "Bacchanals" der in krampfhaft vorgespiegelter Attitüde tanzenden, weniger verzückten denn selbstzufriedenen Bürgersleute von 1896, kann eigentlich nicht das letzte Wort, pardon: das letzte Bild über Dionysos und das Fortleben seiner ekstatischen Rituale sein.
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