Dipesh Chakrabarty: „Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter“

Wir sind nur Nebendarsteller auf der Erde

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Auf dem Cover ist eine Satellitenaufnahme der Erde bei Nacht zu sehen.
© Suhrkamp Verlag

Dipesh Chakrabarty

Übersetzt von Christine Pries

Das Klima der Geschichte im planetarischen ZeitalterSuhrkamp, Berlin 2022

443 Seiten

32,00 Euro

Von Jens Balzer |
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Können wir die Klimakatastrophe noch verhindern? Nein, sagt der Historiker Dipesh Chakrabarty, aber unsere Rolle auf diesem Planeten besser verstehen. Statt Aktivismus empfiehlt er der Menschheit die Einsicht in ihre eigene Kläglichkeit.
Der Klimawandel ist unaufhaltbar und wird die Menschheit und den gesamten Planeten betreffen. Die von Menschen erzeugten Veränderungen in der Atmosphäre, aber auch ihr Einfluss auf Geologie, Artenvielfalt und Ökosysteme prägen längst die ganze Erde. Darum ist mancherorts davon die Rede, dass wir im Anthropozän leben, also im ersten Erdzeitalter, das wesentlich vom Menschen bestimmt wird.
Darin vollende sich – so eine weitere These, ein weiteres Schlagwort – die Epoche der Globalisierung, in der die Menschen sich über den gesamten Globus hinweg in wirtschaftlicher, kultureller, politischer Weise miteinander verflechten.
In der Klimakrise bekommen sie es nun ihrerseits mit den globalen Konsequenzen ihres sorglosen, verschwenderischen Umgangs mit der Natur zu tun. Dagegen helfe nur ein anderer, „nachhaltigerer“ Umgang mit den Ressourcen.

Radikaler Perspektivwechsel

Beide Diagnosen mögen den Zweck erfüllen, die Menschheit zum vereinten Handeln gegen die drohende Apokalypse zu bewegen. Doch als Beschreibung der Realität greifen sie viel zu kurz: Das ist die These, die der Historiker Dipesh Chakrabarty in seinem beeindruckenden Buch „Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter“ vertritt.
Darin plädiert er für einen radikalen Perspektivwechsel bei der Betrachtung des Verhältnisses zwischen den Menschen und dem Planeten, den sie bewohnen. Denn selbst wenn wir uns sofort zu einer „nachhaltigen“ Form der Wirtschaft und der Kultur entschlössen, würden die Folgen unseres gegenwärtigen Handelns noch in Millionen von Jahren zu spüren sein, nachdem die Menschheit von der Erde vermutlich schon wieder verschwunden ist.
Zugleich hätten die Prozesse, in die wir gegenwärtig in so selbstzerstörerischer Weise eingreifen, schon Millionen von Jahren vor dem Beginn der Menschheitsgeschichte begonnen.

Unser Planet ist uns fremd

Was wir angesichts der gegenwärtigen Krise verstehen sollten, schreibt Chakrabarty, das ist der Umstand, dass die Menschen nur Gäste auf einem Planeten sind, der ihnen in seiner bloßen Existenz, in seinen Zeitmaßen und Entwicklungsprozessen fremd und gleichgültig gegenübersteht.
Diese Perspektive nennt er nicht mehr „global“, sondern „planetarisch“: Aus ihr allein erschlösse sich, warum die Menschen der gegenwärtigen Lage so hilflos gegenüberstehen.
Unser gesamtes Selbstverständnis, unsere Geschichtsschreibung beruhe auf der Überzeugung, die herrschende Kraft auf der Erde zu sein. Diese Tradition, die Chakrabarty die „humanistische“ nennt, spiegele sich noch im Begriff des Anthropozäns.
Richtig sei aber das Gegenteil: Wenn man die Entwicklung des Planeten betrachte, dann sei der Mensch nur ein Nebendarsteller, eine spät hinzugekommene Spezies, die sich unter besonders günstigen und ihrerseits auch zufälligen klimatischen und geologischen Bedingungen entwickeln konnte. Die Zeiträume, in denen diese entstanden, entziehen sich jeglicher Vorstellungskraft.

Die Klimakrise liegt nicht am Kapitalismus

Und die Geschichte der Menschheit lasse sich nicht entlang der vertrauten Motive der „Unterwerfung der Natur“ erzählen, die nun „zurückschlägt“. Vielmehr müsse man die vorübergehenden und wechselnden Bedingungen betrachten, die kulturelle Entwicklung überhaupt möglich machten, also die „Geworfenheit“ des Menschen, wie Chakrabarty es mit einem seiner Kronzeugen, Martin Heidegger, nennt.
Dipesh Chakrabarty, 1948 im indischen Kolkata geboren und seit Langem schon in den USA tätig, ist einer der prominentesten Denker des Postkolonialismus. Am emanzipatorischen Charakter der globalen Dekolonialisierung hält er immer noch fest. Aber er verweist nun auch darauf, dass diese dem Klimawandel erst den entscheidenden Schub verlieh. Wäre es bei der ungleichen Wohlstandsverteilung zwischen den Industrienationen und dem „globalen Süden“ geblieben, wäre der Zustand der Erde heute weniger schlimm.
Aus der Perspektive des Planeten stellen politische Prozesse sich anders dar als aus jener der Menschheit. Auch sei die Klimakrise keine Folge des „Kapitalismus“, wie manche Fridays-for-Future-Vordenker*innen heute glauben. Der menschliche Eingriff ins Planetarische begann lange vor der Entwicklung des Kapitalismus, und die wesentlichen Treiber der Erderwärmung seien gerade auch sozialistische Gesellschaften gewesen.

Heiter und depressiv zugleich

Was tun? Darauf gibt dieses Buch keine Antworten, es versteht sich ausdrücklich nicht als Stichwortgeber für Aktivismus. So lässt es einen beim Lesen oft ratlos zurück, aber auch in, sagen wir: heiter-depressiver Art inspiriert.
Von der Menschheit fordert Chakrabarty zunächst nichts anderes, als ein Bewusstsein für die eigene Bedingtheit und „Kläglichkeit“ zu entwickeln angesichts der erhabenen Fremdheit der Welt, in der wir uns befinden.
In sonderbarer, aber beim Lesen oft sehr bewegender Weise sind bei ihm Optimismus und Pessimismus ineinander verflochten: Wir sind längst schon jenseits des historischen Kipppunkts, an dem wir an der Katastrophe noch etwas ändern konnten. Aber wenn wir angesichts der Katastrophe damit beginnen, uns in unserer Nichtigkeit zu begreifen, dann haben wir wenigstens vielleicht die Chance auf eine bessere, selbstverständigere Existenz.
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