Dir gehört mein Leben

Von Stefan Wimmer |
Es war der mexikanische Bolero, zu dem sich Millionen Lateinamerikaner verliebten, vergnügten und die Hörner aufsetzten. Seinen Aufstieg erlebte er in den Bordellen von Mexiko City, seine Glanzzeit waren die Goldenen Dreißiger Jahre, in denen er den gesamten Kontinent eroberte.
Im Dschungel des Amazonas, in der argentinischen Pampa oder in den Konzertsälen New Yorks – überall huldigte man dem Bolero. Viele heutige Fernsehsender und Filmfirmen Lateinamerikas wären ohne seinen Erfolg undenkbar. Dennoch waren seine Lieder nie Massenware, sondern Kompositionen wie geschliffene Diamanten: deliziös, raffiniert, abgründig.

Die Lange Nacht spürt den musikalischen Kostbarkeiten dieser Jahre nach – den Schellacks des genialen Bordellkomponisten Agustín Lara, den donnernden Schnulzen des "Tenors der Kontinente" Pedro Vargas, den süßen Verlockungen der "Tropenkönigin" Toña La Negra – und begibt sich auf eine Reise ins Herz von Machos, Masochisten und Liebeswahnsinnigen.

Schriftsteller und Schriftstellerinnen über den Bolero

Der mexikanische Bolero – die "schönste und zugleich abgründigste Liebesmusik des letzten Jahrhunderts."

Ein "Dart-Pfeil, der ins Herz geht."

Ein "unschlagbares Instrument, mit dem Männer um Frauen gefreit haben."

Eine"Methode, um die lateinamerikanischen Männer zu Machos zu erziehen."

Ein "Ritus, in dem sich die Menschen in einer Zeit der Triebunterdrückung ihre geheimsten Wünsche mitteilen konnten."

Eine "Quelle weiblichen Unglücks, deren verlogener Rhetorik mit feministischen Diskurs-Attacken begegnet werden muss."

Zur Geschichte
Die wahre Geburtsstunde des lateinamerikanischen Bolero ist der 19. August 1927 – der Tag, an dem zwei junge Komponisten in Mexiko City die Musikgeschichte revolutionierten. Es sind Guty Cárdenas, ein hübscher Beau aus dem feudalen Süden, und Agustín Lara, Bordellpianist, klapperdürrer Frauenheld und schwarzes Schaf seiner reichen Familie.

Guty Cárdenas singt im "Teatro Lírico" vor einem völlig verdutzten Publikum "Nunca", das von einer Düsternis ist, die man in Mexiko bis dahin nicht kannte:

Ich weiß, dass ich niemals deinen Mund küssen werde.
Deinen brennenden, purpurnen Mund ...
Ich weiß, dass ich dich völlig nutzlos s anbete.
Aber trotzdem liebe ich dich.
Ich weiß, dass ich dich völlig nutzlos verehre,
dass mein Herz dich völlig nutzlos beschwört, denn niemals, niemals werde ich deinen Mund küssen...


Der Bolero "Nunca" schlägt ein wie eine Bombe – Guty wird von der Jury gefeiert bis zum Morgen, und schon am folgenden Tag schicken mehrere Plattenfirmen ihre Stars ins Studio, um "Nunca" einzuspielen.

"Von Santiago di Cuba aus eroberte der Bolero zunächst Havanna, später den Rest der Insel, schließlich kam er in den 1920er-Jahren nach Mexiko, das im regen kulturellen und musikalischen Austausch mit Kuba stand, und löste dort geradezu eine Bolero-Hysterie aus. Entsprach doch dieser Tanz so ganz und gar dem damaligen Lebensgefühl der Mexikaner. "

Aus: Berliner Philharmoniker, "Kein Glück, nirgends. Zur Geschichte des lateinamerikanischen Bolero

In den 1940er- und 1950er-Jahren erlebte der Bolero seine Blütezeit. 1941 kreierte die mexikanische Komponistin Consuelo Velazquez ein Lied, das zum Inbegriff des lateinamerikanischen Boleros wurde:

Bésame mucho (Küss mich, küss mich ganz fest).

Bésame,
bésame mucho
como si fuera esta noche
la última vez
Bésame,
bésame mucho
que tengo miedo a perderte
perderte después.


Der lateinamerikanische Minnesang
Guty Cárdenas hatte mit "Nunca" zwar den ersten großen Bolero-Hit gelandet, doch der allmächtige Pate des Bolero wurde Agustín Lara. Nach seinem missglückten Versuch schreibt er einen Bolero nach dem anderen. Was Lara damit erschafft, ist ein lateinamerikanischer Minnesang, in dem es nur ein einziges Thema gibt: Die Frau. Immer ist sie Femme Fatale, kaschierte Hure, herzlose Bestie und grausame Herrin, die sich lachend über den Mann erhebt.

In den Boleros gibt es nur ein Gesetz: Die Frau ist immer schuld, der Mann stets Opfer.

Jeder einzelne von Agustín Laras schwülen Frustrationsgesängen wurde über Nacht ein Erfolg im Nachtleben Mexiko Citys.

Die neue, unanständige Musik
Agustín Laras Boleros waren zunächst einmal nichts anderes als Animier- und Aufreißlieder im Rotlicht-Milieu. In der mexikanischen Gesellschaft fand die neue, skandalöse Musik schnell ein begeistertes Publikum.

Laut des Berichts der Gesundheitsbehörde tummelten sich in Mexiko City im Jahr 1927 rund 20.000 Prostituierte – eine schier unfassbare Zahl! –, wobei allein über 200 legale Bordelle registriert waren. Ganze Teile der Innenstadt mutierten so zu einem riesigen Vergnügungsviertel, in dem Freudenhäuser, Kaschemmen, frivole Theater und Opiumhöhlen um ihre Besucher buhlten.

Doch wie tanzte man eigentlich den Bolero – diese neue, unanständige Musik? Die Antwort: Möglichst eng, möglichst innig, möglichst körperverschlungen! Denn während der Tango hochkomplizierte Schrittfolgen erforderte, auf die sich die Tanzpartner mit Geheimzeichen verständigten, war der Bolero eine Art Ur-"Schieber", ein Engtanz Körper an Körper und Wange an Wange –als absolut skandalös galt.

Durch die Gründung des ersten mexikanischen Radiosenders XEW wurde Agustín Lara, der bei XEW seine eigene Rundfunksendung "Die intime Stunde des Agustín Lara bekam, zum Shootingstar.

Herausragende Bolero-Interpreten
Eine Laras Entdeckungen war die junge Medizinstudentin Toña La Negra, die ebenfalls eines Tages an seine Haustür geklopft hatte, um bei ihm vorzusingen. Lara schrieb für sie eine Reihe von Hits – und über Nacht wurde Toña La Negra berühmt, sie wurde zur "Göttin des Tropischen Boleros".

Seine bedeutendste Entdeckung war allerdings der junge Opernsänger Pedro Vargas, ein Bauernsohn, der als Jugendlicher Kirchensänger im Kriminellenviertel Tepito gewesen war, um sich eine Opernausbildung finanzieren zu können.

weitere Künstler:
•Ana María Fernández, die damals berühmteste Bolero-Sängerin Mexikos.
•Trio Los Panchos
• Luis Gatica (Lucho Gatica)
• Armando Manzanero
• Luis Miguel
• Tania Libertad
• Los Tres Reyes
• Los Diamantes

Bolero-Festival Berlin


Buchtipps:

Arráncame la vida ("Reiß mir mein Herz raus") – nach diesem Hit von Agustín Lara hat die Autorin Ángeles Mastretta ihren Roman benannt.

Zoé Valdés "Te di la vida entera" (Dir gehört mein Leben, 1996) zum Genre des "feministischen Bolero-Romans"

Stefan Wimmer: König von Mexiko.
Eichborn Verlag, 19,95 Euro

Stets knapp an Geld, aber reich an körpereigenem Testosteron, körperfremden Alkoholika und sonstigen Drogen, hängt ein etwas heruntergekommener deutscher Germanistikstudent im Nachtleben von Mexiko City ab. Sein Ziel: statt der Literatur das pralle Leben zu studieren und seiner einzigen Geldquelle, eines deutschen Doktorandenstipendiums, auch ohne Doktorarbeit nicht verlustig zu gehen. Unvermittelt gerät er an eine Tochter aus reichem Hause. Aber sie, ihre Ansprüche und vor allem ihre zahlreiche Verwandtschaft (Mutter, Brüder, Tanten, Cousinen und Großcousinen) machen es ihm nicht leicht, das süße Leben der mexikanischen Upperclass zu genießen. Aber unser Mann ist fest entschlossen, diesen Fang nicht mehr entkommen zu lassen, und gerät mitten hinein in das Chaos mexikanischer Verhältnisse ...


Musik zum Weiterhören

Mexican Boleros 1927-1957
Label: Trikont (Indigo), Preis 15,95
Erstmals liegen jetzt die legendären mexikanischen Schellackaufnahmen dieser Jahre vor: die verruchten Schlager des Komponisten Agustín Lara, die Hymnen der "tropischen Königin" Toña La Negra, die genialen Falsett-Kunstwerke des Gitarrentrios "Los Tres Ases" und die Lieder vieler anderer Stars.

ARTE-Rezension zu "Mexican Boleros": Der Bolero wird zum Soundtrack der Nacht, der Bars, der Bordelle und der Animiersalons. Und seine Verruchtheit und sexuelle Aufladung sorgt für seine große Beliebtheit quer durch alle sozialen Schichten. All dies ist nachzulesen, in dem ausführlichen deutsch/englischen Booklet der großartigen Kompilation "Mexican Boleros". Gemeinsam mit der wunderbar zusammengestellten Musikauswahl findet sich hier der Stoff für eine längst überfällige Dokumentation, über die schönste und zugleich abgründigste Herzschmerzmusik Lateinamerikas.


Boleros-the History of Romance [Box-Set]
Label: Music Brok (H'ART), 12,95 Euro