Direktor der Tate Gallery, Chris Dercon, zum Brexit

"Das Referendum ist ein riesiger Fehler"

Chris Dercon, Direktor der Tate Gallery of Modern Art in London, auf der New Yorker Kunstmesse "The Armory Show" vor einem Bild des Künstlers Ahmed Mater, das die Stadt Mekka zeigt.
Chris Dercon, Direktor der Tate Gallery of Modern Art in London und künftiger Leiter der Volksbühne Berlin © picture alliance / dpa / Felix Hörhager
Moderation: Korbinian Frenzel |
Gehen oder bleiben? Die Briten entscheiden am 23. Juni über ihre Zugehörigkeit zur EU. Chris Dercon, Leiter der Tate Gallery, kritisiert das Verfahren: In einer repräsentativen Demokratie dürfe man diese Entscheidung nicht einem Referendum überlassen.
Chris Dercon, Direktor der Londoner Tate Gallery of Modern Art, beurteilt die für den 23. Juni geplante Abstimmung über einen möglichen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union kritisch. David Camerons Entscheidung für ein Referendum sei ein "riesiger Fehler" gewesen, sagte Dercon im Deutschlandradio Kultur:
"Ich glaube, dass man in einer repräsentativen Demokratie diese sehr technische Frage nicht einem Referendum überlassen soll. Jetzt sehen wir, was passiert. Die Slogans für Brexit und die Slogans gegen Brexit sind nicht von einem Niveau, wo man sagt: 'Es geht hier noch um Politik.' Es geht hier um etwas anderes."

Angst vor zu viel Einwanderung

Die Auseinandersetzung werde auf Seiten von Befürwortern und Gegnern vorwiegend mit ökonomischen Argumenten geführt, kritisierte Dercon. Die Debatte sei darüber hinaus von der Angst vor zu viel Einwanderung bestimmt:
"Das ist nicht nur eine Angst bei den Briten, sondern es gibt sie auch bei den Immigranten, die schon seit den 50er und 60er Jahren hier sind. 'Immigration' ist das größte Ding."

Das Phänomen des Rechtspopulismus in Europa

Künstler und Intellektuelle seien an der Debatte über einen möglichen Brexit kaum beteiligt, sagte Dercon, designierter Leiter der Volksbühne Berlin. Er verwies darauf, dass es nicht nur in Großbritannien, sondern auch in den Niederlanden oder in Frankreich viele EU-skeptische Stimmen gebe.
Dercon ging auch auf das Phänomen des Rechtspopulismus in Europa ein. Es trete immer wieder und meist in kurzen Zyklen auf:
"Das sieht man auch an der neuen Partei von Frauke Petry in Deutschland. Das sind Parteien, die innerhalb eines Jahres eine total neue Form von Identität bauen müssen oder wollen. Und die haben kein langes Leben. Um diese Zyklen zu verstehen, muss man wirklich dieses 'long term thinking' haben."

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Es sind noch etwas mehr als zwei Wochen, dann stimmt Großbritannien ab über die Frage, sollen wir bleiben oder sollen wir gehen. Das Brexit-Referendum, die Umfragen sind knapp, der Ausgang, der ist wirklich vollkommen offen. Ich war für Deutschlandradio Kultur in der vergangenen Woche in Großbritannien, um den Puls dieses Landes zu fühlen in der Europafrage, und ich war deshalb unter anderem bei Chris Dercon, dem Leiter der Tate Modern in London.
Chris Dercon, wir sind hier an einem ganz wunderbaren Ort in London, in der Tate Modern, ein altes Kraftwerk, das umgebaut wurde in ein modernes Museum seit jetzt gut 15 Jahren. Sie sind seit 2011 an der Spitze hier der Tate Modern, waren aber vorher viel in der Welt unterwegs, in New York, lange auch in München am Haus der Kunst. Sie werden bald wieder nach Deutschland kommen, im nächsten Jahr nach Berlin als Intendant der Volksbühne. Vielen Dank, dass wir miteinander sprechen können. Ich grüße Sie!
Chris Dercon: Vielen Dank! Ja, das ist eine spannende Zeit jetzt. Ich gehe bald weg aus der Modern, und mein Slogan, das haben die Mitarbeiter für mich entschieden, der sollte sein für die nächste Woche: My Exit is not a Brexit.

Falsche Entscheidung von David Cameron

Frenzel: Damit sind wir mitten drin in dem großen Thema, das hier in London, in Großbritannien, aber ich glaube, man kann mittlerweile sagen, in Europa große Wellen schlägt, die Frage nämlich, wie die Briten entscheiden werden am 23. Juni, wenn das Referendum ansteht, ob sie die Europäische Union am Ende wirklich verlassen könnten. Machen Sie sich Sorgen, dass es so kommen könnte?
Dercon: Ich mache mir sehr viele Sorgen, nicht nur, ob es so kommen könnte. Aber ich mache mir sehr viele Sorgen über das, was in den letzten zwei Jahren passiert ist im Sinne von David Cameron. Er hat versucht, eine Diskussion in Gang zu bringen, und hat dann gesagt, wir machen ein Referendum. Und das war natürlich ein riesiger Fehler. Ich glaube, dass in einer repräsentativen Demokratie, dass man dieses sehr technische Fragen, dass man die nicht einem Referendum überlassen soll.
Und jetzt sehen wir, was passiert. Ich meine, die Slogans für den Brexit und die Slogans gegen den Brexit sind natürlich nicht von einem Niveau, wo man sagt, das geht hier noch um Politik. Es geht hier um etwas anderes. Ich sage nicht, dass es um Populismus geht, aber es geht sicherlich nicht mehr um eine Art repräsentativer Demokratie. Und das wundert mich sehr über die Briten, muss ich ehrlich sagen.

Das Gefühl der Briten: Wir gehören nicht dazu

Wenn man sieht, was so passiert ist in den letzten 40 Jahren – die Briten haben immer ein Gefühl gehabt: Wir gehören nicht wirklich dazu. Wir wissen alle, dass Margaret Thatcher überredet werden musste durch die Russen und auch durch die Deutschen, um die Wiedervereinigung zu unterstützen. Das hat auch lange gedauert. Und die Briten nehmen schon in der Europäischen Gemeinschaft eine Sonderposition ein.
Die Tate Modern ist wirklich ein international ausgerichtetes Museum. Und die meisten Unterstützer der Tate Modern und viele von unseren Leuten, die hier arbeiten, wir sind keine Briten, wir sind wirklich international ausgerichtet.
Frenzel: Haben Sie den Eindruck, dass gerade vor diesem Hintergrund, den Sie beschrieben haben, vor dieser großen Skepsis, die es gegenüber Europa gab, es nicht vielleicht sogar ganz heilsam ist, dass diese Debatte jetzt einmal stattfindet, dass sich auch ein britischer Premierminister hinstellen muss und, anders als alle seine Vorgänger, anders als er auch selbst in früheren Jahren, sagen muss, ich will diese Europäische Union?

"Das ist keine gesunde Diskussion"

Dercon: Ich glaube, das ist keine Win-Win-Situation, oder, da kann nichts Gutes herauskommen. Erstens: Die Briten reden über die Europäische Gemeinschaft nur in ökonomischen Begriffen, das ist die Nummer eins. Zweitens haben sie schon eine Sonderposition eingenommen, und drittens, was passieren wird, wann es zum Beispiel eine Bewegung gibt – 60 Prozent sagen, wir bleiben in der Europäischen Union, 40 Prozent sagen, wir wollen weg? Und dann gibt es wieder eine neue Diskussion, gibt es neue Konditionen für uns. Wie werden wir uns in dieser Europäischen Gemeinschaft aufstellen? Ich glaube, das ist keine gesunde Diskussion, absolut nicht.
Chris Dercon im Gespräch mit Korbinian Frenzel.
Chris Dercon im Gespräch mit Korbinian Frenzel.© Deutschlandradio - Korbinian Frenzel
Frenzel: Das wäre eigentlich doch auch der Moment für Künstler, für Kulturschaffende, jetzt an dieser Stelle richtig einzugreifen. Haben Sie das Gefühl, dass das kulturelle Großbritannien sich ausreichend zu Wort meldet?
Dercon: Nein. Es gibt sehr wenige, absolut sehr wenige. Aber erst noch mal: Was ist die größte Angst der Briten vor Europa jetzt? Es ist nur ein Wort. Es hat nichts zu tun mit Regeln. Es geht um Immigration. Und das ist nicht nur eine Angst bei den Briten, sondern auch bei den Immigranten, die schon seit den 50er-, 60er-Jahren hier sind. Immigration ist das größte Ding. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn irgendwo dieses Land doch weg kommt aus der Europäischen Union – was sollten die Belgier tun in Ostende, was sollten die Franzosen tun in Calais? Geht – wir kümmern uns nicht mehr um die Regeln. Das müssen die Briten selbst lösen.
Also, nutzbare Argumente hat man nicht. Und das ist hier schade. Wenn es Argumente gibt, auf beiden Seiten, gibt es nur sogenannte ökonomische Argumente. Die Künstler nehmen eine Position ein, aber es sind ganz wenige Künstler. Es gibt wahnsinnig wichtige Aktionen von zum Beispiel dem deutschen Künstler, der seit Jahren in London lebt, Wolfgang Tillmans. Er spricht ganz viele junge Leute an, die cool kids, aber spricht auch die Briten an, die sich in Berlin bewegen oder in Paris bewegen. Und das ist ganz wichtig. Natürlich gibt es Künstler, die sich sehr bewusst sind über die Gefahr.

Ökonomie und Kultur sind nicht mehr zu trennen

Frenzel: Es gibt ein Zitat von Jean Monnet, zumindest wird ihm das immer zugeschrieben: Wenn er noch mal anfangen könnte mit der europäischen Integration, er würde nicht mit Kohle und Stahl beginnen, sondern mit der Kultur. Eine sympathische Idee?
Dercon: Ja, aber ich glaube, man muss auch mal Realist sein. Ich glaube, dass heutzutage Ökonomie und Kultur nicht mehr voneinander zu trennen sind. Weil wir werden wahrscheinlich in zehn, fünfzehn oder in fünf Jahren in einer Gesellschaft leben, wo kulturelle Werte ökonomische Werte sind, im Sinne von, wir werden alle den ganzen Tag vielleicht Kultur genießen, und Kultur wird Arbeit und Arbeit wird Kultur.

Rechtspopulismus in Europa

Frenzel: Sie werden im nächsten Jahr nach Deutschland kommen, in ein Land, das Sie kennen aus der Zeit in München, in ein Land, das sich aber seitdem auch verändert hat. Wir waren jahrelang verschont von vielen Phänomenen des Rechtspopulismus, die Sie aus Ihrem Heimatland kennen, aus den Niederlanden kennen wir es, aus Frankreich mit dem Front National. Auch mit der UKIP hier in Großbritannien. Sind das letztendlich alles Beschreibungen eines ähnlichen Phänomens in Europa, einer Spaltung der Gesellschaft?
Dercon: Das sind alles Beschreibungen von einem Phänomen. Weil man muss doch noch zu dieser Brexit-Diskussion eine Sache sagen: Es sind natürlich nicht nur die Briten, die sehr skeptisch sind. Es gibt andere Stimmen. Ich denke an die Niederländer, was passiert ist mit dem Referendum vor einigen Monaten. Frankreich, Front National. Aber auch, wenn man mit italienischen Repräsentanten spricht, ich meine, die Europäische Union hat auch viel zu tun, um die Diskussion in Europa selbst in den Gang zu bringen.
Und die Phänomene, die Sie beschreiben, sind alle auch Phänomene, die immer wieder sehr kurze Zyklen haben. Und das sieht man auch daran, was mit der neuen Partei von Petry passiert. In Deutschland sind Parteien, die in einem Jahr wieder eine total neue Form von Identität bauen müssen, wollen, und die haben kein langes Leben. Und das habe ich natürlich mitgemacht in Belgien, das habe ich mitgekriegt in Holland – es sind Zyklen. Und um diese Zyklen zu verstehen, muss man wirklich dieses long term thinking haben. Das ist ganz, ganz, wichtig. Aber man soll die Diskussion angehen, aber nicht mit einem Referendum.
Frenzel: Chris Dercon, Leiter der Tate Modern, ab nächstem Jahr an der Volksbühne in Berlin. Ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch!
Dercon: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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