Direktorin Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung

Im Dickicht geschichtspolitischer Kontroversen

Gundula Bavendamm
Gundula Bavendamm, Direktorin der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. © picture alliance/dpa/Bernd von Jutrczenka
Die Fragen stellt Patrick Garber |
Seit dem 1. April ist die Historikerin Gundula Bavendamm Direktorin der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Für ihre beiden Vorgänger war die Position zum Schleudersitz geraten.
Im Berliner Deutschlandhaus will die Stiftung einen Erinnerungsort für Millionen Deutsche schaffen, die aufgrund des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat im Osten verlassen mussten. Doch um die konkrete inhaltliche Umsetzung dieses Gesetzesauftrags gibt es seit Jahren Streit. Die Gräben verlaufen zwischen dem Stiftungsrat – in dem der Bund der Vertriebenen eine starke Stellung hat – und dem Wissenschaftlichen Beraterkreis mit Historikern aus dem In- und Ausland.
Welches Konzept schwebt der neuen Direktorin für die Gestaltung vor allem der umstrittenen Dauerausstellung vor? Ist die Vertreibung aus Ostmitteleuropa ein blinder Fleck deutscher Erinnerungskultur? Wie soll das Leid, das Deutschen widerfahren ist, in den europäischen Kontext gestellt, wie immer wieder geäußertem Revisionismus-Verdacht begegnet werden? Welche Bezüge zur aktuellen Flüchtlingsproblematik bieten sich an? Und wie können Historiker aus Tschechien und vor allem Polen für den Beraterkreis gewonnen werden, in deren Heimatländern eine eher nationalbetonte Sicht auf die Geschichte en vogue ist?

"Tacheles" am Samstag, 9. April 2016, ab 17.30 Uhr


Das Interview im Wortlaut

Deutschlandradio Kultur: Tacheles ist heute zu Gast bei der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin. Ich spreche mit deren Direktorin, mit Dr. Gundula Bavendamm. Sie ist Historikerin, Kulturmanagerin und ganz neu in diesem Amt. Erst seit einer guten Woche, nämlich seit dem 1. April, leitet sie die Stiftung. – Guten Tag, Frau Bavendamm.
Gundula Bavendamm: Schönen guten Morgen.
Deutschlandradio Kultur: Die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung ist per Bundesgesetz im Jahr 2008 eingerichtet worden, um – ich zitiere – "die Erinnerung an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert wach zu halten" und zwar "im Geist der Versöhnung." Dabei geht es vor allem um Flucht und Vertreibung der Deutschen im Zusammenhang des Zweiten Weltkriegs. Aber bisher ist Ihre Stiftung weniger durch Versöhnlichkeit aufgefallen als durch interne Querelen. Ihre beiden Vorgänger auf dem Direktorenposten, Frau Bavendamm, sind im Streit gegangen. Haben Sie auf einem Schleudersitz Platz genommen?

"Es geht wirklich um einen Turnaround für die SFVV"

Gundula Bavendamm: Ja, das bin ich in letzter Zeit öfter gefragt worden. Ich sitze hier ganz gut. Ich bin ja jetzt eine Woche da. Ich habe auch genügend Zeit gehabt, mir im Vorfeld zu überlegen, ob das für mich die richtige Entscheidung ist. Und ich bin felsenfest davon überzeugt, dass das der Fall ist und dass diese Stiftung jetzt einfach eine Leitung braucht, die mit dem gesamten Team und natürlich auch mit den Gremien nach vorne guckt und eben damit aufhört und das beendet, was in der Vergangenheit war. Es geht wirklich um einen Turnaround für die SFVV – sowohl nach innen, was die Konsolidierung angeht, aber auch nach außen, was das Image angeht – um eben aus diesen Turbulenzen herauszukommen. Ich betrachte das im Grunde als eine letztlich hoffentlich abgeschlossene Phase. Wir wollen nach vorne gucken. Wir wollen gute Arbeit machen und wir wollen die SFVV da platzieren, wo sie hingehört.
Deutschlandradio Kultur: Damit die Zukunft gelingen kann, das weiß man als Historiker, muss man dann doch nochmal in die Vergangenheit schauen. – Worum ging es inhaltlich bei diesen Konflikten? Darum, wie sehr die Arbeit der Stiftung und vor allem die geplante Dauerausstellung, über die wir gleich noch reden wollen, wie sehr das auf die Deutschen als Opfer und Vertreibung fokussiert werden soll?
Gundula Bavendamm: Es gibt ja Gründungsstatuten der SFVV. Es gibt das Stiftungsgesetz. Es gibt eine wissenschaftliche Konzeption von ungefähr 40 Seiten. Und in diesen Dokumenten ist ja festgelegt, was der Auftrag der SFVV ist. Und es ist ganz klar, dass zu der DNA dieser Stiftung gehört: Ja, die Deutschen gestatten sich, im Zusammenhang mit diesem Thema auch an eigene Opfer und Verluste zu erinnern. Das ist sozusagen das Brisante, dass die Täternation Deutschland, wenn Sie so wollen, hier in ein etwas anderes Licht kommt, in eine etwas andere Rolle. Und gleichzeitig gehört es zum Auftrag der SFVV, das eben im historischen Kontext zu tun.
Es gibt praktisch zwei Kontextebenen. Die eine ist der Zweite Weltkrieg und die NS-Besatzungs-, Expansions- und Vernichtungspolitik. Und das andere sind die Zwangsmigrationen des 20. Jahrhunderts. Und diese beiden Kontextebenen ziehen sich sozusagen immer auch mit durch. Es ist also kein isoliertes Thema Flucht und Vertreibung der Deutschen, sondern es wird kontextualisiert.
Deutschlandradio Kultur: SFVV ist, um das nochmal zu sagen, Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Es steht ja in diesem Stiftungstext, den Sie erwähnt haben, drin der Zusammenhang der europäischen Vertreibung und der Kontext der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik müssen mit dargestellt werden. Das klingt ja eigentlich ziemlich ausgewogen. Warum gab's denn diesen fürchterlichen Streit mit zwei Direktoren, die im Krach gegangen bzw. erst gar nicht gekommen sind?

"Weichstelle an der Opfer-Täter-Dichotomie"

Gundula Bavendamm: Ich glaube, das hat verschiedene Gründe gehabt. Also, einmal war sicherlich das Problem, dass an der Spitze dieser Einrichtung vielleicht ein bisschen ein Vakuum entstanden ist dahingehend, dass es jemanden braucht, der das, was ich gerade gesagt habe, was Sie auch nochmal zitiert haben aus diesen Gründungsstatuten, ganz ruhig und ganz klar in der Öffentlichkeit kommuniziert.
Wenn man das einfach jetzt mal anfängt und ohne Angst und ohne sich zu ducken, ohne sich klein zu machen sagt, was in diesen Papieren steht, dann sehe ich wie Sie wenig Anlass, um nun in irgendwelche geschichtspolitischen Grundsatzdebatten zu geraten. Die hat man im Vorfeld geführt. Das hat was mit der Brisanz dieser Weichstelle an der Opfer-Täter-Dichotomie zu tun. Das ist eben da, wo wir angesiedelt sind qua Thema. Und das gibt es wirklich nur in der SFVV. Es gibt keine andere Gedenkeinrichtung oder kein anderes Museum in Deutschland, was jetzt öffentlich-rechtlich auch gefördert wird, wie es ja bei der SFVV der Fall ist, wo dieses Thema im Zentrum steht. Und das hat natürlich eine Sensibilität und eine Emotionalität.
Man darf aber auch nicht verschweigen, dass es eben auch – sage ich mal – Gruppierungen in diesem geschichtspolitischen Diskurs gibt, die vielleicht auch bestimmte Interessen oder Absichten haben, etwas gravierender darzustellen, als es eigentlich wirklich ist. Und auch das ist in der Vergangenheit aus meiner Sicht das eine oder andere Mal passiert. Ich möchte das beruhigen.
Deutschlandradio Kultur: Diese Dichotomie der Täter-Opfer-Rolle, die Sie gerade angesprochen haben, also, dass Täter zu Opfern werden können oder Opfer zu Tätern werden können, das ist ja beim Blick auf die Geschichte gerade des Zweiten Weltkriegs und gerade im Osten durchaus nachvollziehbar. Aber birgt das nicht auch die Gefahr der Relativierung, also dass am Ende irgendwie alle Opfer waren und Verantwortlichkeit, Schuld verwischt wird?
Gundula Bavendamm: Das glaube ich nicht. Denn wir haben schon über die Kontextualisierung gesprochen. Also, es gibt einfach historische Tatsachen. Es gibt Dinge, die passiert sind. Und darauf sind andere Dinge gefolgt. Ja, also, es gibt in der einen oder anderen Weise auch Kausalitäten. Es gibt auf jeden Fall ein Vorher und ein Nachher. Man kann das eben nicht abtrennen. Man kann den Diskurs über Flucht und Vertreibung der Deutschen '44/'45 nicht abtrennen von dem, was vorher passiert ist. Und das hat eben ganz viel mit der deutschen Politik, mit der desaströsen deutschen Politik, mit dem Zweiten Weltkrieg, mit dem Holocaust usw. zu tun, ja. Also, das gehört unauflöslich zusammen. Und es gibt überhaupt keinen Grund, das irgendwie zu schmälern, zu negieren, da einen falschen Ton reinzubringen. Das ist überhaupt nicht das Anliegen. Beides muss passieren. Beides muss passieren!
Deutschlandradio Kultur: Geht es dabei auch am Ende um die Frage des bestimmten oder des unbestimmten Artikels, also, ob Flucht und Vertreibung der Deutschen einen Schwerpunkt der Gedenkarbeit und vor allem der geplanten Dauerausstellung bieten sollen oder den Schwerpunkt?
Gundula Bavendamm: Auch das ist ja ganz klar geregelt. Flucht und Vertreibung der Deutschen ist in der Gesamtstiftungsarbeit ein Schwerpunkt. Wir haben also verschiedene Säulen in der Stiftung. Es gibt ja nicht nur diese Dauerausstellung, über die sehr viel schon diskutiert worden ist. Wir werden Sonderausstellungen zeigen. Wir werden Veranstaltungswesen haben. Es wird ein Dokumentationszentrum mit einer Bibliothek und einem Archiv geben. Das betrachte ich als ein großes Spielfeld, auf dem – sag ich mal – verschiedene Register gezogen werden können und dieses Thema in verschiedenen Modulationen sozusagen durchgespielt werden kann.
Insgesamt für die gesamte Stiftungsarbeit sind Flucht und Vertreibung der Deutschen ein Schwerpunkt. Für die Dauerausstellung ist eine andere Akzentuierung gewählt worden. Da heißt es, es ist der Schwerpunkt. Trotzdem geht die Kontextualisierung, über die wir schon gesprochen haben, dadurch nicht verloren. Auch in der Dauerausstellung muss anklingen, was das mit der NS-Zeit, mit dem Zweiten Weltkrieg usw. zu tun hat. Auch dort wird es anklingen, nur wird einfach der Flucht und Vertreibung der Deutschen ein größerer Raum dort gegeben.
Deutschlandradio Kultur: Diese erwähnten Auseinandersetzungen über das Konzept und die Dauerausstellung haben ja dazu geführt, dass der Gründungsdirektor der Stiftung, Manfred Kittel, Ende 2014 seinen Posten abgeben musste und sein designierter Nachfolger, Winfrid Halder, der voriges Jahr ins Amt kommen sollte, das erst gar nicht angetreten hat. Und bei diesen beiden Vorgängen hat wohl der Wissenschaftliche Beraterkreis eine große Rolle gespielt, also ein Gremium namhafter Historiker aus dem In- und Ausland, das den Stiftungsrat berät. War dem Wissenschaftlichen Beraterkreis die Ausrichtung Ihrer Amtsvorgänger – sagen wir mal – zu deutschtümelnd?

"Aufgabenbeschreibung war bisher nicht ganz klar"

Gundula Bavendamm: Ja also, es ist immer die Frage, was man darüber jetzt noch sehr, sehr viel diskutieren soll. Ich glaube schon, also, einmal hat sich dort in diesem Beraterkreis diese Brisanz noch mal manifestiert, die dieses Thema hat, und die Tatsache, dass es da Personen gibt, die dazu unterschiedliche Haltungen haben. Und das geht eben teilweise sehr, sehr tief, auch unter Wissenschaftlern. Das wird auch unter Wissenschaftlern möglicherweise emotional, möglicherweise polemisch. Ich bin ja bei diesen Diskussionen nicht dabei gewesen. Ich kann mir das nur so erschließen.
Und zum anderen hat es vielleicht ein Missverständnis gegeben im Beraterkreis selber, was die Rolle des Beraterkreises angeht. Es ist ganz klar, dass dieser Beraterkreis ein beratendes Gremium ist. Es gibt den Stiftungsrat, der ist sozusagen das Aufsichtsgremium dieser Stiftung. Und es gibt dann die Leitung hier in der Stiftung. Der Beraterkreis kann aus wissenschaftlicher Sicht die Dinge betrachten und der Leitung und auch dem Stiftungsrat Dinge empfehlen. Aber der Beraterkreis ist kein operatives Gremium, in dem in dem Sinne Managemententscheidungen getroffen werden.
Und ich glaube, dass diese Trennung oder diese Aufgabenbeschreibung nicht immer so ganz klar gewesen ist. Und das zähle ich auch zu meinen Aufgaben, die Rollen dieser Gremien nochmal ganz klar zu machen und zu sagen: Ja, wir wollen selbstverständlich mit den Wissenschaftlern einen offenen, auch einen kritischen, auch gerne einen kontroversen Diskurs, aber es ist ein beratendes Gremium – nicht weniger und nicht mehr. Deswegen heißt dieses Gremium auch Beraterkreis.
Deutschlandradio Kultur: Die polnischen und tschechischen Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats sind im Zuge dieser Auseinandersetzung zurückgetreten, der Beirat als Ganzer hat sich aufgelöst. – Wie geht’s jetzt weiter?
Gundula Bavendamm: Ja, zu meinen mit den wichtigsten Aufgaben auch durchaus schon der ersten hundert Tage gehört es, sehr konkret jetzt ein neues Tableau, ein Personen-Tableau für den neuen Beraterkreis aufzustellen. Das werde ich in enger Abstimmung auch mit dem Stiftungsrat tun. Ich habe aber von Anfang an auch gesagt, dass ich als Leiterin ein dezidiertes Mitspracherecht haben möchte, wer in diesen Beraterkreis kommt. Denn ich bin diejenige, die nachher im Täglichen mit diesem Beraterkreis am meisten zu tun hat. Und das wurde auch allseits akzeptiert. So habe ich das jedenfalls verstanden.
Und unser Anspruch wird weiterhin sein, dass dieses Gremium international besetzt ist. Davon werden wir nicht abrücken.
Deutschlandradio Kultur: Wollen Sie da auch auf frühere Mitglieder des Beraterkreises zugehen und mit denen nochmal einen zweiten Anlauf versuchen? Oder wollen Sie das ganz neu aufstellen?
Gundula Bavendamm: Ich möchte mich da jetzt auf keinerlei Namensdiskussion einlassen. Ich bin offen. Ich werde mir das anschauen. Ich kann mir durchaus vorstellen, mit dem einen oder anderen der alten Besetzung nochmal zu sprechen, wenn man auch das Gefühl hat, das macht Sinn. Das werde ich jetzt in den nächsten Wochen angehen.
Ansonsten habe ich natürlich eigene Ideen. Es muss ja nicht sein, dass alle Historiker, die da jetzt drin sitzen, nur – sage ich mal – aus den Ländern kommen, in denen sich diese Geschichte abgespielt hat. Es gibt selbstverständlich zum Beispiel auch im westlichen Ausland, wo ich mich jetzt gut auskenne, Fachleute, die sich mit Flucht und Vertreibung zur Zeit des Zweiten Weltkriegs auseinandergesetzt haben. Das kann vielleicht dem Beraterkreis sogar gut tun, wenn jemand kommt, der nicht aus einem Land kommt, das genuin betroffen war, der aber fachlich dort eine Ahnung hat.
Deutschlandradio Kultur: Also, um diese Beziehungskiste ein bisschen aufzulockern, die sich zwischen deutschen, polnischen und tschechischen Historikern im Laufe der Zeit angesammelt hat.
Gundula Bavendamm: Genau.
Deutschlandradio Kultur: Aber trotzdem werden Sie sicherlich auch Mitglieder für den Beraterkreis finden oder suchen in Tschechien, in Polen. Das wäre ja etwas problematisch, das außen vor zu lassen.
Nun hat gerade in Polen unter der dortigen nationalkonservativen Regierung Geschichtspolitik ja in letzter Zeit einen hohen Stellenwert bekommen, und zwar aus einer betont patriotischen Perspektive. Ist da das Klima für die Zusammenarbeit mit polnischen Historikern und für die Suche polnischer Historiker für den Beraterkreis günstig?

"Situation in Polen hat sich eher etwas verkompliziert"

Gundula Bavendamm: Nein, ich glaube, jeder sehende Mensch, der diese Szene und diese Diskussionen beobachtet, wird sich darüber im Klaren sein, dass sich die Situation vielleicht eher etwas verkompliziert hat. Aber das ändert nichts an unserem Anspruch. Wenn ich sage, dass ich mir vorstellen kann, dass vielleicht auch ein britischer oder ein amerikanischer Historiker, übrigens auch eine Historikerin vielleicht in diesem Beraterkreis kommen kann, dann heißt das nicht, dass wir nicht mehr einen polnischen oder einen tschechischen Kollegen haben wollen. Das möchten wir weiterhin. Und das ist vielleicht die diffizilste Aufgabe jetzt unter diesen politischen Umständen in Polen, das trotzdem zu erreichen.
Diesen Anspruch habe ich auf jeden Fall. Ich kann Ihnen jetzt nicht sagen, ob es mir gelingen wird. Aber mit diesem Anspruch wird der neue Beraterkreis auf jeden Fall jetzt erstmal umrissen werden.
Deutschlandradio Kultur: Der polnische Historiker Krzysztof Ruchniewicz, der bis zu seinem Rücktritt im Wissenschaftlichen Beraterkreis der Stiftung saß, der wird in seiner Heimat in letzter Zeit auch aus der eigenen Zunft, der Historikerzunft als Erfüllungsgehilfe eines angeblichen deutschen Geschichtsrevisionismus angefeindet. In diesem Klima wird es ja sicherlich schwierig sein jemanden zu finden, der mitmachen möchte bei Ihnen.
Gundula Bavendamm: Ja, das tut mir erstmal für Herrn Ruchniewicz leid, denn das ist eine höchst unschöne Situation, in der er sich da befindet. Die ist für keinen Historiker schön, wenn er derart angegangen wird. Das ist ja ehrabschneidend geradezu, was ihm da vorgeworfen wird. Und es gibt keinen Anlass dazu. Also jeder, der sich der die Mühe gibt, diese Arbeit der SFVV unvoreingenommen zu betrachten, wer sich die Mühe gibt, unvoreingenommen diese Gründungspapiere zu lesen, der kann in dieser Einrichtung keinen geschichtsrevisionistischen Laden erkennen. Also insofern, das halte ich für ungerechtfertigt. Das ist ein Stück weit eine Polemik, das ist auch eine politische Waffe, die sich eben aus der derzeitigen politischen Situation in Polen ergeben.
Deutschlandradio Kultur: Sie leiten eine Bundesstiftung. Ich nehme an, dass die Bundesregierung auch ein großes Interesse daran hat, dass der Beraterkreis international besetzt ist, auch mit Vertretern aus den östlichen Nachbarländern.
Gundula Bavendamm: Selbstverständlich. Also, ich werde einen meiner nächsten Besuche dann auch im Auswärtigen Amt haben. Ich werde alle Stiftungsratsmitglieder noch persönlich besuchen jetzt in den nächsten zwei, drei Wochen. Dazu gehört dann auch der Staatssekretär aus dem Auswärtigen Amt. Und da werden wir genau über diese Dinge sprechen.
Deutschlandradio Kultur: Frau Bavendamm, der Wissenschaftliche Beraterkreis, über den wir gerade gesprochen haben, trifft ja keine Entscheidungen grundsätzlicher Art, wie Sie sagten. Das tut der Stiftungsrat der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Der hat 21 Mitglieder. Und sechs von diesen Mitgliedern stellt der Bund der Vertriebenen, der BdV. Der hat also einen ziemlichen Einfluss. Kritiker meinen: zu viel Einfluss. Er mache aus der Stiftung eine Veranstaltung von Vertriebenen für Vertriebene. – Was sagen Sie dazu?
Gundula Bavendamm: Das kann ich so nicht sehen. Also, erstmal muss man sich diesen Stiftungsrat angucken. Das sind, wie Sie richtig sagten, 21 Personen. Und davon stellt der BdV sechs. Das hat also mit irgendwie einer Mehrheit oder so nichts zu tun. Wenn man guckt, welche anderen gesellschaftlichen Gruppen in diesem Stiftungsrat noch vertreten sind, dann ist das natürlich der Zuwendungsgeber, also der Bund selber. Das sind aber auch die beiden Kirchen, Katholische und Evangelische Kirche. Der Zentralrat der Juden ist vertreten, Vertreter der beiden großen Parteien. Also, das ist schon ein sehr breit gefächertes Spektrum.
Im Übrigen habe ich ja auch schon im Vorfeld meiner Bewerbung hier Herrn Fabritius kennengelernt, den – ich glaube – seit anderthalb oder zwei Jahren Präsidenten des Bundes der Vertrieben. Auch dort muss man sehen, dass sich ja diese Interessenvertretung weiterentwickelt. Herr Fabritius ist schon eine andere Generation als Frau Steinbach zum Beispiel. Und ich habe das Gespräch als ausgesprochen konstruktiv und offen wahrgenommen. Der BdV hat mit das stärkste Interesse daran, dass diese Einrichtung in Zukunft in ruhiges Fahrwasser kommt und endlich dieses Thema, für das der BdV ja auch so lange gekämpft hat, in adäquater Form in der Öffentlichkeit ist.

"Habe Frau Steinbach noch nicht persönlich kennengelernt"

Deutschlandradio Kultur: Erika Steinbach, die frühere Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, war ja eine sehr schillernde Persönlichkeit, ist es immer noch, eine streitbare Frau, die polarisiert. Liegt es auch daran, an dieser Vergangenheit, dass der BdV ja sozusagen an der Wiege Ihrer Stiftung stand, dass manche Leute im In- und Ausland nach wie vor etwas kritisch auf diese Institution, Stiftung schauen?
Gundula Bavendamm: Ich selbst habe Frau Steinbach noch nicht persönlich kennengelernt. Das wird aber in den nächsten Tagen stattfinden. Erstmal, finde ich, muss man immer honorieren, dass es ohne den BdV und, wenn man eben hier Namen nennt, dann auch nicht ohne Frau Steinbach diese Einrichtungen, so wie wir sie heute haben, nicht geben würde. Denn der BdV hat sozusagen in einer gewissen Weise das Urheberrecht an dieser Idee.
Und dann über die Entwicklungsstufen, die diese Einrichtung ja durchlaufen hat in den letzten Jahren, ist es eben dann ja auch so gekommen, dass man gesagt hat, der BdV soll da noch mit drin sein. Das ist er eben mit diesen sechs Personen im Stiftungsrat. Ich sage aber auch immer ganz deutlich: Wir sind kein Dienstleister des BdV. Das ist nicht die Rolle der SFVV. Wir sind eine überparteiliche Bundesstiftung. Und so verstehen wir uns auch.
Deutschlandradio Kultur: Kann der Bund der Vertriebenen denn Dienstleister Ihrer Stiftung sein? Gerade was die Dauerausstellung angeht, da brauchen Sie ja sicherlich auch Exponate, Zeitzeugen, sofern sie noch leben.
Gundula Bavendamm: Also, ich denke, Dienstleisterverhältnis würde ich jetzt so generell weniger benutzen als Begriff. Ich habe es eben benutzt, um sozusagen zu sagen, was wir nicht sein wollen. Aber ich baue auf vertrauensvolle, gute Beziehungen zum BdV. Die sind auch schon angesponnen. Ich freue mich, wie gesagt, darauf, auch Frau Steinbach kennenzulernen. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich in dem einen oder anderen Archiv der Landsmannschaften noch etwas befindet, was vielleicht eines Tages für die Dauerausstellung eine Rolle spielen kann.
Deutschlandradio Kultur: Den Initiatoren des Projektes Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, zu denen ja – nicht zu vergessen – auch der verstorbene SPD-Politiker Peter Glotz gehört hat, das war ja keine reine BdV-Veranstaltung, denen ging es darum, ein sichtbares Zeichen zu setzen, wie es damals hieß, für das Erinnern an Flucht und Vertreibung von Deutschen, und zwar hier in Berlin, wo es sehr viele Gedenkorte gibt, aber bisher keinen, der an dieses Kapitel unserer Geschichte erinnert.
Ist das Thema Flucht und Vertreibung in der deutschen Erinnerungskultur bisher unterbelichtet gewesen? Gibt es da eine Lücke, die zu füllen ist?
Gundula Bavendamm: Also, diese Lücke, die jetzt institutionell zu füllen ist, das ist eben sozusagen ja die Institution der SFVV. Und die existiert eben schon seit Längerem auf dem Papier. Sie existiert in Gestalt eines wirklich tollen Teams, was ich gerade jetzt auch kennenlerne. Was uns noch fehlt, ist unser eigener Sitz. Das wird das Deutschlandhaus sein in der Nähe des Anhalter Bahnhofs.
Deutschlandradio Kultur: Hier in Berlin.
Gundula Bavendamm: Hier in Berlin. Das ist zurzeit noch eine Baustelle, die es ja auch jetzt dringend zielgerichtet in die Vollendung sozusagen zu bringen gilt. Insofern, dann erst ist das sichtbare Zeichen sozusagen vollendet, wenn wir sagen können, wir ziehen dort ein und belegen unsere Räume und machen dort dann unsere Arbeit.
Deutschlandradio Kultur: Woran liegt es, dass es so lange gedauert hat, bis eben auch dieser Teil der deutschen Geschichte so seinen Platz gefunden hat?

"Ein Thema mit innen- und außenpolitischer Dimension"

Gundula Bavendamm: Ich denke, das hat was mit der Brisanz zu tun, die wir schon thematisiert hatten. Es ist eben ein ganz besonderes, sensibles Stück der kollektiven Erinnerung der Deutschen. Sie haben selber schon gesagt, es hat eine innenpolitische Dimension. Es hat auch eine außenpolitische Dimension. Und solche Dinge, bis die sich sozusagen verfestigt haben, bis die politischen Konstellationen, auch die kulturpolitischen Konstellationen so da sind, dass solche Einrichtungen geschaffen werden können, das sind langwierige Prozesse, auch wenn man andere Vergleiche sich anschaut.
Wir haben auch übrigens in den 80er Jahren höchst intensiv und kontrovers über das Deutsche Historische Museum diskutiert. Das kann man sich heute schon gar nicht mehr vorstellen. Das sind auch Zeiten. Das sind bestimmte Klimata. Das sind Diskurse, durch die man hindurchgehen muss in mehreren Stufen, bis es dann am Schluss sich sozusagen beruhigt und seine endgültige Form findet. Und da sind wir, glaube ich, mit der SFVV jetzt auch angekommen.
Deutschlandradio Kultur: Hat es auch damit zu tun, dass in der historischen Diskussion das Thema nationale Geschichte oder vielleicht sogar geradezu Patriotismus nicht mehr ganz so angstbesetzt ist, wie es noch in den 80er und 90er Jahren war?
Gundula Bavendamm: Ich denke, es hat was mit der wachsenden Ferne zu diesen Ereignissen sicherlich zu tun. Es hat damit zu tun, dass jüngere Generationen jetzt an der Spitze bestimmter Einrichtungen stehen. Das sind sozusagen längerfristige Mentalitätswandel, die sich dann auch eben in diesen kulturpolitischen Entscheidungen niederschlagen. Dinge, die eben vor 20 Jahren unmöglich waren, sind heute eher möglich.
Wir haben sehr viel dafür getan, auch die deutschen Verbrechen aufzuarbeiten, den Nationalsozialismus aufzubereiten und uns da auch selbstkritisch unserer Vergangenheit zu stellen. Insofern würde ich sagen, dass auf dem Fundament dessen wirklich auch die Zeit reif ist, in Ruhe und angemessen auch eben Flucht und Vertreibung der Deutschen jetzt in diesen Kontexten, die ich beschrieben habe, darzustellen.
Deutschlandradio Kultur: Sie sind eine erfahrene Ausstellungsmacherin, Frau Bavendamm. Sie haben zuletzt das Berliner Alliierten-Museum geleitet. Zu Ihren Aufgaben jetzt gehört vor allem die Konzeption der schon mehrfach erwähnten Dauerausstellung zu Flucht und Vertreibung im Berliner Deutschlandhaus. Die soll in zwei Jahren eröffnet werden. – Was schwebt Ihnen da vor?
Gundula Bavendamm: Ich finde einiges vor. Es ist jetzt nicht so, dass ich auf einem völlig weißen Tisch eine Dauerausstellung zu entwerfen habe. Ich habe schon die wissenschaftliche Grundkonzeption der Stiftung entwickelt. Das sind ungefähr 40 Seiten, in denen sozusagen inhaltlich die Pflöcke eingeschlagen worden sind und wo ganz klar drin steht, das sind etwa die Themen, mit denen sich diese Stiftung auseinanderzusetzen hat.
Was fehlt, ist sozusagen eine Transformation dieses Inhalts in ein tatsächliches Ausstellungskonzept. Auch da gibt es schon erste Bausteine. Ich bin gerade dabei jetzt, auch natürlich durch ganz intensive Gespräche hier mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, mir da einen Überblick zu verschaffen, wo steht die Diskussion und bringe mich ab sofort in diese Diskussion ein. Die ist natürlich auch immer parallel zu führen mit dem Baugeschehen. Beides soll ja am Schluss ineinander passen. Wir haben sozusagen die Hülle Deutschlandhaus und den Inhalt Dauerausstellung. Und wir sind jetzt in einer Phase, wo das beides sehr eng miteinander verzahnt werden muss. Und da komme ich, glaube ich, gerade rechtzeitig.
Deutschlandradio Kultur: Soll es da vor allem um Flucht und Vertreibung mit Ursachen, Verlauf und Folgen gehen oder auch um das Erinnern an den verlorenen deutschen Osten?

"Man kann eben nie alles zeigen"

Gundula Bavendamm: Im Vordergrund stehen die Zwangsmigrationen und die Flucht und Vertreibung der Deutschen als ein ganz besonderes Beispiel von Zwangsmigration. Also, das ist das zentrale Thema. Wir haben ja auch eine begrenzte Fläche. Man kann eben nie alles zeigen. Wir werden relativ wenig Platz haben, um dann auch noch – ich sage mal – die Kultur der früheren deutschen Gebiete darzustellen. Da wird man sicherlich Schlaglichter werfen können, dass man da so ein bisschen eine Korrespondenz herstellen kann. Aber das wird ja auch schon sehr stark in den Regionalmuseen geleistet, die sich mit diesem Thema befassen, die sich eher mit der Kultur dieser früheren Gebiete befassen.
Also, bei uns steht wirklich ganz stark das Geschehen der Zwangsmigration jetzt dann eben in der Dauerausstellung mit dem Fokus auf die Deutschen im Vordergrund.
Deutschlandradio Kultur: Bei dem begrenzten Raum, den Sie erwähnt haben, kommt ja noch dazu, dass Sie ja auch die Vorgeschichte, wie Sie sagten, also speziell den von Deutschland ausgelösten Zweiten Weltkrieg irgendwie darstellen müssen, und wie sich das dargestellt hat in den Gebieten, aus denen dann vertrieben worden ist. Wie wollen Sie das machen?
Gundula Bavendamm: Das gehört selbstverständlich dazu. Also, wir haben mehrere Kapitel in der Dauerausstellung. Und wir fallen sozusagen nicht mit der Tür ins Haus und schildern zusammenhanglos Flucht und Vertreibung der Deutschen. Das wäre ja komplett unhistorisch. Sondern man wird argumentativ ungefähr bis zum Ersten Weltkrieg, auf jeden Fall zur Zwischenkriegszeit zurückgehen. Das ist diese Zeit der Verschiebung von Bevölkerungsgruppen. Ein Beispiel, was immer zitiert wird, ist die Konvention von Lausanne von 1923, also dieser Austausch zwischen Griechenland und der Türkei. Das hat sich um die Zeit als Mittel der zwischenstaatlichen Politik etabliert gehabt. Das ist dieser Gedanke des homogenen, auch ethnisch homogenen Nationalstaats. Das ist sozusagen die Idee, auf die das alles zurückgeführt wird.
Dann kommt selbstverständlich der Zweite Weltkrieg, die Besatzungs-, Expansions- und Vernichtungspolitik des NS-Regimes. Und daraus wird das dann hergeleitet.
Deutschlandradio Kultur: Bei dem Thema Flucht gibt es ja eine Fülle hochaktueller Bezüge. Weltweit sind 60 Millionen Menschen zurzeit auf der Flucht. Viele kommen nach Deutschland. Sollen Fluchtbewegungen des 21. Jahrhunderts in der Dauerausstellung oder in der sonstigen Arbeit Ihrer Stiftung auch thematisiert werden?

"Wären unglaubwürdig ohne Bezüge zur aktuellen Flüchtlingssituation"

Gundula Bavendamm: Ich glaube, dass es gar nicht anders geht. Wir sind zwar im Kern Historiker. Und unsere Hauptaufgabe ist die Darstellung eines historischen Themas. Aber wir leben im Hier und Jetzt. Und jede Kulturinstitution, egal was sie macht, existiert in der Gegenwart. Und diese Gegenwart ist, wie Sie sagen, erneut massiv geprägt von dem Phänomen Flucht, teilweise auch Vertreibung. Und ich bin ganz fest davon überzeugt, dass es der SFVV gut tut, im Gegenteil, sie wäre unglaubwürdig, wenn sie es nicht schaffen würde, zu diesem Thema kluge Bezüge herzustellen.
Wir können jetzt nicht auf einmal mutieren zu einer Art Amnesty International der Fluchtbewegungen heute. Das ist nicht unser Auftrag. Aber es gibt selbstverständlich Möglichkeiten, auch in der Dauerausstellung gezielt klug ausgewählt diesen Resonanzraum mit in die Dauerausstellung reinzuholen, wiewohl der Schwerpunkt sich eben mit den historischen Phänomenen befassen wird.
Deutschlandradio Kultur: Zumal es ja auch große Unterschiede gibt. Die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen blieben im Großen und Ganzen ja in ihrem Sprach- und Kulturraum. Bei Syrern und Afghanen, die nach Mitteleuropa kommen, ist das ja ganz anders. Sind diese Unterschiede eher ein Grund, die Aktualität nicht zu sehr zu betonen? Oder sind solche Vergleiche vielleicht auch besonders spannend, auch für Sie bei der historischen Darstellung?
Gundula Bavendamm: Ich glaube, sie können – je nach dem, in welche Richtung man dann guckt – Dinge erhellen. Es kann sowohl erhellend sein zu sagen, aha, da gibt es Parallelitäten. Die würde ich zum Beispiel eher im individuellen Erleben sehen. Ich denke, das, was Menschen heute durchleben, die diesen prekären Weg – sagen wir mal – von Afghanistan nach Deutschland machen oder von Syrien nach Deutschland, das von zu Hause Wegmüssen, die Familie zerbricht, man hat einen todgefährlichen Weg hinter sich zu bringen, man geht in die völlige Ungewissheit, man erlebt vielleicht eine Enttäuschung, wenn man ankommt, wo man immer hin wollte, weil das alles nicht so ist, wie man sich das vorgestellt hat – das sind alles grundmenschliche Erfahrungen und Emotionen. Die unterscheiden sich meines Erachtens nicht grundlegend von dem, was die Menschen zum Beispiel im Zweiten Weltkrieg oder danach erlebt haben.
Ansonsten, haben Sie zu Recht ja gesagt, gibt es auch dezidiert Unterschiede. Der eine ist, dass diejenigen, die aus den ehemaligen deutschen Gebieten eben nach Westdeutschland oder auch nach Ostdeutschland gekommen sind, geblieben sind auf Dauer. Und ein anderer ist natürlich der kulturelle Gap zwischen denen, die damals geflohen sind und in der jungen Bundesrepublik bzw. DDR ankamen, und den Menschen, die heute zu uns kommen. Den würde ich schon als qualitativ unterschiedlich betrachten. Also, es waren damals, historisch gesehen Christen, die zu Christen gekommen sind. Wir haben heute mit Menschen einer anderen Glaubensrichtung zu tun, die kulturell teilweise völlig andere Hintergründe haben. Also, da muss man dann schon wieder sehr genau hingucken und sollte sich hüten, vorschnell Parallelen zu ziehen.
Deutschlandradio Kultur: Sie sind Historikerin, Frau Dr. Bavendamm, und Ihre Dissertation haben Sie geschrieben über Verschwörungstheorien, über Verschwörungstheorien in Frankreich zu Zeiten des Ersten Weltkriegs. Haben Sie den Eindruck, dass Verschwörungstheorien beim Blick in die Geschichte in Europa wieder eine Rolle spielen?
Gundula Bavendamm: Oh, es gibt viele Beispiele, wo man sehen kann, dass Verschwörungstheorien immer wieder – ich glaube – überzeitlich ein probates Mittel sind, um sich die Welt zu erklären. Verschwörungstheorien sind letztendlich ganz vereinfachte dichotomische Weltmodelle mit einem radikalen Schwarz und Weiß, die ganz stark von Feindbildern leben. Und es gibt immer und wird auch immer Menschen geben, die sich die Welt nicht anders erklären können als mit solchen Theorien. Wenn Sie zum Beispiel Nine Eleven anschauen, das war so ein Ereignis der jüngeren Zeit, das zu einer Explosion von Verschwörungstheorien geführt hat, die einer gewissen Grammatik gehorchen. Damit habe ich mich auch stark in meiner Dissertation beschäftigt. Deswegen lässt sich das auch übertragen.
Deutschlandradio Kultur: Aber ohne Bezüge zu Ihrer jetzigen Arbeit?
Gundula Bavendamm: Da sehe ich jetzt so direkt den Bezug nicht. Vielleicht beim Thema Feindbild, also diese Tatsache, wenn eben Fremde in eine Aufnahmegesellschaft kommen und das nicht gut geregelt wird, dort keine Instrumente da sind, um diesen Übergang zu orchestrieren, die Menschen zueinander zu bringen, Ängste in den Griff zu bekommen, auf die Herausforderungen gut einzugehen, dann kann das ein Feld sein, aus dem dann eben auch wieder Feindbilder entstehen. Ein bisschen haben wir es ja leider auch im Moment in der aktuellen innenpolitischen Debatte in Deutschland.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank für das Gespräch.
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