Weltweit einmalig
Das gibt es nur bei den berühmten Berliner Philharmonikern: Dass ein Orchester selbst den Dirigenten wählt. Diese Wahl ist wohl der ehrenvollste musikalische Ritterschlag überhaupt. Entstanden ist dieses Streben nach Unabhängigkeit unter einem schlechten Chef.
Bis weißer Rauch zu vermelden ist, dürfte noch etwas Zeit vergehen. 124 Musiker sind wahlberechtigt; das sind alle Vollmitglieder des Orchesters, die ihre Probezeit bestanden haben. Der Intendant und andere Mitarbeiter der Berliner Philharmoniker sowie Vertreter des Landes Berlin oder gar Sponsoren sind von der Abstimmung ausgeschlossen. Die Wahl ist geheim; der Orchestervorstand und ein Notar zählen aus, was in der Urne landet. Offizielle Kandidaten gibt es nicht, jeder lebende Dirigent ist wählbar. Es ist zu vermuten, dass ein erster Wahlgang ein Stimmungsbild vermittelt und dass in weiteren Wahlgängen über eine Liste der am häufigsten genannten Namen abgestimmt wird.
Wahrscheinlich sitzen heute einige Dirigenten mit zitternden Händen neben dem Telefon, denn der glückliche Gewinner wird aus der Versammlung heraus angerufen und gefragt, ob er die Wahl annimmt. Das bedeutet auch, dass er andere Bindungen höchstens noch für eine Übergangszeit aufrechterhalten darf, denn die Berliner Philharmoniker haben es gerne exklusiv. Der Chefdirigent trägt die künstlerische Gesamtverantwortung und leitet etwa die Hälfte aller Konzerte – so hat es zumindest Sir Simon Rattle gehalten. Das sind rund 60 Auftritte pro Saison. Um den Rest kümmern sich prominente Gastdirigenten.
Sagt der Gewählte zu, wird sein Name in einer Pressemitteilung bekannt gegeben. Ist das nicht der Fall, geht das Ganze von vorne los; auch eine Vertagung der Wahl wäre dann nicht auszuschließen. Allerdings muss möglichst bald ein Nachfolger gefunden werden, denn obwohl der Chefposten erst in drei Jahren vakant ist, kann wegen der langfristigen Vertragsabschlüsse in dieser Branche nicht früh genug geplant werden. Dass potenzielle Kandidaten trotzdem nicht vorab angefragt werden, leuchtet ein, denn das Orchester möchte nirgendwo trügerische Hoffnungen wecken und am Ende gar Dirigenten vergraulen. Das war nach dem Tod Herbert von Karajans der Fall, als Claudio Abbado überraschend gewann und Lorin Maazel die Berliner Philharmoniker über Jahre hinweg boykottierte.
Ähnlichkeiten zur Papstwahl
Das Streben nach Unabhängigkeit, das sich in diesem Wahlverfahren ausdrückt, hat historische Wurzeln: 1882 begehrten die Musiker der Bilse'schen Kapelle gegen die schlechte Behandlung durch ihren Chef, den Marschkomponisten Benjamin Bilse, auf und machten sich unabhängig – das gilt als die Geburtsstunde der Berliner Philharmoniker. Dieser rebellische Geist, der jedem Dirigenten zunächst einmal misstraut, prägt das Orchester auch in organisatorischer Hinsicht bis heute – verstaatlicht und fremdbestimmt waren die Berliner Philharmoniker tatsächlich nur in der Zeit des Nationalsozialismus. Das einzige Spitzenorchester, das ähnlich unabhängig auftritt, sind die Wiener Philharmoniker: Hier versammeln sich Mitglieder des Orchesters der Wiener Staatsoper, um neben dem Opernbetrieb auf eigene Faust Konzerte zu veranstalten. Die Wiener kommen sogar ganz ohne Chef aus, indem sie ihre Dirigenten nur für einzelne Projekte engagieren – dieses System wäre für Berlin zu kompliziert, da es sich hier um ein reines Konzertorchester mit wesentlich mehr Veranstaltungen handelt. Überdies betreiben die Berliner mit der Philharmonie einen eigenen Saal, während die Wiener im Musikverein als Gäste auftreten.
Apropos weißer Rauch: Die äußerste Verschwiegenheit dieser Prozedur und die mutmaßlichen Machtkämpfe hinter den imposanten Kulissen erinnern tatsächlich an die Papstwahl. Zumal es im 19. und 20. Jahrhundert üblich war, dass man das Amt des philharmonischen Chefdirigenten ausübte, bis einen die Engelschöre riefen. Und ein bisschen wie der Papst kann sich der Erwählte auch fühlen – nicht, dass es in Amsterdam, London und in den amerikanischen Metropolen weniger bedeutende Orchester gäbe, aber einzig und allein der Chefdirigent der Berliner Philharmoniker geht aus dem freien Votum seiner Musiker hervor.
Einen ehrenvolleren musikalischen Ritterschlag gibt es auf Erden wohl nicht, auch wenn der Chefdirigent der Berliner Philharmoniker im 21. Jahrhundert sicherlich keine solche Aura mehr haben wird wie einst. Claudio Abbado hat durch seinen klugen Rücktritt im Jahr 2002 gezeigt, dass man nicht bis zum letzten Atemzug in Amt und Würden bleiben muss, und Simon Rattle hat durch seinen angekündigten Wechsel zum London Symphony Orchestra kürzlich sogar demonstriert, dass man nach den Berliner Philharmonikern auch andernorts noch Chef werden kann. Die Zeit lebenslanger Bindungen eines Dirigenten an ein Orchester gehört – mit all ihren Vor- und Nachteilen – der Vergangenheit an. Auch in der tendenziell konservativen Klassik-Szene geht es seit rund 25 Jahren pluralistisch zu, womit das Bild des Dirigenten als einer alles überstrahlenden Führungspersönlichkeit obsolet geworden ist.
Was die heutige Wahl von den früheren – und insbesondere von der vorangegangenen – unterscheidet: Das Feld der infrage kommenden Kandidaten ist unübersichtlich. 1999 gab es ein offenkundiges Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Daniel Barenboim und Simon Rattle. Von den drei Dirigenten, die heute am häufigsten für die Rattle-Nachfolge ins Spiel gebracht werden, sind zwei etwas zu jung und einer etwas zu umstritten. Die Rede ist von Gustavo Dudamel, Andris Nelsons und Christian Thielemann. Dass diese drei neulich bei einer nicht repräsentativen Publikumsbefragung von RBB und Berliner Morgenpost am besten abschnitten – wobei Andris Nelsons mit großem Vorsprung auf dem ersten Platz landete – ist kein Zufall. Von allen jüngeren Gastdirigenten haben diese drei die Berliner Philharmoniker in den vergangenen fünf Jahren am häufigsten geleitet. Und vernünftigerweise kann der neue Chef nur aus dem Kreis der aktiven, erfolgreichen und beliebten Gastdirigenten kommen. Es ist so gut wie undenkbar, dass sich die Berliner Philharmoniker mit dieser für Jahre prägenden Entscheidung jemandem anvertrauen, den sie noch gar nicht oder nicht so genau kennen.
Durchklingeln bei einem der großen Alten des Kapellmeisterhandwerks
In seiner Geschichte hat das Orchester übrigens stets den Wechsel gewählt: Der feurige Nikisch folgte dem nüchternen Bülow, der omnipräsente Karajan dem scheuen Furtwängler, der umtriebige Rattle dem verschlossenen Abbado. Nicht mehr als diese sechs Herren haben die Philharmoniker in 133 Jahren Orchestergeschichte als reguläre Chefdirigenten geleitet. In dieser Logik wäre Christian Thielemann als größtmöglicher Kontrast zu Simon Rattle der Kandidat der Stunde. Für ihn spricht auch, dass er gebürtiger Berliner ist, mit dem Orchester gleichsam aufwuchs und noch von Karajan gefördert wurde. Gegen Thielemann spricht allerdings sein Repertoire, das viel enger ist als das aller seiner Vorgänger. Überdies polarisiert er sowohl in musikalischer als auch in persönlicher Hinsicht mehr, als es dem Orchester eigentlich lieb sein kann. Ein Sieg Thielemanns wäre die einzige wirkliche Sensation, die die heutige Wahl hervorbringen könnte.
Das Repertoire von Andris Nelsons ist ebenfalls ausbaufähig, und noch wird der 36 Jahre alte Lette eher selten mit den musikalischen Sternstunden in Verbindung gebracht, die hier sozusagen zur Stellenbeschreibung gehören. Aber er ist ein Vollblutmusiker und zugleich ein Teamplayer, der nach dem Tod von Claudio Abbado dessen Lucerne Festival Orchestra zur größten Zufriedenheit aller dirigierte. Der musikalisch vielseitigste Kandidat ist der 34-jährige Venezolaner Gustavo Dudamel, der allerdings gerade seinen Vertrag in Los Angeles verlängert hat und dessen persönliche Belastbarkeit bisweilen angezweifelt wird. Von Dudamel wäre am ehesten eine Fortsetzung von Rattles Kurs der musikalischen, gesellschaftlichen und medialen Öffnung des Orchesters zu erwarten. Andere Dirigenten aus dieser Altersstufe wie Yannick Nézet-Séguin oder Daniel Harding waren in den vergangenen Jahren in Berlin weniger präsent, so dass die Wahl eher nicht auf sie fallen dürfte. Der musikalisch überragende Kirill Petrenko hat sich durch eine undurchsichtige Konzertabsage im vergangenen Dezember vermutlich selbst aus dem Rennen genommen.
Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Berliner Philharmoniker heute dann doch lieber bei einem der großen Alten des Kapellmeisterhandwerks durchklingeln. Ein erfahrener Dirigent könnte dem Orchester für fünf bis zehn Jahre musikalische Höhepunkte bescheren, während die jüngeren Kandidaten für die nächste Wahl in Ruhe heranreifen. Für eine solche Lösung könnte man sich Riccardo Chailly und vor allem Mariss Jansons vorstellen, mit geringerer Wahrscheinlichkeit auch Daniel Barenboim oder Riccardo Muti. Klar ist zur Stunde eigentlich nur eines: Bei aller basisdemokratischer Modernität des Verfahrens dürfte eine Frau keine Chance haben. Zwar nehmen auch 18 Frauen an der Wahl teil, aber von den Dirigentinnen in der philharmonischen Geschichte durfte bislang nur Emmanuelle Haïm ans Berliner Pult zurückkehren – und die ist ausschließlich auf Barockmusik spezialisiert.