Diskriminierung durch Sprache

"Behinderter" ist ein Unwort

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Illustration: Drei Protestierende mit teilweise erhobenen Fäusten auf blauem Hintergrund.
Menschen auf ein äußerliches Merkmal wie eine Behinderung zu reduzieren, kann schnell ausschließend werden. © imago images / Malte Mueller
Ein Standpunkt von Christoph Keller · 19.02.2021
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Menschen, die nicht der Norm entsprechen, als "behindert" zu bezeichnen, hält der Schriftsteller Christoph Keller für falsch. Denn es lege das Augenmerk nur auf das, was diese nicht können, anstatt auf das, was sie können.
Die meisten indigenen Gemeinschaften Nordamerikas hatten kein Wort für "Behinderung". Schon gar keines für "Schwerbehinderte". Weil sie keine "Behinderten" hatten? Natürlich hatten sie Menschen, die von der Norm abwichen. Was sie aber nicht hatten, war eine "Klasse" von "Behinderten".
Stattdessen hatten sie eine Frau, die taub, jedoch geschickt im Wassertragen war. Eine andere, die nicht sehen konnte, die Leute aber mit ihren Geschichten wie keine andere unterhielt. Sie hatten einen, der, wie es heute heißt, an einer psychologischen Behinderung litt, dank seiner verrückten Weltsicht aber visionär war: der Schamane. Sie trugen dank ihrer Begabungen zum Gemeinwohl bei und verdienten ihren Lebensunterhalt. Heute ignorieren wir diese Talente, wissen aber, dass "Behinderte" zu teuer sind, weil sie nichts leisten.

Das Wort "Behinderter" stigmatsiert und grenzt aus

In Nordamerika schleppten die Konquistadoren das Wort "Behinderung" auf ihren Schiffen mit ihren Waffen, Rumfässern, Viren und Bibeln ein. Im Anfang war das Wort. Eines wie "Behinderung" sorgt für Stigmatisierung, Ausgrenzung, der Konstruktion einer eigenen Klasse. Die nicht mehr für ihre Vorteile geschätzt, sondern wegen ihrer Nachteile verschmäht wird.
"Die werden hier aber gut gehalten!", entschlüpfte es dereinst Edmund Stoiber, als er ein "Behindertenheim" besichtigte. In der Schweiz schimpfen wir so einen "behindert".
Schon vor circa 2500 Jahren hat der taoistische Philosoph Zhuangzi die Idee, "normal" sei gut, sprich "nicht normal" schlecht, kritisiert. Nichts ist normal, alles ist normal. Ein Wort kann Respekt verschaffen, aber auch Unheil anrichten. Aus einem Wort wird ein Konzept, aus dem Konzept kann ganz schnell eine Randgruppe werden.

Wir sind süchtig nach Labels

Von einer von diesen unglücklichen Begriffen befreiten Gesellschaft zu träumen ist utopisch. Wir sind zu verbürokratisiert, zu süchtig nach Labels, die wir uns, identitätssuchend, auch noch selber überstülpen. Was die Bürokratie freut – die Hasser und Hetzer auch. Alle anderen aber einschüchtert, weil ein freundliches Gespräch mit Unbekannten zum Fettnäpfchen-Parcours geworden ist. Und trennt, was eigentlich zusammenkommen will.
Die gute Nachricht: Wir können das Geschichtsrad zurückdrehen und ein Wort wie "Behinderung" durch eines ersetzen, das einschließt. Das nicht zur vermaledeiten Klassenbildung und Ausgrenzung taugt. Ein Allerweltswort wie "Integration" zum Beispiel. Oder "Inklusion". Weil Allerweltswörter weitgefasster, also inklusiver, sind. "Schwerbehindertenausweis" könnte zum Beispiel in "Inklusionsausweis" umbenannt werden. Dann schwingt da "Schwerverbrecher" nicht mehr so deutlich mit. Der "Inklusionsausweis" würde integrative Wunder wirken. Niemanden käme es in den Sinn, jemand mit einem solchen Dokument auszugrenzen.

Christoph Keller (1963) ist Autor zahlreicher Romane und Theaterstücke und eines Essaybandes. Sein bekanntestes Werk ist der Erinnerungsroman "Der beste Tänzer" (S. Fischer Verlag, 2003). Keller, der auf Deutsch und Englisch schreibt und über zwanzig Jahre in New York verbracht hat, lebt mit der Lyrikerin Jan Heller Levi in St. Gallen. Sein Roman "Der Boden unter den Füssen" (2019) wurde mit dem Alemannischen Literaturpreis 2020 ausgezeichnet. Zuletzt erschien im Limmat-Verlag "Jeder Krüppel ein Superheld".

Christoph Keller, mit schwarzem Polo und schwarz-roter Brille, schaut vor grünem Blattwerk in die Kamera.
© Keystone / Christoph Keller
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