Diskurse

Literatur bringt Europa zusammen

Ukrainische Polizisten stehen im Januar 2014 vor einer europäischen Flagge.
Ukrainische Polizisten stehen im Januar 2014 vor einer EU-Flagge. Europäische Autoren sollten sich offen positionieren, fordert Mely Kiyak. © picture alliance / dpa / EPA / Maxim Shipenkov
Von Mely Kiyak · 07.05.2014
Literatur ist so mächtig, so wirksam, dringt so sehr in den Leser ein, dass sie vieles kann, sagt die Berliner Publizistin Mely Kiyak. Sie fordert Europas Autoren dazu auf, sich nicht vor ihrer gesellschaftlichen Verantwortung zu drücken.
Literaten sind Dissidenten, Systemkritiker, Soziologen und Psychologen. Literaten sind auf der Seite der Schwachen, der Gestrandeten, der Verlierer. Literaten eignen sich also vorzüglich für den sogenannten Europadiskurs. Denn was die Politik anrichtet, landet auf dem Tisch des Autors. Der Politiker organisiert die Gesellschaft, der Autor reflektiert und analysiert sie.
So wurde es Zeit, der letzten Europäischen Schriftstellerkonferenz noch vor dem Mauerfall, vor 26 Jahren, die "Ein Traum von Europa" hieß, eine nächste folgen zu lassen. Wir nennen sie diesmal "Europa - Traum und Wirklichkeit". Wir wollen einander fragen: wie sieht Europa aus Deiner Perspektive aus? Wir spricht man in Deinem Land über uns, über das, was derzeit geschieht?
Fühlst Du Dich als Schriftsteller verantwortlich für Europa und wenn ja, wie drückt es sich in Deiner Literatur aus? Was denkst Du über Krieg, über die Ukraine, über Rassismus, die Minderheitenfrage oder Geld? Doch vor allem, was verbindet uns, die Autoren?
Haben wir ein gemeinsames Europa, ein literarisches? Ist Europa nicht ohnehin die Summe aller Erzählungen, eine riesige Bibliothek, die fortwährend erweitert wird?
Sehr fremd geblieben
Wenn wir in einen Buchladen gehen, dann haben wir den Kontinent vor Augen. Wir lesen, wie und über was sie in Island schreiben, in Norwegen, Schweden, Finnland, aber wir stellen auch fest, dass der Fokus der Übersetzungen weniger auf den moldauischen, rumänischen, romanesken, slowakischen, kroatischen oder bulgarischen Sprachen liegt. Was sehr schade ist, denn immerhin reden wir viel über Angehörige dieser Sprachen und schotten uns durch Gesetze vor ihnen ab. Sie scheinen uns wohl sehr fremd geblieben zu sein.
Nichts kann das Gefühl, dass hinter der Landesgrenze kein Feind wohnt, sondern ein Freund, so gut herstellen, wie Geschichten. Geschichten, die davon erzählen, dass überall Menschen leben, die das Gleiche wollen. Arbeit haben, von der Arbeit leben können, keine Angst vor der Zukunft haben zu müssen.
Manipulieren, trösten, besänftigen
Aber auch: die Identität wahren zu dürfen, in die Kirche, Synagoge oder Moschee zu gehen, ohne beargwöhnt zu werden, leben und lieben zu dürfen, wen und wie man will, seine Kultur zu leben, seine Dialekte zu sprechen, seine Bräuche und Traditionen zu wahren - in der Puzsta genauso wie auf der schwäbischen Alb. Literatur kann das alles erzählen.
Literatur ist so mächtig, so wirksam, dringt so sehr in den Leser ein, dass sie vieles kann. Manipulieren, aber auch trösten, besänftigen, den Blick und das Herz öffnen.
Wenn Literatur einfach nur bedrucktes Papier wäre, wozu haben die Nazis denn Bücher verbrannt? Wenn Schriftsteller einfach nur romantische Künstler sind, würden sie dann in Gefängnissen sitzen? Und ja, natürlich, wenn Literatur ihr Publikum nicht erreichen würde, würde sie dann als Propaganda missbraucht?
Mit Literatur den Frieden verteidigen
Und denken wir an die Gedichte. Wie vielen Menschen hat die Lyrik beim Überleben geholfen? Marcel Reich-Ranicki wurde nie müde zu erwähnen, dass es die Musik, aber vor allem Verse waren, die sein Herz im Warschauer Ghetto erreichten.
Nein, nein, die Literaten müssen sich und die Bedeutung ihres Schreibens nicht in Frage stellen, und ja, sie dürfen sich vor ihrer Verantwortung nicht drücken.
Wenn ökonomisch orientierte Lobbygruppen Einfluss auf die europäische Politik nehmen wollen, dann sollten wir Schriftsteller das auch versuchen. Was wir zu bieten haben? Literatur! Und zu verteidigen? Den Frieden.
Mely Kiyak ist Publizistin in Berlin. Ihre Texte erscheinen in verschiedenen überregionalen deutschsprachigen Zeitungen. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher und Anthologien. Zuletzt erschien: "Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an" (S.Fischer 2013) und "Istanbul Notizen" (shelff 2014, auf Deutsch und Türkisch) Sie ist Theaterkolumnistin für das Gorki Theater Berlin.Am 27. Juni wird "Aufstand", ihr erstes Theaterstück am Staatschauspiel Karlsruhe uraufgeführt.
Die Autorin Mely Kiyak
Die Autorin Mely Kiyak© Ute Langkafel
Mely Kiyak ist gemeinsam mit Antje Rávic Strubel, Nicol Ljubic, Tilman Spengler und Frank-Walter Steinmeier Initiatorin und Gastgeberin der Europäischen Schriftstellerkonferenz 2014.
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