Selbstbestimmt leben, fremdbestimmt sterben
Belgien hat neue Möglichkeiten der Sterbehilfe legalisiert, in Deutschland steht eine Reform der Gesetze noch aus. Dem CDU-Politiker Michael Brand geht die Neuregelung im Nachbarland viel zu weit.
Deutschlandradio Kultur: Selbstbestimmt leben, fremdbestimmt sterben – wer entscheidet eigentlich am Schluss über Leben und Tod? Eine Frage, die nicht einfach zu beantworten ist. 25 Minuten haben wir jetzt immerhin Zeit, darüber zu diskutieren hier in "Tacheles" vom Deutschlandradio Kultur. Unser Gesprächspartner ist der CDU-Politiker Michael Brand. Guten Tag, Herr Brand.
Michael Brand: Hallo.
Deutschlandradio Kultur: Herr Brand, vor neun Jahren waren Sie noch Pressesprecher der CDU-Fraktion im hessischen Landtag. Dann kam der Einzug in den Bundestag. Dreimal haben Sie Ihren Wahlkreis in Fulda direkt gewonnen, sind Vorsitzender des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe geworden und stehen nun wohl vor der größten bundespolitischen Aufgabe bei Ihnen. Im Auftrag der Unionsfraktion sollen Sie eine Neuregelung der Sterbehilfe ausarbeiten und dafür eine fraktionsübergreifende Mehrheit organisieren. Warum gerade Sie?
Michael Brand: Das Thema bewegt mich schon seit vielen Jahren. Wir haben eine Reihe von Entscheidungen in den letzten Jahren gehabt im Deutschen Bundestag. Wenn Sie an die PID-Debatte denken, an die Diskussion um die Stichtagsverschiebung der embryonalen Stammzellforschung, die Patientenverfügung, es gab eine ganze Reihe von Themen, Organspende, bei denen ich mich als junger Abgeordneter mit engagiert habe, weil ich glaube, es ist ein Thema gerade für die Jungen, weil die Frage, die dahinter steckt, ist: In welcher Gesellschaft wollen wir leben?
Ganz offensichtlich sind einige drauf aufmerksam geworden, dass ich nicht nur einfache Antworten gebe, sondern mich bemühe, bei diesen doch sehr schwierigen Fragen keine einfachen Antworten, sondern gute Antworten geben zu wollen. Das ist der Ehrgeiz auch bei der jetzigen Gesetzgebung.
Deutschlandradio Kultur: Bevor wir ins Detail gehen, müssen wir uns mit Belgien beschäftigen oder wir sollten es zumindest tun. Denn Belgien wird wohl das erste Land sein, das für aktive Sterbehilfe keine Altersgrenze mehr vorgibt. Das heißt, aktive Sterbehilfe soll künftig auch für Kinder erlaubt sein. Wird Ihrer Meinung nach damit die Büchse der Pandora geöffnet?
Michael Brand: Absolut. Ich glaube auch, dass Belgien ein Beispiel dafür ist, wie Euthanasie außer Kontrolle geraten kann. Denn die Belgier nennen es Euthanasie. Bei uns wird es Sterbehilfe genannt. Es geht eigentlich um die Beihilfe zum Suizid. So heißt es korrekt. Aber die Debatte geht ja weiter. Also, mich graust es bei der Vorstellung, dass Kinder auch, die unter enormem Druck stehen, hier in eine Verantwortung gebracht werden sollen, in die wir sie nicht bringen dürfen. Und die Diskussion geht in Belgien schon weiter. Die größte Regierungsfraktion, die Sozialisten, thematisiert gerade, dass auch Demenzkranke unter die Sterbehilfe fallen sollen.
Das ist nicht meine Vorstellung, wie unsere Gesellschaft aussehen soll, dass wir diejenigen, die schwach sind, ob sie jung oder alt sind, über den Jordan befördern.
Akt der Barmherzigkeit
Deutschlandradio Kultur: Man muss aber vielleicht auch Ärzte in Belgien ernst nehmen, die sagen: Für todkranke Kinder ist Sterbehilfe auch ein Akt der Barmherzigkeit. Es geschehe ohnehin, ohne dass man öffentlich darüber redet. Und es sind wirklich vielleicht drei, vier, fünf Fälle, wo es absolut aussichtslos ist. Was sagen Sie dagegen?
Wer entscheidet denn darüber, ob das Kind tatsächlich im Vollbesitz der Kräfte ist? Ich glaube, es ist nicht verantwortlich, so eine Entscheidung auf Schultern von Kindern zu legen. Überlegen Sie mal. Wir gehen bei allen Dingen, bei der Strafmündigkeit, bei Wahlen gehen wir davon aus, dass man 18 Jahre alt sein muss. Und bei einer Frage über Leben und Tod muss sich doch jeder Zuhörer mal fragen, ob er imstande gewesen wäre, auch angesichts einer ernsten Erkrankung im Alter von sechs oder zehn Jahren zu entscheiden, jetzt ist Schluss.
Die Entscheidung liegt ja nicht nur bei den Kindern. Die liegt auch bei den Eltern. Die liegt bei Medizinern, bei Experten, die dann auch damit einbezogen sind in so eine Entscheidung. – Was ist denn dagegen zu sagen, dass jetzt Jugendliche, 13, 14, Endstadium Krebs, sich dann eben entscheiden, dass dieses Leiden jetzt nicht noch ein Jahr oder ein halbes Jahr weitergehen soll, sondern dass jetzt auch das Verdienen der Pharmaindustrie an ihnen beendet werden soll?
Michael Brand: Das ist natürlich ein ganz gefährliches Argument, wenn ich mit der Pharmaindustrie und mit Kosten dort argumentiere, weil, das könnte uns in Deutschland auch in eine schwierige Situation bringen. Gerade, wo es einen größeren Anteil von älteren Menschen in Zukunft geben wird in einer älter werdenden Gesellschaft, da könnte man auch sehr schnell mit Kosten argumentieren. Das darf nicht das Argument sein.
Aber kann denn überhaupt ein Kind mit sechs oder acht Jahren frei, selbstbestimmt entscheiden, wenn es unter Schmerzen leidet? Gibt’s nicht vielleicht andere Möglichkeiten? Da sage ich klar. Die Alternativen gibt es über die Palliativmedizin, über Zuwendung. Im Übrigen, ob Kind oder erwachsen, ob jung oder alt, die Frage ist am Ende: Lassen wir es auch zu, dass wir am Ende des Lebens, ob jung oder alt, die Zuwendung bekommen und nicht das süße Gift, das schnell den Tod bringt?
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem ist es ja interessant, dass – wenn man Umfragen glaubt, auch in Belgien – die Mehrheit sagt, ja, aktive Sterbehilfe in engen Grenzen ist auch ein Gebot der Barmherzigkeit. Wir möchten das gerne machen, weil wir mündige Bürger sind. – Was sagen Sie dagegen?
Michael Brand: Ich bin froh, dass bei uns in Deutschland die Debatte und die Gesellschaft sehr sensibel auf dieses Thema reagiert. Ich glaube, wir haben eine andere Vergangenheit als Belgien. Es gab Zeiten, wo in Deutschland, und das waren schlimme Zeiten in den Nazizeiten, wo über lebenswertes und unlebenswertes Leben entschieden worden ist von anderen. Deswegen, glaube ich, gibt’s eine hohe Sensibilität in Deutschland bei dem Thema und ich bin ganz froh, dass wir so eine Debatte führen auch im Parlament mit großer Ernsthaftigkeit. Und wir brauchen eine breite Debatte über dieses Thema. Und ich glaube, dass Belgien auch ein Anlass sein kann, die Frage zu stellen: Was wollen wir? Wollen wir eigentlich eine Entwicklung, wo man sich vielleicht auch rechtfertigen muss dafür, wenn man krank ist oder alt ist, dass man noch am Leben ist?
Und Manchmal spielen auch in der Tat Kostengründe eine Rolle, wenn ich an Pflegegelder denke, an eine Entscheidung, die in dieser Woche stattgefunden hat, dass auch diejenigen, die keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern hatten, die sich vielleicht nicht gekümmert haben, für die Kosten aufkommen müssen. Da kann ja durchaus mal die Frage aufkommen: Dem soll ich jetzt auch noch was bezahlen? Und es wird doch auch langsam Zeit. Du hast doch lang genug gelebt.
Deutschlandradio Kultur: Aktive Sterbehilfe ist in den Niederlanden, in der Schweiz, Luxemburg und in Belgien erlaubt. Frankreich hat sich kürz lich für eine teilweise Zulassung der Sterbehilfe ausgelassen. Eine ähnliche Diskussion läuft in Großbritannien, auch in Kanada. – Sind die alle auf dem Holzweg.
Michael Brand: Ja, man könnte natürlich auch die ganzen anderen Länder aufzählen, die viel striktere Regelungen als wir haben, um Beispiel Österreich. Ich könnte noch ganz, ganz viele in Europa aufzählen. Also, es gibt eine Reihe von denjenigen, die eine Position haben wie wir. Aber ich sage das mal ganz klar: Selbst wenn wir die Einzigen sind, die diese Position haben, dürfen wir es uns nicht so leicht machen und sagen, das ist der einfache Weg. Ich halte es da mit Franz Müntefering. Das ist eine gefährliche Melodie, die da gerade unterwegs ist.
Mittel gegen den Sterbetourismus
Deutschlandradio Kultur: Aber das schreit doch geradezu nach einer europäischen Lösung. Alles soll europäisch geregelt werden, einheitlich, wenn es irgendwie geht. Und jetzt, wenn wir so unterschiedliche Positionen haben, bedeutete das, dass wir tatsächlich Gefahr laufen, dass wir einen Sterbetourismus hier in Europa bekommen. Wie wollen Sie das unterbinden?
Michael Brand: Erstens glaube ich, dass wir nicht aus der Verantwortung gehen dürfen, das für uns zu diskutieren in unserer Gesellschaft, weil, jeder hat eine andere historische Erfahrung. Ich habe das gerade eben erwähnt. Aber wir dürfen, wir können die Debatte nicht auf andere übertragen. Wir können Sie nicht auf Belgien übertragen, nicht auf Europa.
Deutschlandradio Kultur: Aber wir könnten sie vielleicht europäisch lösen.
Michael Brand: Ich hoffe auch, dass unsere Diskussion hier in Deutschland, die steht ja am Anfang der Diskussion, im Übrigen ist nicht nur die Debatte in der Politik notwendig, sondern auch unter Juristen, unter Palliativmedizinern, unter Betroffenen. Ich hoffe auch, dass die deutsche Diskussion ein Beispiel setzt. Und ich hoffe nicht, dass Belgien der Beispielgeber wird, dass diejenigen, die in schwierigen Situationen sind, in Rechtfertigung gedrückt werden.
Deutschlandradio Kultur: In Deutschland gibt es für die Sterbehilfe derzeit noch keine klare Regelung. Das soll sich ändern. Unser Gast Michael Brand von der CDU soll einen Kompromiss im Bundestag ausloten für ein Gesetz, vielleicht Ende des Jahres, vielleicht im nächsten Jahr. Was derzeit der Sachstand bei uns ist, das will ich jetzt kurz mit Ihnen im Pingpong-Spiel klären, Herr Brand. Bitte nur mit Ja oder Nein antworten.
Man unterscheidet in Deutschland vier Arten der Sterbehilfe: aktive Sterbehilfe, also Tötung auf Verlangen, zum Beispiel die Giftspritze. Das ist in Deutschland verboten und es soll auch weiterhin verboten sein. Ja oder nein?
Michael Brand: Ja.
Deutschlandradio Kultur: Zweitens: indirekte aktive Sterbehilfe. Das bedeutet, der Patient bittet den Arzt um Medikamente, die Schmerzen zu lindern, aber lebenswichtige Organe können dabei geschädigt werden. Das ist nicht strafbar, aber Ihre Fraktion, die Union, ist dagegen, Herr Brand.
Michael Brand: Wir diskutieren gerade, wie wir das regeln wollen. Das ist noch nicht entschieden.
Deutschlandradio Kultur: Drittens: Beihilfe zur Selbsttötung, also der bereitgestellte Giftbecher wie in der Schweiz. Dagegen sind Sie?
Michael Brand: Nein.
Deutschlandradio Kultur: Viertens: die passive Sterbehilfe, also, wenn künstliche Ernährung und Beatmung eingestellt wird. Wollen Sie auch das gesetzlich verbieten?
Michael Brand: Nein.
Deutschlandradio Kultur: Dann stellt man sich die Frage mal ganz persönlich. Wenn die Situation auf Sie zukommen würde, also die schwierige Situation, über Leben und Tod zu entscheiden, wie würden Sie das lösen?
Michael Brand: Tja, das ist erstens immer schwierig, das zu beantworten in Situationen, wo man Gott sei Dank nicht in Todesängsten ist. Ich glaube, das ist auch eine Krux bei den derzeitigen Umfragen. Wenn Sie heute die Frage stellen in Deutschland, sind Sie für Sterbehilfe, der Begriff ist ja schon falsch, dann sagen Ja, Nein generell nicht und nur am Lebensende, wenn wirklich gar nichts mehr geht, dann haben Sie heute eine große Zustimmung bei drei, nämlich bei der Antwort, dass sie sich dort Sterbehilfe vorstellen könnten. Aber der Begriff der Sterbehilfe ist falsch. Ich bezweifle, dass die meisten dort Sterbehilfe wollen, dass sie einen Giftcocktail bekommen oder eine Todesspritze, sondern sie wollen doch in Wahrheit am Ende des Lebens Schmerzen gelindert bekommen. Sie wollen Zuwendung bekommen. Sie wollen die Angst vorm Sterben genommen bekommen. Das ist doch immer das, was dahinter steckt.
Und wenn Sie mit Palliativmedizinern heute sprechen, sagen die Ihnen genau das. Also, das ist nicht meine Position allein, sondern die derjenigen, die mit Todeskranken und Sterbewilligen zu tun haben, tagtäglich.
Gegen Selbsttötung als "ganz normale Option"
Deutschlandradio Kultur: Aber in Deutschland gibt es doch gar keine aktive Sterbehilfe. Was wollen Sie eigentlich verändern?
Michael Brand: Ja. Es hat sich aber was geändert in Deutschland, dass es mittlerweile Vereinigungen gibt, Vereine, Organisationen, die propagieren, dass man Menschen, die sterbewillig sind, die vielleicht psychisch krank sind, die vielleicht an Schmerzen leiden, dass man ihnen das Leid nehmen kann, indem man ihnen die Todesspritze gibt. Das ist eine neue Entwicklung, die es in Deutschland gibt. Das ist der Grund, warum wir als Gesetzgeber hier tätig werden wollen, im Übrigen nicht nur für diejenigen, die das kommerziell tun, die damit ihr Geld verdienen. Nehmen Sie Herrn Kusch und Dignitas. Dort ist es so: Wenn Sie wenig bezahlen, warten Sie zwei bis drei Jahre, bis Sie die Spritze kriegen. Wenn Sie viel Geld haben, nämlich 7.000 Euro, dann macht es Herr Kusch sofort. Das heißt, der, der mehr Geld hat, der kriegt schneller den Tod geschenkt. Und das wollen wir nicht.
Und es gibt einen zweiten Punkt. Wir wollen auch diejenigen, die heute mit der Kaffeemühle in Deutschland unterwegs sind und dort die Medikamente anrühren und das in einem Apfelbrei vermengen, damit es nicht erbrochen wird, sondern dass es drin bleibt, dass diejenigen, die glauben, vielleicht glauben die das tatsächlich, dass sie Leuten helfen -- aber der depressiv Kranke, der braucht doch nicht den Todesmix, sondern der braucht die Unterstützung und ein Hilfsangebot.
Und die Ärzte sagen ihm ganz klar, ich habe mit einem Palliativmediziner, mit vielen gesprochen, ich will einen davon zitieren. Der hat mir gesagt: Immer dann, wenn mir einer ein Signal gesendet hat, dass er Hilfe braucht, dann hat er diese Hilfe angenommen. Es waren schwierige Gespräche, aber ich habe keinen erlebt, der es am Ende durchgeführt hat. Das unterscheidet ihn natürlich von demjenigen, der Brücke fährt, runter springt und das war’s. Der hat kein Signal gesendet. Den kriegen Sie nicht. Aber die anderen, und davon sind auch viele psychisch erkrankt, denen müssen Sie auf eine andere Art und Weise helfen. – Ich glaube, alles andere wäre auch eine Kapitulation.
Deutschlandradio Kultur: Im Jahr 2012 haben sich 29 Menschen unter Hilfe des Vereins Sterbehilfe Deutschland e.V. verabschiedet mit diesem Verein, haben sich mit Hilfe getötet. Gibt es jetzt dieses Gesetz nur für diese 29 Menschen?
Michael Brand: Wir wollen nicht, dass es eine ganz normale Option von vielen ist, sich selbst zu töten oder andere auch noch mit reinzuziehen, sich töten zu lassen. Ich glaube, dass auch das Beispiel in Belgien zeigt, dass ein bestimmtes Vorgehen auch Schule macht. Denn wenn Sie sich die Zahlen in Belgien anschauen, ist die Zahl um ein Viertel gestiegen. Und das Signal, was hier von diesem Vorgehen ausgeht, das ist dramatisch und wird auch mehr Fälle nach sich ziehen. Deswegen geht es auch darum zu sagen, wehret den Anfängen.
Wir wollen im Übrigen nicht nur das Verbot der organisierten Sterbehilfe und Beihilfe zur Selbsttötung, sondern wir wollen auf der anderen Seite den Ausbau der Palliativmedizin und der Hospizarbeit weiter vorantreiben, weil, das gehört beides zusammen. Das ist enorm wichtig.
Deutschlandradio Kultur: Herr Brand, man könnte ja auch sagen, Sie zäumen das Pferd von hinten auf. Kümmert euch endlich mal in der Politik richtig um die Pflege. Dann werden ältere Menschen nicht sagen: Wir haben eigentlich keine Lust mehr zu leben, fallen den anderen zur Last und sind schlecht versorgt. – Das ist doch die Geschichte.
Michael Brand: Sie haben absolut recht, dass man im Pflegebereich mehr tun muss. Meine eigene Frau ist Altenpflegerin. Wir kennen uns, seitdem wir 16, 17 sind. Ich kenne also die Situation in Pflegeheimen in Deutschland und auch die Krux, dass sie immer weniger Zeit haben, immer mehr Dokumentationspflichten haben. Das Problem des Personals, was zum Teil…
Deutschlandradio Kultur: Das hören wir seit Monaten, seit Jahren und nichts geschieht richtig. Warum handelt die Politik nicht?
Michael Brand: Naja, da sind Sie falsch informiert. Wir haben jetzt gerade im Koalitionsvertrag entschieden, das ist der einzige Bereich, wo wir Beiträge erhöhen, nämlich für den Pflegebereich, um in diesem Bereich mehr zu tun.
Ich gebe Ihnen recht, man könnte noch mehr tun und man muss mehr tun. Das ist auch meine Forderung. Aber das, was Sie als Argument nennen, wenn man das zu Ende denken würde, heißt das ja, wenn wir nicht genug im Pflegebereich tun, dann müssen wir in den Altenheimen dafür sorgen, dass nicht mehr so viele dort liegen. Also, mal schneller weg mit denen. Das kann doch nicht die Antwort sein, sondern es geht nicht um ein Entweder-Oder. Es geht um Sowohl-als-auch.
Wir müssen weiter den Bereich der Pflege ausbauen. Wir müssen die Hospizarbeit ausbauen, die Palliativmedizin ausbauen und wir müssen gleichzeitig verhindern, dass die Selbsttötung und die Beihilfe zur Selbsttötung eine ganz normale Option wird. Was ist denn das für eine Gesellschaft? Ich will in einer Gesellschaft nicht leben, wo ich mich dafür rechtfertigen muss, wenn ich krank bin oder todeswillig bin, dass ich geschubst werde am Abgrund, sondern die Realität ist doch eine ganz andere. Ärzte und viele andere tun doch ihr Bestes, damit das genau nicht passiert. Aber ich finde, man darf die Büchse der Pandora nicht öffnen.
Deutschlandradio Kultur: Diese Debatte haben Sie bisher aber zumindest nicht geführt. Sie waren bisher nicht der große Fürsprecher für die Pflege.
Michael Brand: Das ist unwahr.
Deutschlandradio Kultur: Sondern, Sie haben es jetzt schon angesprochen, Palliativmedizin fördern und Hospize ausbauen. Was sagen Sie denn denen, die selbstbestimmt aus dem Leben scheiden wollen?
Ich nenne Ihnen mal ein Beispiel, und zwar Gerd Lünenbürger, ein Professor für Blockflöte an der Hochschule der Künste in Berlin. Der hatte die Diagnose ALS erhalten, also Amyotrophe Lateralsklerose, eine Nervenkrankheit. Die legt dann die Muskeln nach und nach still. Und von der Diagnose bis zum Tod war es dann noch ein Jahr. Und Herr Lünenbürger musste dann extra in die Schweiz reisen, weil er sein Leben hier nicht in Würde zu Ende bringen konnte, bevor dann der Schluckmuskel versagt hat. – Warum helfen Sie solchen Menschen wie Gerd Lünenbürger nicht, auch weil bei ihnen die Palliativmedizin nichts mehr bringt? Warum müssen Sie ihm diesen Umweg ermöglichen, dass er noch in die Schweiz fahren muss?
Michael Brand: Also, ob die Palliativmedizin nichts mehr bringt, das wissen weder Sie noch ich, sondern das muss der Arzt, der ihn behandelt, entscheiden. Aber ich glaube, es wäre ein Trugschluss und ein Dammbruch, wenn wir das Recht auf Selbstbestimmung ummünzen in ein Recht auf den Suizid. Deswegen, glaube ich, können wir über jeden Einzelfall sprechen, aber es ist unsere Aufgabe als Parlamentarier, die auch einen Rahmen setzen, dass wir den Druck nicht ausweiten, dass Menschen, die krank sind – und die meisten Fälle, den, den Sie genannt haben, ist nicht der normale Fall, sondern wir reden bei den Suizidwilligen meistens um psychische Erkrankung.
Ich will vielleicht ein Beispiel aus meiner eigenen Familie nennen, meinen Schwiegervater, den ich begleitet habe am Ende des Lebens. Ich lebe im Übrigen mit Krankheit und Tod seit meiner Geburt. Denn da ist mein Vater 1973 an Krebs erkrankt. Ich habe meinen Schwiegervater auf dem letzten Weg mit begleitet. Und der hatte Angst, dass er erstickt. Die Angst ist ihm durch Palliativmedizin genommen worden.
Und ich finde, man darf nicht außer Acht nehmen, dass man natürlich viele Einzelbeispiele nennen muss in der Debatte, aber man sollte nicht den Eindruck erwecken, dass dieser Fall, den Sie gerade geschildert haben, der Standardfall ist. Und ich warne davor. Wenn wir Ihren Fall sozusagen am Ende erlauben, jeder soll das doch so tun, wie er es für richtig hält, das kann er ja heute, der Suizid ist straffrei. Die Beihilfe zur Selbsttötung soll weiter straffrei bleiben.
Aber eine organisierte Form, wo Vereine Geld damit machen oder wo nicht ausgebildete Leute am Ende glauben, sie könnten entscheiden, ob derjenige jetzt den Platz wechselt vom Diesseits ins Jenseits, das kann doch nicht die Lösung sein.
Deutschlandradio Kultur: Ich frage nochmal nach. Wenn jegliche Hilfe zur Selbsttötung verboten werden soll und es Menschen gibt, die trotzdem mit oder ohne Hilfe aus dem Leben scheiden wollen, und das wird dann strafbar, was sollen die denn machen? Sollen die dann sich grausam und unsicher vor die Bahn werfen, um der Straftat zu entgehen? Wie stellen Sie sich das vor?
Michael Brand: Also, es gibt ein Missverständnis. Das ist gar nicht unsere Vorstellung, derjenigen, die einen Gruppenantrag auf den Weg bringen wollen. Im Übrigen ist das ja nicht nur die CDU-CSU, sondern ich komme gerade aus einem Gespräch mit der Linksfraktion. Das sind ja auch nicht die üblichen Konstellationen zwischen Schwarz und Rosa. Das ist überhaupt gar nicht unsere Absicht, das, was Sie gerade geschildert haben. Die Beihilfe zur Selbsttötung soll weiter straffrei bleiben. – Es geht um die organisierte Form der Beihilfe.
Deutschlandradio Kultur: Also, wenn die organisierte Form nicht mehr gewährleistet werden soll, sondern die Beihilfe trotzdem straffrei sein, wie geht das dann praktisch?
Michael Brand: Ja, nehmen Sie zum Beispiel den Fall in der Familie, wo jemand den Sterbewilligen, seinen Partner auf dem letzten Weg begleitet.
Deutschlandradio Kultur: Wenn der sagt, ich möchte nicht mehr leben, was macht dann der Angehörige, wenn dann der Partner sagt, ich habe keine Kraft mehr, ich habe viele Schmerzen, ich möchte aus dem Leben scheiden. An wen soll er sich wenden?
Michael Brand: Also, erstens, der Suizid ist in Deutschland straffrei und das bleibt er auch, weil der Gesetzgeber gesagt hat, ja, also, bei dem Suizid, der durchgeführt worden ist, geht’s schon mal gar nicht. Aber bei dem, der schief gegangen ist, die Fälle gibt’s ja auch, hat der Gesetzgeber zu recht gesagt: Wir wollen denjenigen nicht bestrafen. Der darf nicht die Strafe als Antwort bekommen, sondern die Hilfe.
Die Beihilfe zur Selbsttötung, die sagt, dass jemand ihm auch zum Beispiel Medikamente zur Verfügung stellen darf, aber er darf sie ihm nicht verabreichen, weil, das wäre Töten auf Verlangen. Das ist in Deutschland strafbar. Es geht um die organisierte Form, ob kommerziell oder nicht kommerziell, und nicht um den Bereich, den Sie gerade angesprochen haben.
Deutschlandradio Kultur: Aber das Beispiel, das Sie ansprechen, der Partner, der dann die Beihilfe leistet, der hat ja nicht das tödliche Medikament, sondern das haben Ärzte, das haben eben gemeinnützige Organisationen wie Sterbehilfe Deutschland. Das haben ja nur diese Organisationen. Das kann ja jemand anderes gar nicht leisten.
Michael Brand: Da würde ich Ihnen empfehlen, nochmal mit Palliativmedizinern, mit Ärzten zu sprechen, wie leicht es heute ist, an Mittel ranzukommen. Derjenige, der heute den Suizid begehen will oder der sich Informationen besorgen will, der kommt gerade heute gut an Informationen heran. Ich will das nicht propagieren, aber…
Beihilfe soll straffrei bleiben
Deutschlandradio Kultur: Machen Sie aber hiermit.
Michael Brand: Nein, nein, ich propagiere es gerade nicht. Aber Sie haben eben eine Behauptung aufgestellt, dass das ja heute einer nicht wissen könnte. Heute haben Sie die Informationen sehr verfügbar. Und ich sage noch mal: Die Beihilfe zur Selbsttötung soll straffrei bleiben. Es geht um den aktiven Akt, dass ein Dritter jemanden durch Medikamente oder auf eine andere Art tötet. Das wollen wir verbieten.
Deutschlandradio Kultur: Also, dann ist es doch ganz kompliziert. Dann muss ich im Internet nachschauen, wo ich jemanden finde, der mir diese Mittel liefern kann, weil ich nicht mehr zu einem Sterbehilfeverein gehen darf, der mir möglicherweise Hilfe gibt.
Michael Brand: Also, ich bitte um Nachsicht, dass ich jetzt am Radio keine Tipps gebe, wie man am besten den Suizid durchführt. Das Thema ist wirklich ernst. Wir reden über Leute, die – ob sie erkrankt sind oder psychisch erkrankt sind – in schwierigen Situationen sind.
Ich will Ihnen vielleicht ein Beispiel nennen. Ich habe mich vor zwei Wochen mit einem Palliativmediziner drei Stunden eingeschlossen und habe genau das mal durchgespielt. Was passiert, wenn ich zu ihm komme und sage, ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr, es geht nicht mehr? Und der Arzt hat mir gesagt: Ich werde erstmal versuchen zu sagen: Pass auf, überstürze nichts. Wir treffen uns in einer Woche wieder. Du hast die Möglichkeit A und B. Da wird ganz offen drüber gesprochen.
Das ist doch nicht so, dass darüber nicht gesprochen wird, wie ein Suizid vonstatten gehen kann. Wer sich heute umbringen will, kaum einer tut’s, indem er gegen den Baum fährt, sondern da gibt’s heute viel mildere Versionen. Aber es ist nicht meine Aufgabe, darüber jetzt zu sprechen. Ich will nur über den Arzt sprechen, der mir gesagt hat: Ich rede ganz offen mit demjenigen, der das tun will. Und ich habe bislang keinen erlebt in meiner langjährigen Praxis, der es dann getan hat, weil, wir haben dann darüber gesprochen: Gibt’s nicht andere Möglichkeiten? Können wir dir nicht helfen über Medizin, über Hilfsangebote? – Es geht ja manchmal nicht nur um psychische Krankheiten oder Erkrankungen, sondern es geht auch manchmal um Einsamkeit, um verzweifelte Situationen.
Deutschlandradio Kultur: Und es geht auch um Selbstbestimmtheit immer. Bei diesem Punkt fällt auch immer das Wort Patientenverfügung. Ein ganz wichtiges Stichwort, eine Sache, die in Deutschland immer verbreiteter ist. Ist die Patientenverfügung und auch die einzige Methode, wie man hierzulande wirklich selbstbestimmt über den Tod etc. mitentscheiden darf.
Michael Brand: Also, ich glaube, es ist eine gute Möglichkeit, wir haben auch das im Deutschen Bundestag ja lange diskutiert, festzulegen, was ich gerne möchte, nämlich zum Beispiel, dass ich in einer bestimmten Situation nicht mehr möchte, dass ich noch Wiederbelebungsmaßnahmen bekomme, dass noch alles an mir gemacht wird. Das ist ja das, was ja viele Leute dann immer sagen, dass jetzt alles nochmal auf links und rechts gedreht wird. Das können Sie heute schon ausschließen über die Patientenverfügung. Es gibt auch die Möglichkeit der Vorsorgevollmacht, dass man zum Beispiel seinem Partner diese Entscheidung überlässt, weil man ja meistens auch in der Familie mit seinem Partner mal darüber gesprochen hat und eine Vorstellung davon hat, was der andere denn will.
Das heißt, die Debatte, die wir gerade führen, ist so wichtig. Deswegen ist auch das Gespräch heute bei Tacheles so wichtig, mal zu sondieren: Was ist eigentlich heute in Deutschland erlaubt? Der Suizid ist straffrei. Die Beihilfe zur Selbsttötung ist straffrei. Sie soll es auch bleiben. Wir haben über die Patientenverfügung, die Vorsorgevollmacht Möglichkeiten. – Aber doch bitte nicht organisiert, dass man hier eine Antwort kriegt, die man hinterher nicht mehr bereuen kann, weil sie endgültig ist.
Schlimme Entwicklung in Belgien
Deutschlandradio Kultur: In dieser Patientenverfügung steht eben genau drin, dass dann oft die Angehörigen entscheiden sollen, was am besten ist für den Patienten. Ist das nicht eine zu große Last, die dann diesen Menschen aufgebürdet wird?
Michael Brand: Das glaube ich nicht. Ich glaube, es nimmt sogar die Last, wenn man vorher drüber gesprochen hat, wenn man dort was festgelegt hat. Weil, man darf doch eins nicht übersehen: Diese Selbstbestimmung, die Sie so oft angesprochen haben, die ist doch in vielen Fällen gar nicht da. Wie ist es denn mit demjenigen, der Schmerzen hat oder Depressionen hat? Kann der eigentlich frei selbst bestimmen? Oder würde der vielleicht, wenn die Schmerzen – ich habe meinen Schwiegervater erwähnt, das Medikament hat geholfen- er hatte keine Vorstellung davon und den Wunsch zu sterben. Es ist gar keine freie Selbstbestimmung.
Sie müssen eins akzeptieren: Ich respektiere, dass manche die Selbstbestimmung absolut stellen. Aber es gibt einen Fakt, um den wir nicht herum kommen. Wir haben selbst nicht entschieden, wann wir auf die Welt kommen, wie wir auf die Welt kommen, ob gesund oder krank. Jeder hofft, dass er gesund ist, dass er am Ende nicht lange leiden muss, aber wir haben es am Ende nicht in der Hand – weder am Anfang noch am Ende. Deswegen ist es meine Haltung, jedenfalls meine persönliche Haltung, wir sollten auch nicht Gott spielen. Wir können das Leben nicht verfügbar machen. Wir haben nicht alles selbst in der Hand. Es ist schwer zu akzeptieren, aber es ist so.
Deutschlandradio Kultur: Ich am Schluss nochmal einen anderen Dreh geben, ein Beispiel nennen: Silvia Bovenschen, sie ist heute 68 Jahre alt, eine lebensbejahende Autorin und Literaturwissenschaftlerin, obwohl sie seit ihrer Jugend an Multipler Sklerose erkrankt ist. Sie sagt: „Das Wissen, meinem Leben selbst ein Ende setzen zu können, das würde mir schon Halt geben. Ob ich es dann mache, das ist nochmal eine ganz andere Frage.“ – Also, das Wissen ist das Gute im Leben und nicht nur für die letzten Stunden. Da könnte man den Menschen doch helfen, indem sie wissen, dass sie am Ende ihrer Tage vielleicht Hilfe bekommen.
Michael Brand: Also, ich würde dem zustimmen, was die Dame gesagt hat. Es ist ja nicht so, dass das Leben immer gerade verläuft. Und auch das Wissen darum, dass einem vielleicht einer hilft. Aber jetzt stelle ich nochmal die Frage: Was ist eigentlich die Hilfe? Ist es die Hilfe beim Sterben oder die Hilfe zum Sterben?
Wir wollen mit unserer Initiative erreichen, dass eben nicht geholfen wird zum Sterben, sondern beim Sterben. Ich mache mir als junger Mann auch Gedanken darüber und hoffe, dass – wenn es bei mir mal soweit ist – mir auch jemand zur Seite steht. Das ist völlig natürlich. Aber ich hoffe nicht, dass einer mit seinem Exit-Koffer kommt, mir eine Spritze hinlegt und mir die in den Arm schießt, weil, das halte ich für eine irre Vorstellung.
Und dass jetzt in Belgien vor Kindern nicht mehr Halt gemacht wird, dass schon die nächste Initiative kommt, die Demenzkranke dort einbezieht, ich finde das schlimm.
Deutschlandradio Kultur: Selbstbestimmt leben, fremdbestimmt sterben. Wer entscheidet am Schluss über Leben und Tod? Das war Tacheles, heute mit dem CDU-Politiker Michael Brand, dem Vorsitzenden des Bundestagsausschusses für Menschenrecht und humanitäre Hilfe, der in den kommenden Monaten eine fraktionsübergreifende Mehrheit für die Neuregelung der Sterbehilfe organisieren soll. Herr Brand, wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.
Michael Brand: Danke.