Diskussionen ohne starres Lernziel

Von Josefine Janert |
Auch an Berufsschulen gibt es Religionsunterricht. Im Berufskolleg Ulrepforte in Köln bombardiert Pfarrer Anselm Groth die Schüler aber nicht mit Bibelversen - er bespricht mit ihnen lieber Themen aus Politik und Alltag.
Dominique: "Also es gibt Zeiten, also da denk ich schon: Gott gibt es, der beschützt mich auch und alles Mögliche, also. Es gibt aber auch Zeiten, da denkt man: Mmmh, da interessiert sich keiner für dich. Bin zwar getauft und bin auch zur Kommunion gegangen, aber mehr hab ich auch nicht mitgemacht. Meine Eltern haben mir die freie Wahl gelassen, und ich hab mich einfach dagegen entschieden."

Montagmorgen im Berufskolleg Ulrepforte in Köln. 26 junge Männer warten auf ihren Religionsunterricht. Sie lernen einen Beruf, der etwas sperrig Fachkraft für Möbel-, Küchen- und Umzugsservice genannt wird. Einer von ihnen ist der 19-jährige Dominique. Er ist katholisch. Obwohl er mit der Kirche sonst nichts zu tun hat, nimmt er, wie die anderen auch, am Religionsunterricht teil. Einen Widerspruch sieht er darin nicht:

"Das war auch mal schön, wenn man in der Klasse, halt ohne drangenommen werden, jeder mal was sagt. Das passt schon was besser als immer dieser strukturierte Unterricht."

Strukturierter Unterricht – das sind Mathe, Deutsch, Holztechnik, Montage und andere Fächer, die die angehenden Fachkräfte an zwei Tagen in der Woche belegen. An den übrigen drei Tagen arbeiten sie in Umzugsunternehmen und Küchenstudios. Den Religionsunterricht gibt Anselm Gnoth, ein evangelischer Pfarrer. In ausgewaschenen Jeans steht der Mann mit dem schulterlangen grauen Haar jetzt vor der Klasse. Er begrüßt sie kurz, dann kommt der 46-Jährige zur Sache:

"Kennt von Euch einer eine Situation, von der Ihr sagt: Boah, da hab ich mal so richtig Glück gehabt? Schwein gehabt, Jost?"

Jost: "Ja, mein Bruder hätt' mich beinah' mal mit nem Trecker platt gemacht. Der ist halt rückwärts gefahren, und ich stand halt hinter dem, hinterm Trecker. Und da hat er sich umgedreht, hat mich gesehen und gesagt: Mmmh."

Anselm Gnoth: "Und Jost, wie würdst Du das nennen? Ich hatt' ja gefragt: Hat jemand richtig Glück gehabt?"

Jost: "Ist auf jeden Fall so ne Randerfahrung. Man merkt, dass es in den Fingerspitzen kribbelt, und man weiß: Alles klar. Es hätt' jetzt auch vorbei sein können."

Anselm Gnoth teilt Kopien eines Artikels aus dem "Spiegel" aus. Auch er handelt vom Glück, genauer von dem kroatischen Musiklehrer Frane Selak. Im Laufe seines Lebens überlebte dieser Mann sieben Unfälle und gewann schließlich 800.000 Euro im Lotto. Die Schüler sollen den Text lesen und Passagen unterstreichen, die ihnen wichtig sind.

Anselm Gnoth: "Tim, was hast Du beim Lesen gedacht?"

Tim: "Also, das ist unglaublich, einfach."

Schüler: "Von der Seite des Autors hast du immer Begriffe wie Glück, Unglück, Glück, Unglück. Also Wertungen da drin."

Jetzt schaltet Anselm Gnoth den Overheadprojektor ein. Er hat eine Tabelle vorbereitet. Sie hat zwei Spalten, die die Schüler mit ihren Überlegungen füllen sollen. Auf der einen Seite soll stehen, wie der Journalist, der den Artikel geschrieben hat, Frane Selaks Schicksal bewertet. Auf die andere Seite kommt, was Frane Selak selbst denkt.

Schüler: "Frane sieht das natürlich alles religiös. Also er denkt, das ist alles von Gott so gedacht irgendwie. Er wird von Gott die ganze Zeit so geprüft, ob er auch gläubig ist. Der Autor sieht das eher etwas nüchterner, also in Anführungsstrichen. Beschreibt das halt als Glück und Unglück. Oder halt Pech."

Schüler: "Ich glaub nicht, dass Gott irgendwie so lächerliche Prüfungen braucht."

Schüler: "Märchen."

Anselm Gnoth: "Kannst mal sagen, warum das für Dich ein Märchen ist? Warum das ein guter Begriff ist?"

Schüler: "Weil das kaum glaubwürdig ist, was dem wirklich passiert ist, die ganzen Unfälle."

Anselm Gnoth hält sich mit Wertungen zurück. Auch die Bibel und Jesus erwähnt er nicht. In der Diskussion geht darum, was Schicksal ist und was göttliche Fügung. Einigen können sich die Schüler nicht.

Anselm Gnoth: "Eine Frage, die ich Euch mitgeben will: Was hat eigentlich dieses Märchen, diese Geschichte vom Glück, oder wie auch immer Ihr sie nennen mögt, was hat die eigentlich mit Euch zu tun? Nehmt das mal hier als Frage mit, bis wir nächste Woche wieder Religion haben."

Nachdem die Schüler in die Pause entschwunden sind, packt der Pfarrer langsam seine Sachen zusammen. Erschöpft wirkt er, doch auch zufrieden. Seit zwölf Jahren ist Gnoth schon Religionslehrer an Berufsschulen. Zu Beginn jedes Schuljahres lernt er alle Namen der 400 Schüler auswendig, die neu in seinen Unterricht kommen. Jeden Einzelnen mit dem Vornamen anzureden, das sei seine Form der Wertschätzung, erklärt Anselm Gnoth. Nach ihrer Religion fragt er seine Schüler jedoch nicht.

Anselm Gnoth: "Der evangelische Religionsunterricht ist einer, der ein offener Unterricht ist, in dem alle Religionen, Konfessionen eingeladen sind, neben der evangelischen, und dass da ein Exklusivcharakter entsteht, ist nicht die Absicht."

Aus Gesprächen weiß Gnoth jedoch inzwischen, dass in dieser Klasse überwiegend evangelische und katholische Schüler sitzen. Streng gläubig sind nur ganz wenige. Viele gehören keiner Konfession an. Zwei Muslime gibt es. Bei den angehenden Gebäudereinigern, die Gnoth ebenfalls unterrichtet, ist der Anteil muslimischer Schüler höher.

Anselm Gnoth: "Der Religionsunterricht ist eigentlich sehr dadurch geprägt, dass diese Muslime sehr stark reklamieren, dass es explizit Religionsunterricht sein muss. Ne? Sie sagen: Das ist doch Religion, und da darf man das und darf auch dieses nicht. Und sie fordern auch die Christen oder die Menschen, die von sich sagen: Ich bin zwar kein Christ, aber bin mal getauft worden, sehr stark dazu heraus, auch ein eigenes Bekenntnis abzulegen, was sie eigentlich denn glauben und denken. Und wenn sich dann herausstellt, dass vielfach manchen Christen es nun auch sehr schwerfällt, über ihre Religion zu sprechen, also die religiöse Sprache abhanden gekommen ist und auch Wissen über Religion, dann regt das noch mal sehr stark dazu an, christliche Traditionen nachzufragen und natürlich auch muslimische im Vergleich."

Gerade weil das Vorwissen vieler Schüler so gering ist, will Gnoth sie nicht mit Bibelversen bombardieren. Lieber spricht er über Themen aus Politik und Alltag: den Ausstieg aus der Atomenergie, die Lebensmittelskandale oder die Frage: Was ist eigentlich mein Traumberuf? Oft geht es dabei um die Verantwortung, die jeder trägt – als Bürger, als Konsument, als Mensch. Gnoth hat mit seinen Schülern auch schon besprochen, warum und wie wir christliche Feiertage begehen.

Anselm Gnoth: "Ich hab gelernt, dass Religionsunterricht keine Vermittlung von theologischen Inhalten ist, die abfragbar wären, sondern ich hab gelernt, dass es wirklich um Lebenshaltungen geht, die sich mit der Zeit entwickeln müssen und entwickeln können. Und dass ich letztlich gar nicht in der Hand habe, in meinem Unterricht diese Lebenshaltungen in irgendeiner Weise wirklich als Lernziel noch einmal zur Kenntnis zu bekommen, ob's ne Gesinnungswandlung stattgefunden hat oder eben auch nicht. Und das ist manchmal schwierig, weil ich mich natürlich auch frage nach einem Acht-Stunden-Tag: Was haben denn die Schüler jetzt mitgenommen, heute? Und dann gibt es Tage, an denen ich denke: Das ist vielleicht erst mal gar nicht viel, und gleichzeitig denk ich: Schätz' auch das Wenige nicht so gering."

Im Erdgeschoss warten Schüler auf die nächste Stunde. Den meisten gefällt der Religionsunterricht von Anselm Gnoth.

Schüler: "Also, ist mal was anderes als so der Standardunterricht. Is mal ne Abwechslung. Es bezieht sich nicht alles so auf Religion und Bibel, sondern ist auch viel, was mit Leben zu tun hat und Lebenserfahrung und so. Kann nicht schaden."

Schüler: "Man kriegt viel vom Leben mit, unterhält sich mit anderen aus ner anderen Altersgruppe, nicht nur meiner Altersgruppe."

Tino Treichel: "Ich muss dazu sagen, dass ich n Onkel habe, der sehr christlich ist. Wir beide hatten gleichzeitig n Kreuzbandriss. Dass ditt nicht verheilt ist und hier und da und mein Onkel auch. Und dann sagt er immer zu mir: Ja, Tino, geh doch mal in die Kirche, die helfen Dir doch da! Und innerlich hab ich immer gedacht: Die können mir doch auch nicht helfen, die können ditt Knie auch nicht ganz machen."

Tino Treichel stammt aus Berlin. Nach sechs Jahren Bundeswehr erlernt der Maler und Lackierer jetzt seinen zweiten Beruf. Obwohl seine Eltern beide evangelisch sind, wurde er nicht getauft. Warum das so ist, weiß Treichel nicht. Aber zum Religionsunterricht geht er.

Tino Treichel: "Letztes Mal war Arbeit das Thema. Hatten wir 30 Sekunden Zeit, uns Gedanken machen zu das Wort Arbeit. Es gibt ja hier bei uns in der Klasse welche, die 16, 17, 18, sind, die denken noch nicht so viel: mmmh, arbeiten, mmmh, na gut. Und ich muss ja arbeiten für meine Frau und für mein Kind. Und denn seh ich natürlich das anders als ein 16-, 17-Jähriger. Und denn war'n wa letzte Woche doch ganz schön, jetzt nicht Streit, aber doch schön diskutiert ham wir da."