Diskussionskultur

Gefühle ersetzen keine Argumente

03:57 Minuten
Eine fröhliche Frau und ein fröhlicher Mann sind im Gespräch, zwischen ihnen fliegen Sprechblasen. (Illustration in rot und schwarz)
Der Publizist Markus Ziener wünscht sich Diskussionen ohne Angst, das Falsche zu sagen. © imago / Oivind Hovland
Ein Kommentar von Markus Ziener · 16.08.2021
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Gefühle und gefühlte Meinungen nehmen in Debatten immer mehr Raum ein, beobachtet Markus Ziener. Doch wer emotional argumentiere, grenze unbequeme Standpunkte einfach aus, meint der Publizist. Für einen gesunden Diskurs sei dies fatal.
Ich gestehe: Ich reagiere allergisch auf den moralischen Zeigefinger. Ich mag es nicht, wenn man mir ex cathedra sagt, was richtig und was falsch ist. Und mir gefällt schon gar nicht, wenn das logische Argument durch Haltung oder Gefühl ersetzt wird. Ich will verstehen, warum etwas so oder anders ist und will dann selbst meine Schlüsse daraus ziehen.
Nur scheint es mir derzeit mit der Logik nicht mehr so weit her zu sein. Vielmehr stehen Gefühle hoch im Kurs, Empfindungen und das Moralisieren. Wenn etwas lange dauert, dann war es eine "gefühlte Ewigkeit", auch wenn es tatsächlich nur zwei Tage waren. Wenn etwas sachlich nicht verstanden wird, dann ist es "gefühlt ungerecht". Und wenn es ein bisschen kalt draußen ist, dann hat es "gefühlte minus 20 Grad".
Das Schöne am Gefühl ist, dass es sich nicht überprüfen lässt. Gefühle sind rein subjektiv, sie entziehen sich jeder Logik und jeder Nachweisbarkeit. In einer Diskussion lässt sich daher schnell mal verkünden, dass sich etwas "falsch anfühlt" oder dass gerade "Gefühle verletzt" wurden. Derjenige, der so argumentiert, kann sich sicher sein, dass sich seine Einlassungen nicht widerlegen lassen.

Diskussion auf persönlicher Ebene

Das ist nicht nur ziemlich praktisch. Es verlagert die Diskussion auch auf eine persönliche Ebene, bei der ganz andere, viel schwerer einschätzbare Grenzen gelten. Wer so argumentiert, der baut eine Mauer um sich auf. Weil dann jedes weitere Gegenargument sogleich ein Angriff auf die Person ist. Und das will gut überlegt sein. Bei Freunden allzumal. Also halten die dann schon mal den Mund, bevor sie einen Streit riskieren.
Nicht viel anders ist es, wenn zu viel Moral ins Spiel kommt und die Welt in Gut und Böse unterteilt wird. Nicht, dass ich nicht verstünde, warum es sinnvoll ist, dass wir unseren Lebensstil verändern, um das Klima und die Erde zu retten. Oder warum unser hoher Fleischkonsum ein Problem ist. Oder warum es im besten Interesse aller ist, wenn wir bezahlbaren Wohnraum schaffen. Ich bin mit all diesen Zielen einverstanden. Nur über die Wege zu diesen Zielen wünsche ich mir eine offene Debatte. Und keine, bei der bestimmte Meinungen sofort ausgegrenzt werden.
Denn nicht jeder, der Zweifel an der Elektromobiliät hat, ist ein Klimaleugner. Nicht jeder, der den Mietendeckel in Berlin ablehnte, ist ein Freund von Miethaien. Und auch nicht jeder, der mit dem Gendern ein Problem hat, ist deshalb ein reaktionärer Fortschrittsverweigerer. Als gäbe es nur noch schwarz oder weiß, werden die Teilnehmer in einer Debatte in Schubladen gesteckt. Im Nu ist man dann ein "kalter Kapitalist", ein "Neoliberaler" oder noch schlimmer: ein Rechter oder gar ein Nazi.

Die Angst, das Falsche zu sagen

Ich habe Freunde und Bekannte, die offen zugeben: "Zu bestimmten Themen schweige ich inzwischen. Ich kann mir die Prügel in den sozialen Medien und den möglichen beruflichen Schaden nicht leisten."
Für die Debatte in unserer Gesellschaft ist diese Abwesenheit kluger Köpfe ein herber Verlust. Und für die Entscheidungsfindung. Denn die besten Ideen und Entwicklungsstrategien werden geboren, wenn ohne Angst, das Falsche zu sagen, diskutiert wird. Wenn nicht jedem, der im besten Sinne des Wortes "quer" denkt, sogleich alle schlechten Absichten dieser Welt unterstellt werden.
Gibt es dennoch rote Linien? Gibt es Grenzen des Sagbaren? Selbstverständlich gibt es die. Und in Deutschland wissen wir doch ziemlich genau, wo diese verlaufen. Sie sind definiert von unserer Geschichte und sie stehen im Grundgesetz an prominenter Stelle, in Artikel 1 im ersten Satz. Dort heißt es: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Mehr als diese sechs Worte braucht es nicht, um zu wissen, was geht und was nicht.

Markus Ziener, ist Autor, Journalist und Hochschulprofessor in Berlin. Er war Korrespondent in Moskau und Washington und berichtete mehrere Jahre aus dem Mittleren Osten. Zuletzt erschien von ihm der Roman "DDR, mon amour" (PalmArtPress, Berlin 2018)

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