Fakten vs. Meinung

Warum wir nicht verlernen dürfen, uns zu streiten

Ein Paar hinter einer Karte, das in verschiedene Richtungen möchte.
Wenn jeder auf seine Weise recht haben kann, ist das nicht gut für die Diskussionskultur, findet Michael Andrick. © Getty Images / Henrik Sorensen
Ein Einwurf von Michael Andrick · 29.04.2022
In einer Welt totaler Meinungsfreiheit ist scheinbar für jede Weltsicht Platz. Der Philosoph Michael Andrick kritisiert das: Wenn Meinungen und Tatsachen verschwimmen, bedrohe das nicht nur die Diskussionskultur, sondern auch die offene Gesellschaft.
„Jeder hat seine eigene Realität!“ „Das ist alles relativ.“ Oder auch: „Das ist nur deine Perspektive – man kann das auch ganz anders sehen!“ Wer so etwas sagt, will meist einfach tolerant und freundlich sein, sich nicht verkämpfen und friedlich auseinandergehen.
Und doch ist dieser Schachzug bemerkenswert. Anstatt sich mit den Gründen des anderen zu befassen und die eigene Meinung dabei zu überprüfen, beschwichtigt man lieber mit Relativismus: „Sieh mal“, so wird uns versichert, „ich habe recht und du hast recht, jeder auf seine Weise, jeder von seinem Standpunkt aus betrachtet! Warum also streiten?“
Bei unwichtigen Themen hat diese Haltung Charme: Wer mag schon Leute, die für einen kleinen Spießertriumph im Rechthaben an der Kaffeetafel Online-Recherchen betreiben?

Wissen, dass es Wissen gibt

Toleranz signalisieren und Unterschiede gelten lassen ist das eine, das andere aber sind die Tatsachen. Es stimmt eben auch einfach, dass in der Tropfsteinhöhle die Zacken von oben Stalaktiten, die von unten Stalagmiten heißen. Man kann sich in dieser Frage irren.
Wir wissen also, dass es Wissen gibt: Sätze, die unabhängig von unserer Meinung gelten. Es hat nicht jeder seine „eigene Realität“, nicht jede Ansicht ist nur eine Ansicht. Manche sind wahr, andere falsch. Das ist zwar banal, aber umso wichtiger zu betonen, je öfter es um des lieben Friedens willen unterschlagen wird.
Denn hätte wirklich jeder seine „eigene Realität“, dann hätten wir kein gemeinsames Weltverständnis. Wir könnten uns nicht gemeinsam orientieren, sondern uns nur subjektive Eindrücke berichten.
Das reicht für das Miteinander freier Menschen aber nicht aus, solange man nicht bereit ist, ebenso fröhlich und unbeschwert die „Perspektiven“ von Umweltschützern und Neonazis gelten zu lassen.

Relativismus kann zerstörerisch werden

Denn Relativismus ist eine Gewissensberuhigungsdroge, ein moralisch-politisches Schlafmittel erster Ordnung. Wie jede Drogensucht kann auch diese ruinös werden, in diesem Fall für die offene Gesellschaft. Wieso?
Nicht-Relativisten wissen lauter unannehmliche Dinge ganz genau: zum Beispiel dass der Klimawandel sozialen Wandel nahelegt, oder dass innenpolitisch nach den letzten Jahren viel Ekliges aufzuarbeiten ist. Jeder, der Bescheid wissen will, hat ein deutliches Krisenbewusstsein.
Die Gewissensnot, vielleicht selbst Teil der Probleme zu sein, behebt der Relativismus: Denn gibt es bloß Ansichten, nicht aber moralische Wahrheiten, denen Grundrechte jedes Menschen entsprechen, so gibt es keine wirklichen Pflichten.
So wird der Relativismus zum Problem für unsere politische Kultur. Demokraten müssen einander ihre Ansichten erklären können. Dazu braucht es geteiltes Wissen, also auch den kritischen Austausch darüber, was eigentlich der Fall ist, was also wahr ist.

Wahrheit darf nicht egal sein

Soll aber jeder „auf seine Weise“ recht haben dürfen und Wahrheit egal sein, so bleibt nur Meinungsmeteorologie: Man probiert seine Ansichten aus und beobachtet, wie das Umgebungswetter sich verändert.
Am Ende unterwirft man sich einer der Ansichtsfraktionen – bevorzugt der stärksten, das ist am sichersten. Die Autorität des besseren Grundes hat abgedankt, eigenständiges Nachdenken wird verlernt.
Menschen in relativistisch geprägten Gesellschaften werden deshalb leicht Opfer schon einfacher Demagogie und folgen den Ansagen der stärksten oder der lautesten Fraktion bis tief hinein in selbst gemachte Katastrophen. Sehen Sie sich um.
Sorgen wir uns lieber um die Wahrheit, auch wenn das Streit bedeutet. 

Michael Andrick ist Philosoph – und Kolumnist der „Berliner Zeitung“. In seinem Buch „Erfolgsleere“ bietet er eine Erklärung für massenweisen, fraglosen Konformismus an.

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