Diskussionskultur

Weniger Meinung wagen

Ein Mann und eine Frau schreien sich per Megafon an (Illustration)
Gefühlte Meinungen nehmen in Debatten immer mehr Raum ein. Auch weil soziale Medien einem schnell Einschätzungen zu verschiedenen Themen abverlangen, sagt der Journalist Timo Rieg. © imago images / fStop Images / Malte Mueller
Ein Kommentar von Timo Rieg |
Sobald die eigene Meinung über einen Sachverhalt feststeht, will man nur noch bestätigt bekommen, was man ohnehin glaubt. Auf der Strecke bleibt da neben der Erkenntnis auch die Diskussionskultur, findet der Publizist Timo Rieg.
Es ist mindestens stressig, zu allem eine Meinung haben zu müssen. Besonders drastisch nötigen uns Social-Media-Angebote: Im Sekundentakt sollen wir Zitate, Fotos, Videos oder Karikaturen gut oder schlecht finden. Wir sind gefordert, uns zu entscheiden: Widerspruch oder Zustimmung, Unverschämtheit oder sehr gut, lecker oder igitt.
Auch im analogen Leben werden uns vielfältige Meinungsbekundungen abverlangt. Einer meiner Nachbarn war da schon lange vor Instagram und Twitter besonders hartnäckig. Sobald wir uns in Hörweite begegneten, rief er mir entgegen: Und, was hältst du von …
Und dann kam irgendein Politikername oder ein Schlagwort aus den Nachrichten. Oft genug wusste ich überhaupt nicht, um was es gehen sollte, und hatte ich eine Ahnung, so doch noch lange keine Meinung.

Schnelle Meinung, keine neuen Erkenntnisse

Das Problem mit der Meinung geht ja in zwei Richtungen: Zum einen steht die schnell gebildete Meinung auf wackligen Füßen. Zum anderen schmälert oder ersetzt die Meinung das Erkenntnisinteresse.
Eindrücklich aus jüngerer Zeit ist der Fall Gil Ofarim. Der Musiker hatte von einer antisemitischen Diskriminierung berichtet. Millionen Menschen taten dazu sofort ihre Meinungen kund, Spitzenpolitiker eingeschlossen. Ein halbes Jahr später stellen die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft die Sachlange ganz anders da. Wieder gibt es Meinungsbekundungen en masse, Spitzenpolitiker eingeschlossen, obwohl der Fall juristisch noch gar nicht geklärt ist.
Es ist unvermeidbar, dass wir zu vielen Ereignissen sehr spontan ein Gefühl entwickeln: Wer recht und wer unrecht haben wird, was lauter und was unlauter ist. Für eine wirkliche Meinung sollte uns das nicht genügen. Selbst bei einem geständigen Mörder wird monatelang ermittelt, das Gericht nimmt sich meist etliche Verhandlungstage Zeit, bis es die Sachlage für so umfassend erörtert hält, dass ein Urteil gesprochen werden kann.

Entschleunigung bei der Meinungsbildung

Als ich in der Schulzeit anfing, den „Spiegel“ zu lesen, merkte ich, dass vieles in Artikeln schon bedeutungslos war, bis ich gegen Ende der Woche bei ihnen anlangte. Da in diesem Nachrichtenmagazin Bericht und Kommentar eng und oft nicht mehr trennbar verwoben sind, empfand ich es als Entlastung, ganze Seiten überblättern zu können, weil der Lauf der Dinge sie bereits überholt hatte.
Ich musste seltener schnell übernommene Meinungen revidieren oder ihnen entgegenstehende Fakten bezweifeln. Deshalb machte ich diese Entschleunigung zum Prinzip: Der „Spiegel“ wird seither frühestens nach einer Woche Reifezeit gelesen.
Mit meiner Lokalzeitung verfahre ich ähnlich, aber zweischrittig: Am Morgen einmal durchblättern, um die tatsächlich aktuell relevanten Veranstaltungen und Geschehnisse herauszupicken. Einzelne Themen schaue ich mir dann erst Tage später an, natürlich von neu nach alt, also entgegen der Chronologie.
Das spart nicht nur Zeit, es spart auch Meinung. Manches hat sich dann schlicht erledigt oder als für mich irrelevant entpuppt. Zu anderem liegen bis dahin verschiedene Sichtweisen vor, sodass ich mich informiert fühlen kann, ohne eine eigene Meinung haben zu müssen.

Mehr als das Bekenntnis zu einer Fahne

Selbst wenn man sich als Autor mit seinen Recherchen und Überlegungen an die Öffentlichkeit wendet, muss man nicht zu jedem Aspekt eine Meinung haben. Aber über Einzelnes hat man lange sinniert.
Mich verwundert dann immer wieder, wie wenig davon einigen im Publikum zu ihrer Meinungsbildung genügt: "Habe nur den ersten Absatz gelesen", beginnt dann eine typische Kritik im Internet. Immer wieder müssen Redaktionen ihre Kritiker etwa auf Facebook fragen, ob sie den kommentierten Beitrag überhaupt zur Kenntnis genommen haben.
Gut Ding will Weile haben, das gilt auch für Meinungen, die mehr sein sollen als das Bekenntnis zu einer Fahne, zu einem Club, einer Partei. Mir jedenfalls ist es meist sehr sympathisch, wenn jemand bekundet, zu irgendetwas – noch – keine Meinung zu haben. Geht es mir ebenso, wird die Diskussion besonders ertragreich.

Timo Rieg ist Buchautor und Journalist. Seine zuletzt erschienenen Bücher sind „Demokratie für Deutschland“ und der Tucholsky-Remake „Deutschland, Deutschland über alles“. Zum Thema „Bürgerbeteiligung per Los“ bietet Timo Rieg zudem eine Website mit Podcast an.

Porträtaufnahme des Autors Timo Rieg
© privat
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