Diversität in der Philosophie
Philosophie, ist das nicht die Disziplin mit dem Bart? – Klischees sind langlebig, sagt der Philosoph Martin Lenz. Die Galerie kanonischer Köpfe ist es auch. © Getty Images / akinbostanci
Wer wird gelesen, wer gehört dazu?
31:18 Minuten
Wie divers ist die Philosophie? Den Kanon dominieren nach wie vor europäische weiße Männer. Der Betrieb ist in puncto Geschlecht, Herkunft und Klassenzugehörigkeit bemerkenswert homogen. Dafür gibt es handfeste Gründe, sagt der Philosoph Martin Lenz.
Ist die Geschichte der Philosophie wirklich nur eine Ansammlung "toter weißer Männer"? Am Kanon der für Seminare, Lehrpläne und öffentliche Debatten maßgeblichen Texte wird seit einigen Jahren immer häufiger Kritik laut: Der Blickwinkel sei viel zu eng. Weibliche Denkerinnen und People of Color etwa kämen mit ihren Sichtweisen zu wenig vor. Außereuropäische Perspektiven würden ausgeblendet.
Wettbewerb um wenige Stellen
Und auch um die Diversität derjenigen, die Philosophie betreiben, sei es nicht gut bestellt. Im Betrieb geben nach wie vor überwiegend weiße Männer den Ton an, meist europäischer Abstammung, so lautet ein Vorwurf. Zudem gelangten im Wettbewerb um die wenigen Stellen an Universitäten meist Menschen mit einem bildungsbürgerlichem Hintergrund nach vorn, Bewerberinnen und Bewerber aus anderen sozialen Schichten hätten das Nachsehen.
Der Philosoph Martin Lenz, Professor an der Universität Groningen in den Niederlanden, hat selbst zwiespältige Erfahrungen mit Klassismus im akademischen Betrieb gemacht. In einem kurzen Text für den Blog "FirstGenPhilosophers - Philosophie in erster Generation" der Freien Universität Berlin blickt er auf seinen Bildungsweg zurück: Wie oft er, dessen Eltern nicht studiert haben, versucht war, seine Herkunft zu verbergen, sei ihm erst im nachhinein bewusst geworden.
Abbau von Chancengleichheit
"Als ich studiert habe, standen die Zeichen auf Durchlässigkeit", sagt Lenz. In den 1970er- und 80er-Jahren habe man "aktiv versucht, Leute aus allen Schichten für die Universität zu gewinnen." Diese Entwicklung werde jedoch inzwischen im Namen von "Eliten", "Exzellenz" und Wettbewerb stark zurückgedrängt. Immer öfter werde heute international der Maßstab der "Employability" angelegt, also gefordert, dass Studium müsse optimal auf einen konkreten Beruf vorbereiten, so Lenz. Das klassische Bildungsideal weiche dadurch mehr und mehr einem "Ausbildungsideal".
Was den Kanon philosophischer Texte und Themen betrifft, so beobachtet Lenz, dass Diversität in der Lehre selbst durchaus schon weiter fortgeschritten sei. Für seine Studierenden in Groningen sei es "inzwischen völlig selbstverständlich", über den Horizont westlicher Philosophie hinaus zu schauen. "Die werden damit groß, dass Philosophie ein globales Geschehen ist", sagt Lenz.
Zu wenig Anreize für Entdeckungen
Dass die Aufnahme neuer Stimmen in den Kanon nur sehr langsam voranschreite, habe indes auch ganz praktische Gründe, betont Lenz. Zum Beispiel profitierten bereits etablierte Galionsfiguren der Philosophiegeschichte schlicht davon, dass ihre Texte erschlossen, übersetzt, kommentiert und von reichhaltiger Sekundärliteratur flankiert, mithin also leicht zugänglich seien.
Um bislang wenig beachtete Texte zu erschließen und herauszugeben, brauche es hohe Qualifikationen, Erfahrung und einen großen Zeitaufwand. Diese wichtige Arbeit werde im akademischen Betrieb aber kaum honoriert. Feste Stellen oder gar Professuren verdiene sich damit niemand. Ein weiterer Faktor für die Zementierung des Kanons seien tendenziell konservative Berufungsverfahren an Hochschulen.
"Wir wählen unsere Vergangenheit"
Die gegenwärtigen Debatten über Diversität führten immerhin vor Augen, dass ein Kanon nie in Stein gemeißelt sei, sagt Lenz: "Unsere Erinnerungskultur ist nicht auf Vollständigkeit angelegt. Wir versuchen nicht, an alles zu denken, sondern wir versuchen, an das zu denken, was wir für wichtig halten." Und die Frage, was uns wichtig erscheint, unterliege durchaus wechselnden Einsichten und Interessen, so dass wir in diesem Sinne "unsere Vergangenheit wählen".
Wenn wir uns heute also zum Beispiel einen Denker wie David Hume nicht nur als "einen großen Philosophen" ins Gedächtnis rufen wollen, sondern uns um ein differenzierters Bild bemühen und "eben auch daran erinnern, dass das jemand ist, der in Sklavenhandel involviert ist, dann ist das auch eine Entscheidung, wie wir uns erinnern wollen".
(fka)