Dmitri Prigow: „Katja chinesisch“

Eine Kindheit in China und Russland

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Buchcover zu „Katja chinesisch“ von Dmitri Prigow.
© Suhrkamp Verlag

Dmitri Prigow

Christiane Körner

Katja chinesisch. Eine fremde ErzählungSuhrkamp, Berlin 2022

334 Seiten

24,00 Euro

Von Jörg Plath |
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Drachen, herausgeschnittene Zungen und gigantische Karpfen: Dmitri Prigow erzählt zeitlos-schwebend von einer russischen Emigrantenkindheit im China der 40er Jahre. Dazu stößt ein sowjetischer Erzähler, der ganz ähnliche Erfahrungen kennt.
Fünf Jahre alt ist das Mädchen und weiß schon alles, auch aus der Zeit vor ihrer Geburt. Selbst die Erinnerungen ihres Vaters kennt sie. Katja in Dmitri Prigows „Katja chinesisch“ ist eine Gedächtniskünstlerin. Mit ihr erzählt der 2007 verstorbene russische Avantgardekünstler vom Leben unter einem Glassturz kurz vor dem Bersten: Russische Emigranten wohnen in einem Viertel der chinesischen Stadt Tientsin, der so genannten Konzession, zusammen mit meist westeuropäischen Ausländern, die unter dem Schutz von Sondergesetzen Handel treiben.

Zeitlos schwebende Erzählung

„1944 oder 1945“ beginnt die aus dem Nachlass erstmals übersetzte „fremde Erzählung“, an ihrem Ende, nach dem Tod Stalins 1953, reist Katja ins usbekische Taschkent aus, und vorher ist ein wenig von späteren Jahren zu lesen, in denen die junge Frau zum Entsetzen der Komsomolzen Minirock in Moskau trägt.
Die Jahreszahlen und der Name des Mädchens sind der Erzählung allerdings nur mit sehr großer Aufmerksamkeit zu entnehmen. In ihr herrscht die ewige Gegenwart einer Erinnerung, der auch die Zukunft zugänglich ist.

Unzählige Kindheitserinnerungen

Im Gedächtnis bleibt dem nur einmal Katja genannten Mädchen alles „wie aufflammende, rausgerissene, grell und festlich beleuchtete, nahezu theatralische Szenen“: japanische Soldaten mit mattglänzenden Wangenknochen wie Billardkugeln, deren grausame Besatzung Chinas bald endet; furchtbare Drachen mit vielen kleinen Füßen; Löcher im Gras, in denen Hände nach Golfbällen greifen; andere Hände, die am Meeresstrand an den Füßen des Mädchens ziehen; gigantische, uralte Kaiserkarpfen; die winzigen, einst gebundenen Füße des Kindermädchens, der Njanja; lallende Menschen mit abgeschnittenen Zungen; „zum Umfallen“ leckeres Eis aus der deutschen Konditorei; fliegende Katzen aus Stein und ein Esel mit einem Hut auf dem Kopf.

Zwischen Sowjetunion und China

Nur knapp Erwähnung finden die englische Mutter, der russische Vater und die Geschwister. Das Mädchen saugt mit allen Sinnen die Welt auf.
Raffiniert wird dieses schwebende und ziellose Kaleidoskop durch die Kommentare des älteren Erzählers. Ja, dies und das habe auch er so oder ähnlich erlebt, meldet er sich fortwährend zu Wort und zögert keinen Augenblick, davon zu erzählen. Mit seinen Assoziationen und Geschichten tritt eine sowjetische Kindheit und Jugend neben die exilchinesische, und sieh da: Beide sind so verschieden nicht, zumal nach Mao Tse-tungs Sieg 1949, als sich die freundschaftlichen Bande zwischen der Volksrepublik und der Union der Sowjetrepubliken festigen. Was die Exilanten so sehr stranguliert, dass sie China verlassen.

Alles flimmert

Alle Geschichten des Erzählers enden schulterzuckend: „schwer zu sagen“, „vergessen wir’s“, „Das weiß man ja“ oder „Wir machen dann mal weiter“ nach der Erwähnung eines Toten. Ein robuster, lebenserfahrener Witz, grundiert durch die gleich auf der ersten Seite erwähnten Kriege, rückt Exotik und Sentiment zurecht.
Die Übersetzerin Christiane Körner meistert die beständigen Tonwechsel und beträchtlichen Fallhöhen wunderbar und erklärt sie im Nachwort mit dem prigowschen Begriff des Flimmerns. Sich selbst hat der Autor wohl in einem Cameo-Auftritt als Ex-Ehemann des erwachsenen Mädchens untergebracht: ein unsympathischer Grobling mit „gewissem Charme“ dank „Jugend, Moskau, Künstler, Sowjetmacht, Dissidenten, Underground, Avantgarde. Alles klar.“
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