Dmitrij Kapitelman: "Eine Formalie in Kiew"
Hanser Berlin, Berlin 2021
176 Seiten, 20 Euro
Der Wille zum Glück, vor langer Zeit zerbröselt
06:29 Minuten
Im neuen Roman von Dmitrij Kapitelman berichtet ein Ich-Erzähler von seinen seelisch verkümmernden Eltern. Einst waren sie aus der Ukraine emigriert, um der "postsowjetischen Staatssäure" zu entkommen. Doch heimisch wurden sie in Deutschland nie.
Dass er ein scharfsinniger Beobachter ist und ein untrügliches Gespür für Pointen und beiläufig ausgesprochene Wahrheiten besitzt, hat Dmitrij Kapitelman mit seinem Debütroman "Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters" bewiesen.
Nun, in "Eine Formalie in Kiew", 25 Jahre nachdem die Kapitelmans die Ukraine verließen und als "jüdische Kontingentflüchtlinge" Aufnahme in Deutschland fanden, hockt der Ich-Erzähler Dima bei seinen Eltern auf einer "von sibirischen Katzen vollgepissten Treppe" und weiß plötzlich, dass er die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen will.
Sein Entschluss vertieft den Abstand zwischen ihm, "dem Demokratiedeutschen", und den wirtschaftlich gescheiterten und seelisch verkümmernden Eltern. Einst waren sie froh, der "postsowjetischen Staatssäure" entkommen zu sein. Warum tönen sie nun, die Krim sei immer russisch gewesen? Und warum wollen sie sich nicht einbürgern lassen?
Emotionale und jüdische Gründe, so Kapitelman, könnten dafür sprechen, "aber näher liegen Couch und Fernbedienung".
Die Liebe ist verdorrt
Bittertraurig und sarkastisch schildert der 34-jährige Autor in seinem sehr persönlich gehaltenen Roman die innerlichen Absetzbewegungen von der auf Katzenchats fixierten Mutter und dem passiven, in sich versunkenen Vater. Um die Nationalität wechseln zu können, muss Dmitrij Kapitelman seine Geburtsurkunde erneut in der Ukraine beglaubigen lassen. Die Kiewer Behördengänge sind ein Spaziergang verglichen mit dem Familiendrama, das uns der Autor auftischt.
Kaum hält Dima die Urkunde in den Händen und freut sich auf die Rückreise, befiehlt ihm seine Mutter, den Vater am Kiewer Flughafen abzuholen. Dessen Gedächtnisvermögen schwinde rasant. Warum will sie, dass er von ukrainischen Ärzten untersucht wird?
Der Sohn sieht klar: Seine Mutter entledigt sich ihres Mannes. Ihre Liebe ist verdorrt. Sie wälzt Verantwortung ab. Und er fühlt sich in der Schuld des Vaters, dieses "unbeugsamen Liebeslobbyisten", der der Familie das "Leichtigkeitsgold" brachte. Kapitelman weiß: Wenn Vaters "Lustiglämpchen" erlöschen, dann verlieren die drei den Zusammenhalt.
Versöhnliches Einhegen der Gegenwart
Auf einer tieferen Ebene dient Dmitrij Kapitelmans Wortschöpfungslust dem versöhnlichen Einhegen der Gegenwart wie auch der Vergangenheit. Beim Besuch der alten Wohnung mit ihren "Stillstandsziegeln", porösen Steinstufen und "regressrostigen Fenstern" und bei Spaziergängen mit dem einst besten Kinderfreund prüft er, ob das, was ihm über die Ukraine "eingevorurteilt" wurde, zutrifft. Manches stößt ihn ab, doch kostbar bleibt die Geburtsstadt, weil seine Eltern dort einmal glücklich gewesen waren.
"Eine Formalie in Kiew" handelt von einem jungen Mann, der die Ausbürgerung aus der Ukraine brauchte, um seinen bedürftig gewordenen, dauermigrantischen Eltern emotional wieder näher zu kommen. Auf die Frage "Was willst du jetzt mit deinem Leben machen, Papa?" kann der Vater nur noch mit "hageren Allgemeinsätzen" antworten. Und das Gesicht der Mutter, deren glückswilliger Kern schon vor langer Zeit zerbröselte, erscheint dem Sohn "zu klein geworden für ihr Leben".
Dmitrij Kapitelman erzählt seelenvoll und produziert doch in keinem Moment Kitsch. Sein Roman ist eine "schmerzsozialisierte", dabei unverhohlen zärtliche Liebeserklärung an ein Elternpaar, dem es nicht gegeben war, in Deutschland heimisch zu werden. Dass Nationalitäten etwas Gleichgültiges sind und nicht wert, Bindungen zu ruinieren, ist das Resümee der meisterhaft unbeschwert erzählten und doch so traurigen Geschichte.