Live von der documenta 14 in Kassel senden wir heute "Studio 9" ab 17:07 Uhr, am Donnerstag "Studio 9 mit..." ab 12:07 Uhr und "Fazit" ab 23:05 Uhr sowie am Freitag "Kompressor" ab 14:07 Uhr.
Mehr Effekt als künstlerischer Inhalt?
In wenigen Tagen öffnet die documenta auch in Kassel ihre Pforten. Das Fachpublikum darf ab heute schon mal schnuppern. Der Kunstwissenschaftler Harald Kimpel blickt schon jetzt eher kritisch auf die Schau: Auf der documenta gebe es nichts zu lachen.
Am heutigen Mittwoch kann das Fachpublikum erstmals alle Ausstellungsorte der documenta 14 in Kassel besichtigen, am Samstag wird sie offiziell eröffnet. In Athen läuft die documenta bereits seit zwei Monaten - und inzwischen haben sich alle daran gewöhnt, dass die Schau für zeitgenössische Kunst dieses Mal an zwei Orten stattfindet.
Die Gemüter hätten sich nun beruhigt, sagte der Kunstwissenschaftler Harald Kimpel im Deutschlandfunk Kultur. Anfangs sei der Tenor in Kassel noch "Wir lassen uns unsere documenta nicht wegnehmen" gewesen:
"Mittlerweile ist Ruhe eingekehrt, und in der Eröffnungswoche in Athen konnte man dort mehr Kasselaner antreffen als in der Fußgängerzone in Kassel", sagte Kimpel.
Der Kunstwissenschaftler blickt dennoch eher kritisch auf die 14. documenta-Ausgabe und spricht von "Problembeweinungskunst":
"Aus allen Ecken und Enden blickt uns das Elend in der Welt entgegen - wer sich auf diese documenta einlässt, hat wahrlich nichts zu lachen."
Zugleich sieht Kimpel hier und dort mehr Effekt als künstlerischen Inhalt. Als Beispiel diente Kimpel unter anderem der Parthenon der Bücher von Marta Minujín:
"Da ist einer der großen Widersprüche für mich in dieser aktuellen documenta, die ja nun eigentlich mit Effekt, mit Event, mit Spektakel gar nichts zu tun haben will, an vielen Stellen aber reines Spektakel produziert."
Die nächste documenta in fünf Jahren hat laut Kimpel nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie werde wieder auf einige wenige Ausstellungsorte in Kassel reduziert, oder sie expandiere in alle Himmelsrichtungen, beispielsweise nach Rio de Janeiro und Shanghai. Das würde die documenta dann aber das "Alleinstellungsmerkmal" kosten: Große Kunst in eher provinzieller Atmosphäre.
(ahe)
Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Eigentlich läuft sie ja schon, die documenta 14. Bereits am 8. April wurde sie in Athen eröffnet, aber in Kassel – und viele würden noch immer sagen, ihrer eigentlichen Heimat – beginnt sie erst am Samstag. Das Fachpublikum aber kann schon heute einen Blick drauf werfen, im Laufe des Tages gibt es erst mal die Pressekonferenz und erste Blicke, und wir wollen deshalb heute schon mit dem Kulturwissenschaftler Harald Kimpel sprechen. Er war von 1980 bis 2015 beim Kulturamt Kassel in unterschiedlichen Funktionen mit der documenta betraut. Er lebt selbstverständlich in Kassel, da ist er jetzt auch, aber er ist gerade erst auch von der documenta in Athen zurückgekehrt. Schönen guten Morgen, Herr Kimpel!
Harald Kimpel: Schönen guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Nach alldem, was ich bisher gehört habe, ist ja die am Anfang auch herbe Kritik an diesem documenta-Standort Athen in Griechenland selber ziemlich zurückgegangen, seit die documenta da wirklich läuft. Wie ist denn inzwischen die Stimmung in Kassel? Sind immer noch weite Kreise böse wegen dieser zwei Standorte diesmal?
Kimpel: Ich glaube, da haben sich mittlerweile die Gemüter beruhigt. Es ging ja ziemlich ab im Vorfeld, als Adam Szymczyk zuerst diese Verdoppelung der Standorte kundgetan hat. 'Wir lassen uns unsere documenta nicht wegnehmen', war der Tenor. Wie gesagt, mittlerweile ist Ruhe eingekehrt, und in der Eröffnungswoche in Athen konnte man dort mehr Kasselaner antreffen als in der Fußgängerzone in Kassel.
Kassel: Nachdem Sie ja nun in Athen doch einiges gesehen haben, da auch durchaus gearbeitet – bei dem, was Sie jetzt schon, es ist ja noch lange nicht alles, wissen über die documenta in Kassel, wie groß sind denn nun die Parallelen, welche Berührungspunkte gibt es da denn in Ihren Augen wirklich?
Von Athen nach Kassel
Kimpel: Es ist ja zunächst mal versprochen worden, dass das, was in Athen gestartet ist, sich mehr oder weniger nahtlos in Kassel fortsetzt. Also alle Künstler, die in Athen bereits losgelegt haben, sollen mit Projekten, die in Athen begonnen haben, auch jetzt nach Kassel kommen. Wir werden sehen im Einzelnen, wie sich das dann auswirken wird.
Kassel: Was in Kassel eigentlich wahrscheinlich schon jetzt, aber dann spätestens ab Samstag sehr auffallen wird, sind ja die in diesem Jahr, wie ich finde, noch ein bisschen weitergehenden großen Kunstinstallationen unter freiem Himmel.
Gleich drei Großinstallationen in unmittelbarer Nähe wird es ja geben. Ich glaube, am bekanntesten – darüber ist schon viel gesprochen worden – ist dieses Parthenon der verbotenen Bücher von Martha Minujin. Es wird aber noch von anderen Künstlern einen 16 Meter hohen Obelisken geben, eine große Installation aus Betonröhren. Da frage ich mich ein bisschen so, ohne es selbst alles schon gesehen zu haben, ist da in Kassel die Gigantomanie ausgebrochen diesmal?
Kimpel: Es ist nicht eigentlich die Gigantomanie, sondern documenta war ja immer eine, die sich auch zwischen den Gebäuden, zwischen den Standardarchitekturen breit gemacht hat, und die Bespielung, die Benutzung, die Kommentierung innerstädtischer Situationen mit künstlerischen Mitteln war immer eine Spezialität der documenta.
Sie war nun nicht immer so groß wie der Parthenon, der jetzt im Maßstab eins zu eins mit seinen 30 mal 70 Metern auf dem Friedrichsplatz steht. Andere waren vielleicht noch größer. Der Erdkilometer zum Beispiel ist eben, wie der Name schon sagt, einen Kilometer tief – aber eben in die Erde versenkt. Und was zu sehen ist, ist relativ wenig. Also, große Werke hat es schon immer gegeben, sie haben sich nur vielleicht etwas weniger aufgedrängt.
Kassel: Aber gerade Aufdrängen ist so ein Stichwort. Parthenon ist erst mal eine gute und nachvollziehbare Idee. Es geht um verbotene Bücher, aus denen dieses Kunstwerk ja entstanden ist und auch noch entsteht. Man kann weitere hinbringen.
Aber wenn ich mir anhöre, was zum Beispiel die Künstlerin selber gesagt hat, sie hat gesagt, ja, das wird tagsüber schon sehr beeindruckend aussehen, aber wartet erst mal, bis es dann dunkel wird, wenn das Ganze beleuchtet wird und durchschimmert. Vielleicht ist es böse, aber vielleicht können Sie meinen Verdacht auch teilen. Ist das nicht mehr Effekt als wirklich künstlerischer Inhalt?
An vielen Stellen reines Spektakel
Kimpel: Da haben Sie völlig recht, und da ist einer der großen Widersprüche für mich dieser aktuellen documenta, die ja nun eigentlich mit Effekt, mit Event, mit Spektakel gar nichts zu tun haben will, an vielen Stellen aber reines Spektakel produziert.
Bereits der nicht beleuchtete Parthenon in seinem Zustand während des Aufbaus wurde von vielen Kasseler Bürgern schon als schön, als gefällig, als angenehm empfunden, sogar: Den wollen wir behalten. Das widerspricht natürlich völlig der düsteren Thematik, die ja durchgängig in allen Exponaten der documenta 14 zu sehen ist, ganz und gar.
Was aber der documenta gar nichts macht, denn laut Adam Szymczyk will ja die documenta keine Behauptungen lancieren, sondern möchte Widersprüche provozieren. Und damit macht sie sich natürlich unangreifbar. Wenn man die documenta, wenn man ihr Team anspricht auf Widersprüche, dann werden die wahrscheinlich nur nicken und sagen, ja, Widersprüche wollen wir, das ist unser Ziel. Bloß keine Erkenntnisse.
Kassel: Bloß keine Erkenntnisse, ja, da kann man natürlich sagen, das ist positiv, wir wollen den Leuten nicht ihre Welt erklären, das sollen sie mit oder ohne unsere Kunst irgendwie selber schaffen. Aber werden nicht auch Chancen verpasst? Ich habe so den Eindruck – Sie haben auch das Stichwort "düster" genannt –, ich hab so den Eindruck, dass bei aller künstlerischen Vielfalt die documenta 14 ein bisschen monothematisch ist.
"Problembeweinungskunst"
Kimpel: In der Tat. Ich habe mal diese neue Kunstrichtung, die die documenta kreiert hat, Problembeweinungskunst genannt. Also aus allen Ecken und Enden blickt uns das Elend in der Welt entgegen. Wer sich auf diese documenta einlässt, hat wahrlich nichts zu lachen.
Kassel: Ist das jetzt eigentlich, um vielleicht doch noch mal auf Athen, auf diesen Doppelstandort zurückzukommen, ist das jetzt eigentlich so eine Art Zeitenwende mit der documenta? Wird es wirklich so sein, dass die Zeiten, wo documenta fest mit Kassel und nur mit Kassel verknüpft war, vorbei sind, oder glauben Sie, wir erleben hier auch wieder nur, wie das halt so ist in der Kunst, eine Episode, die auch wieder vorübergeht an Nordhessen?
Kimpel: Also die nächste in fünf Jahren, die 15., da sehe ich eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie wird wieder sehr konzentriert, zurückgeführt, reduziert auf Kassel, vielleicht sogar auf einige wenige Gebäude, oder diese Expansion geht weiter, und die Kooperation findet nicht nur mit einem europäischen Ort statt, sondern vielleicht mit Rio de Janeiro und Shanghai oder was auch immer. Also ich glaube, nur diese zwei Möglichkeiten wird es geben.
Kassel: Aber wenn es die zweite Möglichkeit wäre, die documenta-Globalisierung – ich frage mich, war das nicht auch einer der faszinierenden Momente, dass die moderne Kunst ein Zuhause hatte, in einer – verzeiht bitte, alle Menschen in Nordhessen – doch provinziellen Stadt, die man vor der documenta 1 mit so was ja eher nicht in Verbindung gebracht hätte?
Kimpel: Aber sicher. Genau das ist das Alleinstellungsmerkmal der documenta gewesen.
Wer wissen wollte, was es mit der zeitgenössischen Kunst auf sich hatte, der musste eben wohl oder übel nach Kassel gehen, weil man in Kassel etwas sich getraut hat, was keine andere Ausstellung weltweit gewagt hat, nämlich alle fünf Jahre zu sagen, wir ziehen Bilanz über die Gegenwartssituation. Wir zeigen die Essenz des gegenwärtigen Kunstproduzierens.
Alle fünf Jahre den Zeitgeist definiert
In Kassel wurde alle fünf Jahre der Kanon des Zeitgeistes definiert. Und das hat sich niemand irgendwo getraut. Das funktioniert jetzt aus verschiedenen Gründen nicht mehr, sondern heute ist alles möglich. Also dieses Alleinstellungsmerkmal des verbindlichen Definierens des Zustands der Gegenwartskunst, den gibt es nicht mehr. Damit ist aber die documenta das geworden, was sie nie sein wollte: Sie ist nicht mehr konkurrenzlos, sondern sie muss konkurrieren.
Sie muss konkurrieren mit der Vielzahl der Ausstellungen zur zeitgenössischen Kunst in aller Welt, und davon gibt es eine Menge. Und um konkurrenzfähig zu bleiben, muss sie sich eben besonders pfiffige Konzeptionen ausdenken lassen, wie zum Beispiel bei der letzten documenta, bei der 13, der ent-anthropozentrische Kunstbegriff oder eben jetzt die Auswanderung nach Athen.
Kassel: Die 14., die beginnt in Kassel. Es ist ja dadurch auch so kompliziert geworden. An sich läuft sie ja schon, aber in Kassel, für das normale Publikum jetzt am Samstag, für Journalisten und andere Fachleute schon heute, zumindest schon mit einem ersten Blick.
Deshalb werden wir heute Nachmittag um 17:07 zum Beispiel unsere Sendung "Studio 9" live aus Kassel senden. Es folgen dann in den nächsten Tagen noch andere Sondersendungen. Das jetzt gerade war ein Gespräch mit Harald Kimpel. Er war 25 Jahre lang als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Kulturamt der Stadt Kassel in ganz unterschiedlichen Funktionen mit der documenta betraut, und, Herr Kimpel, ich wünsche Ihnen, auch wenn Sie hörbar ja auch mit einer großen Nachdenklichkeit und gewissen Zweifeln jetzt auf diese documenta 14 geblickt haben, trotz allem viel Spaß und Erleuchtungen nicht nur nachts vor einem dieser Kunstwerke. Danke fürs Gespräch!
Kimpel: Ich danke Ihnen, Herr Kassel!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.