Halbzeitbilanz der Documenta 15
Perspektiven des globalen Südens: Mixed-Media-Skulpturen der Gruppe Atis Rezistans aus Haiti in einer ehemaligen Kirche im Kasseler Stadtteil Bettenhausen. © imago / C3 Pictures
Plädoyers für einen zweiten Blick
07:25 Minuten
Durch den Antisemitismusskandal gerate aus dem Blick, welche künstlerischen Positionen die Documenta vertrete, sagen die Kunstvermittlerin Nora Sternfeld und der Bremer Museumsdirektor Christoph Grunenberg. Hier gebe es viel Spannendes zu entdecken.
Was beschäftigt die zeitgenössische Kunst des Globalen Südens? Wie teilen wir die Ressourcen des Planeten auf? Welche alternativen Ökonomien wären denkbar?
Mit Leitfragen wie diesen habe das indonesische Künstlerkollektiv Ruangrupa als Kuratorenteam der Documenta 15 spannende neue Perspektiven eröffnet, sagt Nora Sternfeld, Kunstvermittlerin und Professorin für Kunstpädagogik an der HFBK Hamburg. Doch wegen der seit Wochen anhaltenden Antisemitismus-Debatte seien diese Themen bisher viel zu wenig wahrgenommen worden.
Blind für die eigene Geschichte
Selbstverständlich sei die Debatte über antisemitische Bildmotive in Werken der Documenta 15 wichtig und notwendig, betont Sternfeld. Denn Antisemitismus existiere weltweit nicht nur in rechten Bewegungen, sondern ebenso "in der Geschichte und Gegenwart der Linken". Auch im Kunstfeld spiele er eine Rolle.
Gerade deshalb hätte sie sich jedoch gewünscht, dass die Institution Documenta sich dezidiert der Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte gestellt hätte. Während etwa in der Ausstellung "documenta. Politik und Kunst" des Deutschen Historischen Museums Kontinuitäten der Kunstschau im Hinblick auf die nationalsozialistische Ideologie aufgezeigt worden seien, habe die Documenta selbst es versäumt, dies selbst zum Thema zu machen.
Entwürfe möglicher Welten
Wichtige neue Ansätze des Kuratorenkollektivs Ruangrupa seien nun von der Diskussion über Werke mit antisemitischer Bildsprache überlagert worden, so Sternfeld. So präsentiere die Documenta an vielen Orten in der Stadt, auch jenseits klassischer Kunst-Institutionen, Werke, die nicht in erster Linie an die Schaulust von Besucherinnen und Besuchern appellierten, sondern sie in die Lage versetzen sollten, "sich eine andere mögliche Welt vorzustellen zu können".
Ruangrupa setze also weniger auf Repräsentation, sondern stattdessen auf Kunst als "kollektive Schaffung von Infrastrukturen und Imaginationen". Auf der diesjährigen Documenta gehe es nicht so sehr um die Frage, "was wie gezeigt wird", sondern darum, aufzuzeigen, "was wie geschehen kann", sagt Sternfeld. Ein richtungsweisender Ansatz: Der "Shift von der Repräsentation zur Infrastruktur" werde die Gegenwartskunst noch viele Jahre beschäftigen.
Schauplätze des Strukturwandels
Auch Christoph Grunenberg, Direktor der Kunsthalle Bremen, beklagt, dass wichtige künstlerische Positionen auf der Documenta durch die Antisemitismus-Debatte "total in den Hintergrund geraten" seien. In einem Gastbeitrag des Bremer "Kurier am Sonntag" richtete Grunenberg daher einen Appell an Kunstinteressierte, die Ausstellung zu besuchen und sich vor Ort selbst eine Meinung zu bilden.
Gerade abseits der zentralen Ausstellungsorte, etwa an Schauplätzen des Strukturwandels wie dem früheren Industrieviertel Kassel-Bettenhausen, könne man "die Verbindung zu einer globalen Wirtschaft und politischen Netzwerken vor Ort hautnah erfahren".
Keine einfache Kost
Die Ausstellung biete "keine einfache Kost", sagt Grunenberg. Viele der Werke ließen sich eben nicht betrachten wie ein Gemälde. Oft handle es sich um Installationen oder umfangreiche Dokumentationen, die dem Publikum Zeit und Geduld abverlangten. Aber die Mühe lohne sich, und er hielte es für einen Fehler, die "sehr komplexe und vielfältige Ausstellung" wegen des Antisemitismus-Skandals prinzipiell infrage zu stellen.
Die Forderung, die Documenta vorübergehend zu schließen, habe ihn schockiert, so Grunenberg: "Das wäre eine Katastrophe für die Künstler, für die Kunst und auch für die Stadt."
(fka)