Antisemitismus auf der Documenta
Das Banner des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi mit antisemitischen Darstellungen wird am 21. Juni in Kassel auf der Documenta abgehängt. © imago/Hartenfelser
Das hätten sich die Alt-Nazis nicht getraut
05:39 Minuten
Mit der ersten Documenta 1955 wollte sich Deutschland als weltoffen und geläutert zeigen. Dass die opulente Kunstschau damals vor allem auch von Alt-Nazis kuratiert wurde, wurde erst später bekannt. Offenen Antisemitismus hätten sie nicht gewagt.
Kontrafaktische Mutmaßungen über den Verlauf der Geschichte sind immer heikel, aber so viel darf man unterstellen: Das Wimmelbild „People's Justice“, das wegen antisemitischer Elemente im Mittelpunkt des aktuellen Documenta-Skandals steht – es wäre auf der ersten Documenta 1955 auf keinen Fall gezeigt worden. Und warum nicht? Vor allem, weil im damaligen Organisationsteam der Documenta nicht weniger als zehn von 21 Personen eine – gezielt verschwiegene – braune Vergangenheit gehabt haben.
Berühmt ist der Kunsthistoriker Werner Haftmann, der intellektuelle Kopf der ersten Documenta, von dem man heute weiß, dass er als Partisanenjäger der Wehrmacht an Folterungen und Erschießungen beteiligt war.
Propaganda im Stil des Nazi-Hetzblattes „Der Stürmer“, wie sie die indonesische Künstlergruppe Taring Padi in ihr Wimmelbild integriert hat, hätten Haftmann & Co., aber auch deren unbescholtene Mitstreiter bereits im Vorfeld aussortiert. Denn die Documenta sollte ja einen herausragenden Beitrag zur kulturellen Neugründung des Landes leisten. Sie sollte zeigen, dass die Bundesrepublik das geläuterte Gegenteil des Dritten Reiches ist.
Die vormals von den Nazis als „entartet“ gebrandmarkte Kunst wurde nun als „moderne Kunst“ rehabilitiert. Jedoch mit einer eklatanten Auslassung: In Kassel waren keine Werke jüdischer Künstler und Künstlerinnen zu sehen – und zwar, weil sie, außer im Falle Marc Chagalls, gar keine moderne Kunst geschaffen hätten. So Haftmann.
Eine ungeheuerliche Behauptung. Folgt man der Kunsthistorikerin Julia Voss, wollte Haftmann in Wahrheit die Auseinandersetzung mit der Verfolgung und Ermordung jüdischer Künstler vermeiden und so „seine Biographie reinwaschen“ – vor sich selbst und der Öffentlichkeit.
Neuer Geist mit alter Gesinnung
Nicht weniger infam war, dass er ausgerechnet Bilder von Emil Nolde für Documenta-tauglich hielt, obwohl ihm – im Gegensatz zum großen Publikum – der glühende Antisemitismus Noldes bekannt war. Haftmann wusste Bescheid und schwieg.
Der neue Geist, der von Kassel her durchs Land wehen sollte – er war zweifellos neu, aber mit ihm wehte zugleich noch die alte Gesinnung. Heute, fast sieben Jahrzehnte später, nach der ebenso langwierigen und quälenden wie auch produktiven Aufarbeitung der deutschen Geschichte, ist das entschieden anders.
Das hiesige Leitungsteam der Documenta 15 hat keine braune Vergangenheit zu verbergen, niemand unterstellt ihnen latenten Antisemitismus oder gar das absichtsvolle Einschmuggeln der später abgehängten Werke.
Scheitern mit Ansage?
Es ist, gewissermaßen umgekehrt, gerade die unbedingte Weltoffenheit, die die Documenta in die Bredouille geführt hat. Unfreundlicher formuliert: Indem das Leitungsteam unter Ausrufung schicker Theorievokabeln ... „Globaler Süden“, „Postkolonialismus“, „Kollektivität“, '“Inklusion“ und so weiter ... die inhaltliche Gestaltung der Kunstschau auf das indonesische Künstlerkollektiv Ruangrupa übertrug, glaubte es, sich unangreifbar zu machen, de facto aber stahl es sich aus der Verantwortung.
Mit fatalen Folgen: 1955 hatten Haftmann & Co. die Werke jüdischer Künstler bewusst ausgeschlossen, 2022 verdrängt das im wahrsten Sinne des Wortes verantwortungslose Documenta-Team faktisch die jüdisch-israelischen Künstler selbst, die in Kassel keine Rollen spielen dürfen – anders als viele Sympathisanten des Israel-feindlichen BDS.
Irrfahrt der Documenta 15
Und nicht nur das. Als der Skandal um die antisemitischen Tendenzen hochkochte, zeigten die ersten, auffallend halbherzigen Entschuldigungen: Ruangrupa und Taring Padi konnten oder wollten den Grund für die krasse öffentliche Erregung zunächst gar nicht so richtig verstehen – sei es mangels vertiefter Kenntnisse der deutschen Geschichte und des Holocaust, sei es aufgrund selbstbewusster Ignoranz.
Bei den Entschuldigungen wurde mittlerweile stark nachgebessert – die Irrfahrt der Documenta 15 ist dadurch aber nicht aufzuhalten. Der Philosoph Peter Sloterdijk meinte: Die Empfindung des Unrechts, im „vormaligen Zentrum“ – sprich: In den Ländern der ehemaligen Kolonisatoren – zu leben, sei hier so stark, „dass man lieber Interpretation erleidet als ausübt“. Unphilosophisch könnte man sagen: Wir halten uns da raus, lass die mal machen.
Die Ironie der Geschichte
Für die Documenta-Leitung mag das stimmen. Andererseits gab es noch nie so viele publizistische Attacken auf den Postkolonialismus und das Konzept des Globalen Südens wie in diesen Wochen – in der Zeit, der SZ und der TAZ nicht weniger als in der konservativen Presse.
Wie es scheint, erreicht die Documenta 15 das Gegenteil von dem, was sie wollte: Das Misstrauen wächst; die postkoloniale Bewegung kann sich zunehmend weniger dem Verdacht des strukturellen Antisemitismus entziehen. Die Ironie der Geschichte könnte darin liegen, dass das alles eigentlich ganz gut so ist. Was die Documenta 15 zu einem folgenreichen und letztlich erfolgreichen Misserfolg machen würde.