Die Salamitaktik schadet allen Künstlern
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Der Skandal um das antisemitische Banner des Kollektivs Taring Padi überschattet die Documenta. Der Kulturjournalist Ingo Arend kritisiert die Festival-Leitung für ihre Zögerlichkeit bei der Aufarbeitung. Das schade allen Künstlern.
„Es könnte so kommen wie bei Boris Johnson in England, dass immer mehr Getreue von der Schau abfallen und sie am Ende implodiert – weniger wegen der Fehler der Leitung, sondern weil einfach alle davonlaufen“, sagt Kulturjournalist Ingo Arend über den Rückzug der Künstlerin Hito Steyerl und des Historikers Meron Mendel von der Documenta 15.
Der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank war von Generaldirektorin Sabine Schormann gebeten worden, den Antisemitismusskandal, der die Schau überschattet, aufzuklären. Im Deutschlandfunk
erklärte Mendel jedoch
, dass seine Versuche darüber mit den Verantwortlichen ins Gespräch zu kommen, ins Leere gelaufen seien und er den Eindruck habe, man wolle sich wegducken bis zum planmäßigen Ende der Documenta im September.
Eine vertane Chance
„Aus meiner Sicht ist es vollkommen unverzeihlich, dass Frau Schormann die Chance zur Vorwärtsverteidigung nicht genutzt und unmittelbar nach Bekanntwerden dieser ganzen Geschichte damit begonnen hat, die Exponate noch mal zu sichten und eben unter Zuhilfenahme von externen Fachleuten“, sagt Arend.
Meron Mendel habe Schormann mit seiner Bereitschaft, die Kunstwerke zu sichten, geradezu einen Rettungsring zugeworfen – „und diesen untadeligen Kronzeugen derart lange hängen zu lassen, ist ein erstklassiger Führungsfehler, der seinen Preis fordern wird“. Nach zweieinhalb Wochen hätte eigentlich schon ein erster Zwischenbericht vorliegen müssen, findet Arend.
Documenta fördert Reputationsverlust
Diese Hängepartie wirke sich nun aber auch negativ auf die übrigen ausstellenden Künstlerinnen und Künstler aus. Diese liefen nämlich Gefahr, als solche wahrgenommen zu werden, die an einer antisemitischen Schau teilgenommen haben.
Anders als Hito Steyerl könnten viele unbekannte Künstlerinnen und Künstler nicht einfach so ihr Werk zurückziehen, da sie auf die Aufmerksamkeit und das Honorar angewiesen seien. „Die Documenta fördert sozusagen den Reputationsverlust dieser Künstlerinnen, die da weiter ausstellen.“ Ingo Arend spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „Verletzung der Fürsorgepflicht der Documenta-Leitung“.
Letztlich könnte diese „Hinhalte- und Salamitaktik“ dazu führen, so Arend, dass die Förderinstanzen die Documenta „stärker an die Kandare legen“. Aber ein Aufsichtsgremium mit Weisungsbefugnis gegenüber den zukünftigen Kuratorinnen und Kuratoren wäre aus seiner Sicht der Tod der Schau und hätte wahrscheinlich zur Folge, dass niemand mehr diese schwere Aufgabe übernehmen will.