Documenta

Die tiefe Krise einer Kunstschau

Personen auf einem Baugerüst entfernen eine bemalte Leinwand.
Auf der Documenta 15 wurde ein Banner des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi nach Antisemitismus-Vorwürfen abgehängt. Im Vorfeld der Documenta 16 setzen sich die Debatten um antisemitische Positionen fort. © imago / Peter Hartenfelser
Sechs Kunstfachleute sollten auswählen, wer die Documenta 16 im Jahr 2027 leitet. Doch schon vor der Kandidaten-Kür löste sich die Findungskommission komplett auf. Kulturstaatsministerin Claudia Roth fordert einen Neustart für die Documenta.
Die Documenta kommt nicht zur Ruhe. Die Findungskommission für die nächste Weltkunstausstellung im Jahr 2027 ist nunmehr komplett zurückgetreten, nachdem bereits am 11. und 13. November zwei der sechs Mitglieder das Gremium verlassen hatten. Damit ist wieder völlig offen, wer künftig die künstlerische Leitung der Documenta 16 auswählen wird.

Muss die Documenta 16 verschoben werden?

Nach dem Rücktritt der Findungskommission ist eine Verschiebung der nächsten Documenta aus Sicht der Leitung nicht ausgeschlossen. Die 16. Ausgabe der Kunstausstellung ist für 2027 in Kassel geplant, traditionell findet die Documenta alle fünf Jahre statt. "Die Frage nach dem Zeitpunkt steht in der aktuellen Situation nicht an erster Stelle", sagte Andreas Hoffmann, der Geschäftsführer der Documenta. Man wolle die Documenta "in eine gute Zukunft führen".
Erster Schritt sei, das "Betriebssystem" neu zu starten, derzeit werde die Organisationsstruktur geprüft. Mithilfe externer Experten schaue man sich Verantwortlichkeiten, Strukturen und Prozesse an, so Hoffmann. Erst wenn dieser Prozess der Neuaufstellung abgeschlossen sei, könne man den nächsten Schritt angehen und den Findungsprozess neu beginnen.

Wer sind die zurückgetretenen Personen?

Bis Donnerstag waren alle sechs Mitglieder der Findungskommission für die künstlerische Leitung der Documenta zurückgetreten. Die Kommission sollte bis Ende 2023 oder Anfang 2024 einen Kurator, eine Kuratorin oder ein Kollektiv für die kommende Ausgabe vorschlagen. Nun soll der Findungsprozess vollständig neu aufgesetzt werden.
Zunächst war der indische Schriftsteller und Kurator Ranjit Hoskoté aus der Kommission zurückgetreten. Auch die israelische Künstlerin Bracha Lichtenberg Ettinger legte am Montag ihr Amt nieder - offenbar wegen der aktuellen Situation im Nahen Osten. Die verbliebenen Kommissionsmitglieder traten am Donnerstag zurück: der in Paris ansässige Kunstkritiker und Romanautor Simon Njami, die in Shanghai lehrende Kunstprofessorin Gong Yan, die in Wien lehrende Kunstdozentin Kathrin Rhomberg sowie Maria Ines Rodriguez, die seit 2018 Kuratorin für moderne und zeitgenössische Kunst am Museu de Arte de Sao Paulo ist.
Der Arbeitsprozess der Kommission sei unter dem Eindruck der Terrorattacken der Hamas, dem zunehmenden Antisemitismus in Deutschland und den polarisierten Debatten immer mehr unter Druck geraten, teilte die Documenta mit. Es sei erwogen worden, nach den ersten beiden Rücktritten mit den verbliebenen Mitgliedern der Kommission weiterzumachen, die Kommission aufzustocken, die Arbeit auszusetzen oder ganz neu aufzulegen. In "einer äußerst schwierigen Entscheidungsfindung" hätten sich die vier verbliebenen Mitglieder entschlossen, nicht mehr teilhaben zu wollen.
Ranjit Hoskoté war in die Kritik geraten, weil er im Jahr 2019 eine Petition mit dem Titel „BDS India“ unterzeichnet hatte. BDS steht für „Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“. Die Kampagne ruft zum Boykott des Staates Israel und israelischer Produkte wegen Israels Vorgehens gegen Palästinenser auf. Hoskoté habe deutlich gemacht, dass er die Ziele des BDS ablehne, hatte die Documenta mitgeteilt. Auf die „Erwartung einer unmissverständlichen Distanzierung“ hin habe er dann seinen Rücktritt erklärt.

Was fordert die Kulturstaatsministerin?

Nach dem Rücktritt der Findungskommission sagte Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne): "Wir brauchen jetzt einen glaubwürdigen Neustart, dafür muss die Documenta auch mit Blick auf ihre Organisationsstrukturen neu aufgestellt werden." Der Bund sei bereit, an der Neuaufstellung mitzuarbeiten. Sie könne die Entscheidung der Findungskommission nachvollziehen, sagte Roth: „Ohne vernünftige Strukturen und klare Verantwortungsketten war deren schwierige Aufgabe kaum zu bewältigen.“
Roth sagte, sie begrüße es sehr, „dass sich die Documenta GmbH zunächst mit der eigenen, grundsätzlichen Neubestimmung und Strukturreform befasst, bevor die Planung für die Ausgabe 2027 beginnt“. Der Bund sei bereit, an einer Neuaufstellung mitzuarbeiten. Sie werde in den kommenden Tagen mit dem Oberbürgermeister Kassels sprechen und, sobald die Regierungsbildung in Hessen abgeschlossen sei, auch mit dem Kunstministerium. „Die Documenta ist eine der wichtigsten Ausstellungen für Gegenwartskunst, die auch ein Schaufenster für Deutschland in der Welt ist“, sagte Roth. „Wir brauchen die Kunst mehr denn je, wir brauchen geschützte Räume für die Kunst, wir brauchen ihre Debatten und Impulse für eine offene Gesellschaft.“

Welcher neue Kurator tut sich das an?

Die Lage der Documenta ist aus Sicht einer Expertin, die die Ausstellung intensiv begleitet, verheerend. Nach dem Rücktritt der Findungskommission werde es sehr schwer, Kuratoren für die nächste Schau 2027 zu finden, sagt Nicole Deitelhoff: „Das grundsätzliche Problem ist, dass uns die Debattenkultur völlig aus den Händen geglitten ist. Seit dem 7. Oktober hat sich die Diskurslage noch mal zugespitzt. Inzwischen kann man überhaupt nicht mehr miteinander reden. Jedes Wort wird auf die Goldwaage gelegt und führt in atemberaubender Geschwindigkeit dazu, dass man in eine Ecke gestellt wird.“
Im Kulturbetrieb gebe es eine starke propalästinensische, israelfeindliche Haltung, sagt Deitelhoff. Problematisch sei, wenn von dieser Seite der Eindruck erweckt werde, die Kunstfreiheit sei bedroht. „Die Antwort kann nicht sein, dass wir ein bisschen Antisemitismus zulassen.“
dpa, KNA, scr

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