Führt Naomi Beckwith die documenta aus der Krise?
Die documenta 16 bekommt eine künstlerische Leiterin: Naomi Beckwith, die Chefkuratorin des Guggenheim-Museums. Nach dem Antisemitismus-Skandal 2022 bei der letzten documenta soll für die Kunstschau 2027 ein Neuanfang gelingen.
Diese Entscheidung war mit Spannung erwartet worden: Nach viel Kritik und mehrfachen Verzögerungen steht nun fest, wer die nächste documenta leiten soll. Naomi Beckwith, Chefkuratorin des Guggenheim-Museums in New York, übernimmt den schwierigen Job.
Auf die US-Amerikanerin hatte sich die sechsköpfige internationale Findungskommission geeinigt, die wiederum erst im Juli 2024 berufen worden war. Die ursprüngliche Kommission war acht Monate zuvor zurückgetreten – wegen Antisemitismusvorwürfen.
Ein Skandal um Antisemitismus hatte 2022 auch die documenta 15 überschattet und die Kunstschau international in Verruf gebracht. Vor Naomi Beckwith liegt angesichts dieser Vorfälle eine besonders herausfordernde Aufgabe.
Die documenta 16 soll vom 12. Juni bis 19. September 2027 stattfinden. Sie gilt als eine der weltweit bedeutendsten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst.
Wer ist Naomi Beckwith?
Naomi Beckwith ist stellvertretende Direktorin und Jennifer-und-David-Stockman-Chefkuratorin des Guggenheim-Museums in New York. Nach Angaben des Museums betreut sie dort Sammlungen, Ausstellungen, Publikationen, kuratorische Programme und Archive und gibt die strategische Richtung innerhalb des internationalen Netzwerks der angeschlossenen Museen vor. Beckwith kam demnach vom Museum of Contemporary Art (MCA) in Chicago zum Guggenheim. Zuvor war sie am Studio Museum in Harlem tätig.
Viele ihrer Projekte und Publikationen thematisieren den Einfluss schwarzer Kultur auf die zeitgenössische Kunst. Zu ihren gefeierten Ausstellungen gehörte unter anderem "Howardena Pindell: What Remains to Be Seen" (2018, MCA Chicago) und "The Freedom Principle: Experiments in Art and Music, 1965 to Now" (2015, MCA Chicago).
Beckwith bezeichnete es als eine „außerordentliche Ehre“, die documenta 16 künstlerisch zu leiten. Die documenta sei eine Institution, die der ganzen Welt und genauso auch Kassel gehöre. „Sie ist auch eine Institution, die sich im ständigen Dialog mit der Geschichte befindet und gleichzeitig ein Barometer für Kunst und Kultur in der unmittelbaren Gegenwart ist", so Beckwith. Die 48-Jährige zeigte sich „voller Demut angesichts der Tragweite dieser Verantwortung“.
Die Kuratorin machte in Kassel deutlich, dass sie die globale Ausrichtung der documenta fortführen wolle. Rassismus, Diskriminierung und Antisemitismus werde sie allerdings nicht tolerieren.
Wie ist Beckwiths Wahl zu bewerten?
Naomi Beckwith steht für „solide Kuratorenarbeit“, meint Dlf-Chefkulturkorrespondent Stefan Koldehoff. Das heißt: keine großen Experimente, aber sehr interessante Themen, eine gute Mischung aus „Nummer sicher“ und dem, was derzeit in der Kunstwelt gefragt ist.
Ihre genauen Pläne will die neue künstlerische Leiterin in einem halben Jahr vorstellen. Doch schon jetzt machte sie klar, wie sie die heikle Gratwanderung bewältigen will, die darin besteht, keine Zensorin zu sein – und doch eine bestimmte Kunst zu verhindern, die auf der documenta nicht stattfinden sollte. Schließlich geht es darum, nach dem Debakel von 2022 das Vertrauen in die Kunst wiederherzustellen.
Beckwith kündigte an, ständig mit den Kunstschaffenden in Kontakt zu sein und nicht erst am Tag der Eröffnung ein Kunstwerk zu sehen. „Es wird keine Überraschungen geben. Ich kenne die Objekte, ich kenne die Projekte, ich werde die Denkweise der Kunstschaffenden kennen", sagte sie.
Nicht die Kontrolle über die Debatte zu verlieren, Rassismus, Diskriminierung oder Antisemitismus nicht stattfinden zu lassen – für diese Versprechen steht Naomi Beckwith. Damit scheint sie eine geeignete Besetzung für die documenta 16 zu sein. Mit ihr könnte ein Neuanfang klappen.
Welche Herausforderungen kommen auf Beckwith zu?
Vor allem ist die vergangene documenta 15 eine schwere Bürde. Zwischenzeitlich wurde sogar ein Ende der Weltkunstschau ins Gespräch gebracht. Trotz des Kontrollversprechens – es bleiben Unwägbarkeiten, deren sich auch Naomi Beckwith bewusst ist.
Die Ausstellung 2022 unter der Leitung des indonesischen Künstlerkollektivs Ruangrupa hatte einen Antisemitismus-Skandal hervorgebracht, mit Nachwirkungen über die Zeit der documenta hinaus. Zu sehen war in Kassel unter anderem ein Bild mit antisemitischen Motiven. Juden wurden als Schwein dargestellt, mit Davidstern und der Aufschrift „Mossad“. Zudem wurde kein Künstler aus Israel mit einem Werk zur documenta 15 eingeladen. Die Diskussionen darüber, wer Verantwortung übernimmt oder übernehmen sollte, wurden lange geführt.
Nachdem auch die ursprüngliche Findungskommission für die documenta 16 wegen Antisemitismusvorwürfen im November 2023 zurückgetreten war, forderte die Künstlerin Hito Steyerl eine vollständige Neuorientierung. Das „Paradigma der Weltkunst“, das aus der Zeit einer westlich dominierten Globalisierung stammte, könne nicht mehr mithalten in einem „Zeitalter der Multikrisen“, so Steyerl. „Kunst hat ihre Unschuld verloren.“ Die documenta 15 habe mitpolarisiert statt zu vermitteln.
Debatte über Antisemitismus und Kunstfreiheit
Angesichts des Nahost-Kriegs infolge des Terrorangriffs der Hamas 2023 auf Israel ist die Debatte über Antisemitismus im Kulturbetrieb schärfer geworden. Wer positioniert sich wie, wer äußert sich pro-palästinensisch, wer pro-israelisch? Die Diskussion über die US-Fotografin Nan Goldin hatte diese Problematik zuletzt wieder deutlich werden lassen.
Wegen des Rücktritts der ersten Findungskommission bleibt Naomi Beckwith ein Jahr weniger Zeit für den Balanceakt 2027: zwischen Freiheit der Kunst und dem Anspruch, Antisemitismus keine Bühne zu bieten. Sie selbst sieht das allerdings nicht als Problem. Schließlich hätten die vergleichbar großen Biennalen auch nur zwei Jahre Zeit zur Vorbereitung.
Welche Reaktion gibt es auf die Ernennung von Naomi Beckwith?
Kulturstaatsministerin Claudia Roth äußerte sich in einem Pressestatement zu Beckwith: „Sie bringt mit ihrer wegweisenden, international ausgerichteten kuratorischen Tätigkeit die besten Voraussetzungen mit, um die nächste documenta zu einem Erfolg mit weltweiter Ausstrahlung zu machen.“
Insgesamt sei die Documenta „auf einem sehr guten Weg“. Die Geschehnisse der vergangenen Documenta seien aufgearbeitet, strukturelle Defizite klar benannt und wichtige Entscheidungen für eine Strukturreform getroffen worden. Roth begrüßte es, dass sich die Documenta „in aller Klarheit gegen Antisemitismus positioniert“ habe und auch jeder anderen Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit aktiv entgegentreten wolle. „Zugleich steht sie als Veranstalterin einer global richtungsweisenden Ausstellung für die Kunstfreiheit in einer weltoffenen Gesellschaft ein“, so die Kulturstaatsministerin.
bth