Palästinensische Flüchtlingslager als Kulturgut?
Flüchtlingslager als Kulturgut zu betrachten klingt, vorsichtig ausgedrückt, ungewöhnlich. Architektur-Experten aus aller Welt haben genau darüber auf der documenta diskutiert. Dabei ging es auch um die Bedeutung der Selbstverwaltung von palästinensischen Lagern.
Ein palästinensisches Flüchtlingslager als Unesco-Weltkulturerbe? Das klingt absurd - zunächst. Doch renommierte Architektur-Forscher aus aller Welt haben sich intensiv mit dem Thema "Flüchtlingslager" auseinander gesetzt und darüber jetzt im Rahmen eines Symposiums auf der documenta in Kassel diskutiert. Die Veranstaltung beschäftigte sich mit der Architektur und Typologie von Flüchtlingslagern - "Das Jahrhundert der Lager. Flüchtlingswissen und Formen der Souveränität jenseits des Nationalstaats", so der etwas verkopft klingende Titel. Zu der Idee, Lager auf die Unesco-Liste setzen zu lassen, meint der Journalist Werner Bloch, der am Symposium teilgenommen hat:
"Vielleicht ist das gar nicht so absurd. Wenn Sie sich mal die Kriterien durchlesen in den Statuten des Weltkulturerbes, dann sehen Sie, dass durchaus einige davon hinhauen. Die Palästinenser würden sich natürlich sehr freuen. Sie haben übrigens vor ganz kurzer Zeit (…) durchgesetzt, dass die Innenstadt von Hebron als Kulturerbe anerkannt wurde – gegen den massiven israelischen Widerstand."
Lager wieder in den Fokus rücken
Über den Kulturaspekt sei es offenbar möglich, das Flüchtlingsproblem der Palästinenser – das angesichts Hunderttausender Flüchtlinge aus Syrien derzeit in den Hintergrund gerückt sei – nach vorne zu rücken und die Öffentlichkeit zum Nachdenken zu bringen.
Spannend seien die Symposiumsbeiträge allemal gewesen, weil sie Klischees über die Flüchtlingslager aufgebrochen hätten, sagte Bloch weiter: Dort, wo es keine offiziellen Autoritäten gebe, die das Leben im Lager regelten und die Menschen somit ihren Alltag selbst organisierten, müsse nicht zwangsläufig das Chaos herrschen, sondern dieser Zustand könne auch "zu bestimmten Formen des Wissens" führen: Anhand verschiedener Beispiele hätten die Symposiumsteilnehmer, etwa die Architektin Sandi Hilal, eine Mitbegründerin des experimentellen Bildungsprogramms "Campus in Camps", belegt, dass es in den selbstorganisierten Lagern so gut wie keine Gewalt und Drogen gebe.
Und obwohl die Situation in den Lagern keineswegs romantisiert werden solle, sei doch eine wichtige Erkenntnis: Durch diese Selbstverwaltungsstrukturen entstehe ein alternatives Wissen darüber, "wie Menschen miteinander etwas aushandeln. Und es funktioniert offenbar besser als in manchen europäischen Großstädten, wo an der Ecke ein Polizist steht".