Klaus von Dohnanyi: "Nationale Interessen"
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Gezielte Zumutungen
06:53 Minuten
Klaus von Dohnanyi
Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler UmbrücheSiedler Verlag, München 2022240 Seiten
22,00 Euro
Klaus von Dohnanyis Buch provoziert: Die Freundschaft zu Amerika sei ein Missverständnis. Eine wertegeleitete Außenpolitik eher hinderlich. Und eine harte Linie gegen Russland liege im Interesse der USA, nicht jedoch Europas.
Klaus von Dohnanyi, Ex-Minister und Regierender Bürgermeister von Hamburg, hat ein unbequemes Buch über Deutschlands „nationale Interessen“ geschrieben. Darin stellt er alte Bündnisse infrage, etwa zu den USA: „Es gibt im Establishment in Washington Leute, die seit Jahrzehnten nichts anders im Kopf haben, als Russland weiter zurückzudrängen. Das mag in deren geopolitischem Interesse sein, in Europas Interesse ist es nicht. Und das müssten wir in Washington einmal deutlicher machen.“
Dies ist nur eine von mehreren überraschenden Aussagen des ehemaligen Ministers in den Regierungen von Willy Brandt und Helmut Schmidt. Der 93-jährige Klaus von Dohnanyi ist zwar für deutliche Worte – auch gegenüber seiner eigenen Partei – bekannt, aber bislang nicht als scharfer Amerika-Kritiker ins Bewusstsein gerückt. Das scheint der Grandseigneur der deutschen Sozialdemokratie nun nachzuholen.
Die Freundschaft mit den USA: ein „Missverständnis“
Hören wir das richtig? Die USA und Europa sind keine so engen Freunde, wie das einer, der im Kalten Krieg groß geworden ist, eigentlich sagen müsste?
„Es ist nur natürlich, dass Amerika als stärkste Weltmacht seine eigenen Interessen verfolgt, auch im Umgang mit den Verbündeten in Europa. Wir Europäer sollten das endlich zur Kenntnis nehmen und das Missverständnis einer ‚Freundschaft‘ zwischen den USA und Europa, also einer solidarischen Gemeinschaft, endlich klären, im eigenen Interesse. Nach meiner Überzeugung könnte dann eine Partnerschaft zwischen den USA und Europa besser gedeihen.“
Klaus von Dohnanyi hat ein „Buch ohne Schnörkel“ geschrieben, wie er selbst in der Einleitung sagt. Ein Buch, das Diskussionen auslösen soll und vor allem provozieren. Nach ein paar Seiten Lektüre kann man getrost sagen, dies ist ihm gelungen. Er eröffnet den Reigen der Zumutungen mit dem Bekenntnis, dass die geopolitischen Interessen der USA und der Europäer, insbesondere der Deutschen, schon lange nicht mehr auf einer Linie liegen. Als besonderes Beispiel führt er das Verhältnis zu Russland auf.
In einem Interview mit dem SWR erklärt er: „Wir müssen sehen, dass die USA ein ganz anderes Sicherheitsinteresse haben als die Europäer. Russland ist 5000 Seemeilen entfernt von den USA – aber Russland ist nur ein paar Meter von der europäischen Grenze entfernt.“
Viel Verständnis für Moskau
Davon ausgehend diagnostiziert von Dohnanyi einen gravierenden Fehler der USA: Die Ausweitung der NATO nach 1990 hätte nie geschehen dürfen. Dies – so argumentiert er auch in seinem Buch – habe der damalige US-Präsident George Bush auch der Führung in Moskau signalisiert, allerdings nur mündlich. Schriftlich niedergelegt wurde diese für Moskaus so wesentliche Sicherheitsgarantie jedoch nie. Dass sich Präsident Putin nun in seiner Argumentation genau darauf konzentriert, sei aus der Sicht Russlands nur verständlich.
Mutiert von Dohnanyi nun zum Putin-Versteher? So einfach macht es sich einer der letzten Zeitzeugen von Brandts Ostpolitik allerdings nicht. Auch wenn es angesichts der momentanen Situation widersinnig erscheint, unterstellt er Russland ähnliche Sicherheitsinteressen wie den USA. Nach dem Motto: Not in my backyard.
„Europa und der europäische NATO-Raum werden heute militärisch nicht bedroht. Auch das geografisch nahe Russland bedroht Europa militärisch nicht. Aber Moskau reagiert auf das Vordringen des westlichen Militärbündnisses NATO an die Grenzen der Russischen Föderation. Putin hat zwar mehrfach erklärt, dass die Ukraine ein Recht auf politische Selbstständigkeit habe, aber die Eingliederung der Ukraine in die NATO, also eines Gebietes, das über lange Zeit auch Teil des russischen Reiches und der Sowjetunion war, ist für ihn eine andere Sache.“
Deutschland müsste mehr Abstand wagen – zu den USA
Was also wären dann – nicht nur in diesem Konflikt – die deutschen „nationalen Interessen“? Die Antwort hat es in sich: Distanz. Nicht etwa zu Russland, sondern zu den USA. Dohnanyi sagt: „Eine entscheidende Konsequenz der Politik der USA nach 1990 ist doch, dass Russland, das bisher nach Europa orientiert war, sich nun nach China orientiert, dass sich sogar der chinesische Präsident in der Ukraine einmischt und in der NATO. Das ist die Folge der Politik der USA.“
Seine Schlussfolgerung: Gerade Deutschland müsse sich vom amerikanischen Leitbild, Russland sei ein „Evil Empire“ lösen und – jetzt passiert es doch – zum „Putin-Versteher“ werden. Fast schon könnte man denken, Klaus von Dohnanyi würde seiner Partei helfen, an der alten Ostpolitik festzuhalten. Er verteidigt sogar Nord Stream 2 als „legitimes deutsches Interesse“. Aber so leicht – wie gesagt – macht er es dann der Partei, der er seit 1957 angehört, doch nicht.
Das Ziel Europas: eine „allianzneutrale Position“
Die Vorstellung, Europa würde ein Machtfaktor im Spiel der Mächtigen wie USA, Russland oder China werden, wenn es sich nur einig wäre, sei eine „Illusion“. „Aber angesichts der realen Lage in Europa sollten wir festhalten: Europa kann durch militärische Kraft, sei es die der EU oder die der von den USA beherrschten NATO, nicht wirklich gesichert werden. Das Ziel Europas muss am Ende eine allianzneutrale Position sein. Wer sich selbst gegenüber einem Stärkeren nicht mehr wirkungsvoll verteidigen kann, für den ist es immer sicherer, sich nicht einzumischen in Konflikte der Größeren und sich auch nicht durch eine Allianz zu binden.“
„Äquidistanz“ bedeutet in der Geografie, einen gleichen Abstand zu zwei Polen zu haben. Die Pole sind für den enttäuschten Transatlantiker klar: die USA und China. Deutschland nationales Interesse gegenüber Russland hingegen könne nur im „Wandel durch Annäherung“ gewahrt werden. Eine „wertebasierte Außenpolitik“, wie sie die Regierungskoalition verfolgt, ist für den Pragmatiker von Dohnanyi dabei eher hinderlich. „Das war noch nie erfolgreich – und das wird auch in Zukunft nicht erfolgreich sein. Wir werden nicht in der Lage sein, die Systeme zu ändern“, schreibt er als letzte Zumutung.