Wo Dokumentarfilme Ignoranz bekämpfen
Leena Pasanen, die neue Direktorin des Dokfilmfestes Leipzig, hatte zum Start des Festivals angekündigt, sie wolle sich auf die Geschichte der Dokwoche besinnen. Gleich mehrere Beiträge im Wettbewerb des Festivals könnten als Beleg für diesen neuen Ansatz gelten.
Dokumentarfilme seien ein hervorragendes Mittel, um Ignoranz und Engstirnigkeit zu bekämpfen, sagte die neue Festivaldirektorin Leena Pasanen in ihrer Eröffnungsrede. Die Worte galten dem Legida-Aufmarsch, der parallel zum Festivalauftakt stattfand. Um die Worte in die Tat umzusetzen, habe man sogar überlegt, Freikarten an Legida-Anhänger zu verteilen. Eine kühne, aber richtige Idee: Denn wer wirklich will, kann durch Dokumentarfilme lernen, die Welt genauer zu sehen. Das hat das Festival in diesem Jahr immer wieder bewiesen.
So ist es dem ukrainischen Regisseur Vitaly Mansky gelungen, einen Film über Nordkorea zu drehen. Einen Film in Nordkorea zu drehen, ist heute nichts Besonderes, die Bilder von freudig singenden und marschierenden Jungpionieren etwa wie in Manskys Film "Under the Sun", sind relativ leicht zu machen: Nordkorea braucht Devisen und sucht nach Partnern für Koproduktionen. Die sind dann komplett durchreguliert, werden von einem Heer an Betreuern überwacht, damit am Ende keine andere Wirklichkeit in der Welt ankommt als die vom Staat gewollte.
Ein Making-of der Propaganda
Mansky hat mit "Under the Sun" allerdings das Kunststück fertiggebracht, die Kamera auch dann laufen zu lassen, wenn die gewünschte Wirklichkeit eingerichtet wurde von nordkoreanischen Aufpassern. Die Essenszene in der Modellfamilie wird vielfach durchgespielt, damit das Mädchen Lee Zin-Mi die gesundheitsfördernde Wirkung des Kimchi möglichst natürlich lobt. Selbst ein Kriegsveteran, der Zin-Mis Schulklasse von den Heldentaten der Geschichte erzählt, wird in seiner Erzählung mehrfach korrigiert. "Under the Sun" ist so zu einem Film über die eigenen Dreharbeiten geworden, ein Making-of der Propaganda.
"Und sie können sowohl sagen, wir wollen was inszenieren, wir wollen mit dem Model irgendwas machen, was dem Bild entspricht, oder aber auch ganz trocken, anatomisch richtiges, malerisches Grundstudium machen. Wir machen beides", erklärt ein Kunstprofessor in Mario Schneiders Dokumentarfilm "Akt" aus dem Deutschen Wettbewerb. Schneider macht etwas ganz Einfaches: Er folgt den drei Frauen und einem Mann, die sich in Leipziger Malkursen als Aktmodell zur Verfügung stellen, in deren Leben.
Langsam umkreist die Kamera zu gravitätischer Musik die nackten Körper, um von da auf beschädigte Biografien zu schließen. Denn die Schönheit, die man mit Aktdarstellungen in der Kunst verbindet, hängt nicht an der Makellosigkeit der Körper, wie Annette festgestellt hat, die selbst Malerei studiert und nebenher Modell steht: "..es ist total egal, es ist eigentlich eher schön, wenn man sich eben nicht so positioniert, dass man irgendwie hübsch aussieht oder so was, sondern wenn man entspannt ist und auch in Kauf nimmt, dass man mal hässlich aussieht oder so."
Geborgenheit im Atelier
Schneiders Film handelt auf eine große und zugleich konkrete Weise von Geborgenheit und dem Kampf darum. Ein sehr berührender Blick in unsere scheinbar so klar geschichtete Gesellschaft.
Zu den pikantesten Beiträgen im diesjährigen Programm gehörte "Der Kuaför aus der Keupstraße" von Andreas Maus. Der Film lenkt den Blick auf die Folgen des Nagelbombenattentats, bei dem 2004 17 Menschen verletzt wurden und das 2011 schließlich dem rechtsterroristischen NSU zugeordnet werden konnte. Im letzten Jahr ist ein großes Straßenfest veranstaltet worden – mit Bundespräsident ("Hallo, Guten Tag, meine Herren, da bin ich" ) und klackernden Kameras. Aus der Perspektive des Films erscheint der Medienpulk bizarr, als durchziehender Schwarm, der für ein paar strahlende Fotos Station macht:
"Ich möchte jetzt noch mal, dass wir ein Bild mit der Frau Ministerin, Innenminister, türkischen Botschafter, meinetwegen kann der OB auch kommen, aber der ist ja öfter hier."
Am Ende stehen die, um die es bei dieser Inszenierung doch gehen soll, in der letzten Reihe: die Betreiber des Friseurgeschäfts, vor dem die Bombe hoch ging, die Brüder Hasan und Özcan Yildirim.
"Der Kuaför aus der Keupstraße" schiebt, wenn auch oft mit unnötiger inszenatorischer Wucht, das in den Vordergrund, was auf diesen Bildern nicht zu sehen ist. Den Schmerz, das Trauma des Anschlags selbst, vor allem aber der sieben langen Jahren, in denen die Opfer der rassistischen Tat zu verdächtigen Täter gemacht wurden. Einer von ihnen, Abdullah Öcan, erklärt mit Blick auf ein Foto mit der Bundeskanzlerin:
"Da lachen wir alle fröhlich, schön in die Kamera, immer lachen, es ist auch ein schönes Bild, sag ich mal, in Erinnerung, es tut auch gut, wenn man drauf guckt, nur wenn man's weg tut, tut's weh, weil danach nichts passiert."
Er wünscht sich eine noch immer fehlende psychologische und soziale Betreuung der Opfer, statt, bei aller Wichtigkeit solcher repräsentativer Gesten, dauernd nach Berlin zu fahren, um in Politikerselfies rumzustehen.
"2013 waren wir dreimal da, das ist ein Haufen Geld, was aus dem Fenster rausgeschmissen wird, um nur der Presse oder den Menschen in Deutschland oder in der Welt zu zeigen, wir stehen zu den Opfer, bei den Opferfamilien ... was soll das?"
Wenn Dokumentarfilme Ignoranz und Engstirnigkeit bekämpfen können, dann müsste "Der Kuaför aus der Keupstraße" eine Debatte anstoßen – spätestens wenn er im Februar in die Kinos kommt.