Ein ganzes Festival im Netz
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Kann man ein Dokumentarfilmfestival ins Netz verlegen? Das Dokfest München hat es versucht. Auch wenn das Kino-Feeling nur begrenzt ist und mancher menschliche Momente vermisst, das Wichtigste ist: Das Festival findet statt.
Selten war das Deutsche Theater München so leer wie zu dieser Festivaleröffnung, in den Rängen sitzen drei Leute, auf der Bühne steht Moderatorin Christina Wolf. "Dieses Jahr wird auch beim Dokfest alles ein bisschen anders sein. Ich heiße sie herzlich willkommen", sagt Wolf.
Der Applaus – nun ja – ist ein bisschen Fake, er kommt vom Band, aber er passt zur skurrilen Situation. Denn am Mittwoch, dem Eröffnungsabend des Münchner Dokfest 2020, sehen 1100 Menschen an ihren Computerbildschirmen zu – nur eben online. Der Festivalleiter Daniel Sponsel ist stolz: Denn noch vor eineinhalb Monaten stand er vor der Frage, ob er und sein Team nicht absagen müssen.
Die richtige Entscheidung
"Wir haben durch die äußere Wirklichkeit erfahren müssen, dass wir regulär nicht stattfinden können und darauf reagieren müssen. Und das ging dann tatsächlich relativ schnell, dass wir uns die Option angeschaut haben, sollen wir absagen, was heißt das für uns und für die Filme? Geht verschieben? Oder können wir online gehen? Und zum Glück haben wir uns jetzt für die Online-Edition entschieden. Denn Verschieben hätten wir ja gar nicht gekonnt. Denn das wäre ja im Sommer gewesen und da geht ja immer noch nichts. Also das war dann wirklich die richtige Entscheidung", betont Sponsel.
Nun galt es, innerhalb eines guten Monats das Festival komplett ins Netz zu verlegen – und das hieß vor allem, das Okay der geldgebenden Institutionen zu bekommen. Auch die Online-Rechte der Filme musste das Team klären: Drei Viertel der angefragten Dokfilme können auch online gezeigt werden.
60 Jahre von Auschwitz geschwiegen
Darunter auch der Eröffnungsfilm "Euphoria of Being", der erzählt, wie sich die 90 Jahre alte ungarische Auschwitz-Überlebende Éva Fahidi eine Tanzperformance mit einer professionellen, jungen Tänzerin erarbeitet: Im Tanz wie im Erzählen drückt sich ein Leben aus, das 60 Jahre lang über die Erfahrung des Holocaust geschwiegen hat. Warum, das erzählt die rüstige Dame in der Fragerunde nach dem Film – natürlich wie so viel in diesen Tagen über das Videokonferenzprogramm Zoom. Sie habe einfach 60 Jahre lang gebraucht, das Trauma zu überwinden.
"Der, der ein richtiges Trauma überlebt hat, kann darüber lange Zeit nicht sprechen. Der Holocaust war auch psychisch so ausgearbeitet, muss ich sagen, dass man auch eine große Herabsetzung erleben musste", erzählt Fahidi.
Der Regisseurin Réka Szabo gelingt es, Éva Fahidi vom Verlust ihrer Würde im Konzentrationslager erzählen zu lassen – und gleichzeitig in Nahaufnahme darzustellen, wie die 90-Jährige nun mit umso größerer Energie, sinnlicher Freude – und einem erstaunlich jung gebliebenen Körper den Ausdruck auf der Bühne sucht. Ein intimer und weiser Film über die Widerstandskraft des Lebens.
Begrenztes Kino-Feeling
Doch natürlich ist das Kino-Feeling bei so einem Online-Dokfest begrenzt. Gerade wenn man als Zuschauer die Filmgespräche auf demselben Programm verfolgt wie die Telefonkonferenzen im beruflichen Alltag. Der Journalist Chris Schinke klickt sich für die Zeitschrift "Münchner Feuilleton" durch die Filme.
"Diese schönen menschlichen Momente, wenn man nach dem Film vor dem Kino nochmal zusammensteht und diskutiert, was man da gerade gesehen hat. Oder wenn man sich nach dem Kino in einem Café oder einer Kneipe zu ein, zwei Bier trifft. Das sind so die schönen Momente, an die ich bei den letzten Dokfest-Ausgaben zurückdenke", berichtet Schinke.
Die fielen dieses Jahr auf dem heimischen Sofa aus. Die Film-Diskussion werde gerade auch auf Facebook lebhaft geführt. "Das Community-Gefühl entsteht so ein bisschen, aber natürlich ist das kein Ersatz zum menschlichen Austausch in der realen Welt. Also es ist ein kleiner Ersatz, kein richtiger", so Schinke.
Eine Messe im Netz
Das Organisationsteam hat nicht nur das Festival-Filmprogramm ins Netz verlegt, sondern auch den Teil fürs Fachpublikum. Der Münchner Produzent Ingo Fliess nutzt das Dokfest als eine Art Messe, bei der aus Ideen Filmprojekte werden. Normalerweise passiert das in Pitching-Runden, bei denen Produzentinnen und Abgesandte von Fernsehsendern auf Filmemacherinnen treffen.
"Sie haben mögliche Teaser oder Trailer, die dort mitgeliefert wurden, also von bereits gedrehtem Probematerial angeschaut, sie haben sich ein Bild gemacht vom Budget und den Notwendigkeiten, die das Projekt hat. Und jetzt gibt es eben noch diese entscheidende leere Stelle, nämlich die Persönlichkeit der Filmemacherin, des Filmemachers. Den im Pitch zu erleben, also in einem Raum mit insgesamt vielleicht acht bis zwölf Leuten am Tisch ist natürlich sehr sehr aufschlussreich", sagt Fliess.
Das Dokfest verlegt nun auch diese Pitching-Runden ins Netz – zum persönlichen Kontakt müssen Kamera und Mikro des heimischen Computers ausreichen. Ingo Fliess ist sich sicher, er wird sich daran gewöhnen müssen, und es könnte, wie anfangs beim Ticketverkauf, auch technische Startschwierigkeiten geben. Doch er will sich darauf einlassen – allein schon, weil ihm die Arbeit des Teams Respekt einflößt.
"Dass das Dokfest jetzt da nicht kneift, sondern einfach sagt, wir machen das, wir probieren das und wir stellen das auf die Beine, das finde ich triumphal. Ich finde es irre mutig und es kann auch überhaupt nicht richtig schiefgehen", meint der Produzent. Will heißen: Zumindest moralisch hat das Dokfest jetzt schon gewonnen.