Martin Tschechne ist Journalist und promovierter Psychologe. Er wurde mit dem Medienpreis der Deutschen Gesellschaft für Psychologie ausgezeichnet. Zuvor erschien seine Biografie des Begabungsforschers William Stern (Verlag Ellert & Richter, 2010).
Promoviert nicht!
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Sie bringen die Wissenschaft voran und ihre Autorinnen und Autoren in Ämter und Würden. Gilt das für Dissertationen wirklich noch? Martin Tschechne, selbst seit 30 Jahren "Dr.", bezweifelt das - und schlägt vor, die Zeit sinnvoller zu nutzen.
Schon wieder so ein Absturz! Ein bisschen salopp gearbeitet, ein paar gute Ideen anderer Leute als eigene ausgegeben. Sprich: Nicht wissenschaftlich korrekt zitiert, sondern einfach mal die Gänsefüßchen weggelassen. Schließlich soll am Ende ein "summa cum laude" unter dem Opus stehen – und, zack, ist der Doktortitel weg.
Die Reihe der Opfer ist lang. Und gerade, wer ein öffentliches Amt ausübt oder sich auf den Weg dorthin macht, sollte einen Aufstieg aus den Maschinenräumen der Politik in die helleren Etagen – guten Morgen, Herr Doktor, guten Morgen, Frau Doktor – ganz besonders behutsam angehen.
Keiner ist mehr sicher
Seit nämlich nicht mehr Neider oder missliebige Kollegen Seite um Seite wenden müssen, um die Dissertationen ihrer Rivalen auf Plagiat und Schummelei abzusuchen, seit speziell programmierte Algorithmen das alles viel besser können – seither rattern die Suchmaschinen. Unermüdlich. Gnadenlos.
In Millisekunden finden sie jede Folge von Wörtern in jeder nur denkbaren Vorlage. Nichts bleibt unentdeckt. Und keiner mehr darf sich sicher fühlen: Mathiopoulos und Koch-Mehrin, zu Guttenberg und Schavan, kürzlich erst zwei Zahnärztinnen – alle aufgeflogen.
Andreas Scheuer hat freiwillig verzichtet, Ursula von der Leyen ist knapp davongekommen, Michael Neumann in Hamburg hat's erwischt. Jetzt richten sich alle Augen auf die Familienministerin Franziska Giffey.
So genau wird schon keiner hinschauen
Und es wird auch Titelträger treffen, die sich gar keiner Schuld mehr bewusst sind. Denn wer erinnert sich schon in aller Ehrlichkeit gegen sich selbst an die langen Nächte, an die hundert Jahre Einsamkeit, die Verlockungen da draußen und die Not, jetzt sofort, mitten im Fluss der Arbeit, eine Quelle zitieren zu sollen, die nur im Präsenzapparat der Universität von Uppsala aufzutreiben ist?
Ach was, komm, so genau wird schon keiner hinschauen. Die Universität Münster verweist auf ein eigenes Seminar, um solche Leichtsinns- und Dummheits-Fehler zu vermeiden. Denn später könnten sie einem das akademische Genick brechen – und das kann richtig wehtun.
Promotion ist ein Anachronismus
Aber liegt in strengerer Kontrolle und Selbstkontrolle wirklich die Lösung des Problems? Nein, die muss radikaler sein. Sie muss lauten: Lasst es bleiben! Die Promotion ist ein Anachronismus, eine rituelle Geste aus Zeiten, in denen 400 Seiten im ominösen Jargon einer Elite noch Voodoo für ein ganzes Berufsleben versprachen. Das ist sehr lange her!
"Popjournalismus im Zeitgeistmagazin Tempo". Oder: "Die Farbwahrnehmung beim Goldfisch": Irgendjemand hat vier, fünf oder mehr Jahre seines Lebens dafür geopfert. Vielleicht, um sich tatsächlich für die Exerzitien der Fachwissenschaft zu empfehlen. Aber in der Regel wohl eher, um eine Karriere außerhalb mit einer stolzen Feder am Hut zu beginnen – auch wenn die dann nicht viel mehr bestätigt als die Hartnäckigkeit des Kandidaten. Oder seine Unverfrorenheit.
"Die politische Entwicklung in der Pfalz", seinerzeit berühmt geworden als Dissertation von Dr. Helmut Kohl. Später lange unter Verschluss gehalten. Wird man nun Bundeskanzler wegen solcher Ausarbeitungen? Oder wird man es trotzdem?
Keine Ehrfurcht mehr vor einem Dr. phil.
Was sich festhalten lässt: Früher waren die Arbeiten dürftig, heute werden sie abgeschrieben.
Dabei ist der Glanz längst matt geworden: Nein, ein Doktortitel ist nicht mehr geeignet, einen besseren Sitzplatz im Kino oder Vorzugsbehandlung in der Behörde zu ergattern. Und auch Kunden, Klienten oder Arbeitgeber, die gegenüber einem Dr. phil., rer. pol. oder iur. in Ehrfurchtsstarre verfallen oder spitze Schreie der Bewunderung ausstoßen, sind leider selten geworden.
Wer ins Geschäft kommen will, der muss sich fragen lassen: Was kannst du wirklich? Und wenn dann einer antwortet: Ich habe promoviert über "Interurbane Fremdheiten in Berliner Stadttexten der Jahrtausendwende", dann könnte es sein, dass eben ein anderer den Auftrag bekommt. Einer, dem das wirkliche Leben nicht ganz so fremd geblieben ist.