Der ZDF-Film "Stunden der Entscheidung – Angela Merkel und die Flüchtlinge" ist heute Abend um 20.15 Uhr im ZDF zu sehen, aber auch schon jetzt in der ZDF-Mediathek verfügbar.
Zehntausende Flüchtlinge auf dem Weg nach Deutschland
09:58 Minuten
Budapest, Österreich, deutsche Grenze: Am 4. September 2015 beschließt Kanzlerin Merkel, eine große Anzahl von Flüchtlingen einreisen zu lassen. Das ZDF hat die Ereignisse dieses Tages nun als "Polit-Krimi" inszeniert, sagt unser Hauptstadt-Korrespondent Stephan Detjen.
Dieter Kassel: Der Film, der heute Abend im ZDF zu sehen ist, trägt den ziemlich dramatischen Titel "Stunden der Entscheidung – Angela Merkel und die Flüchtlinge", und vor allen Dingen der erste Teil des Titels ist wörtlich zu nehmen: Dieser Film zeigt wirklich einen Zeitraum von, ich würde sagen, noch nicht mal 24 Stunden am Tag und am Abend des 4. September 2015, also dieser Tag, an dem Flüchtlinge sich von einem Budapester Bahnhof aus auf den Weg gemacht haben zu Fuß, 180 Kilometer, bis zur ungarisch-österreichischen Grenze.
Und in diesem Film ist in einer Mischung aus nachgestellten, gespielten Szenen mit Schauspielern, echten Ausschnitten aus Nachrichtensendungen und anderem von damals und Interviews mit einigen der Menschen, Politiker aber auch Journalisten, die damals etwas zu tun hatten mit diesen Ereignissen und den Entscheidungen, zu sehen, wie hektisch das damals abgelaufen ist – das, aber auch nicht sehr viel mehr.
Über sehr viel mehr wollen wir jetzt aber mit Stephan Detjen reden, er ist zum einen Leiter unseres Hauptstadtstudios, hat als Journalist diesen Tag damals vor vier Jahren und die Tage danach miterlebt und zusammen mit Maximilian Steinbeis ein Buch über diese Zeit geschrieben, das allerdings sich nicht nur mit diesen paar Stunden beschäftigt.
Der Titel des Films verspricht natürlich Spannung und Dramatik. Bei mir war es so, als ich das gestern Abend schon geguckt habe: Der Teil hat funktioniert. Spannende 90 Minuten waren es. Aber hat der Film darüber hinaus auch irgendeinen Erkenntnisgewinn zu bieten?
Spannend - aber kaum neue Erkenntnisse
Detjen: Ich habe das auch mit Spannung gesehen, man bleibt dran, da wird ja viel dokumentiert, aber auch viel nachgespielt. Insofern ist das unterhaltsam, es ist spannend, es ist ein Polit-Krimi, so war das ja damals in der Nacht, das war eine ausgesprochen spannungsreiche Situation.
Ich glaube, wer sich nicht im Detail damit beschäftigt hat, der erfährt schon einiges aus dem Innenleben der Politik, aus der Mechanik dieser Entscheidungsprozesse im Bundeskanzleramt, auf internationaler Ebene. Aber neue Erkenntnisse als jemand, der sich damit beschäftigt hat, muss ich sagen, brachte mir dieser Film nicht.
Kassel: In dem Buch, dessen Co-Autor Sie sind, geht es im Kern um diese Frage des Rechtsbruchs, dieser Mythos Rechtsbruch durch diese Grenzöffnung. Ich hatte das Gefühl, in dem Film gibt es nicht nur keine Antwort auf diese Frage, eigentlich kommt die Frage gar nicht richtig vor.
Detjen: Nein, das kommt in dem Film in der Tat allenfalls am Rande vor. Das liegt aber auch an dem Fokus, den die Autoren des Films, Sandra Stöckmann und der "Zeit"-Autor Marc Brost, wählen: Sie fokussieren sich eben auf diese eine Nacht, in der Angela Merkel entschieden hat, die aus Ungarn Richtung Westen laufenden Flüchtlinge über Österreich in Deutschland aufzunehmen.
Der eigentliche Streit über die Entscheidungen der Flüchtlingspolitik, der uns seitdem beschäftigt, der sich dann in diesem Vorwurf, damals sei das Recht gebrochen worden, die Verfassung außer Acht gesetzt worden, der sich darin verdichtet, - dieser Vorwurf knüpft eigentlich an die Zeit danach an. Da geht es viel mehr um Entscheidungen, die später – etwa in einer berühmten Besprechung im Bundesinnenministerium am 13. September – gefallen sind, als die Bundesregierung sich nämlich entschieden hat, die Grenze nicht zu schließen.
Die Grenzen waren ja immer offen gewesen, und nachdem dann in der Folge der Entscheidung vom 4. September noch mal eine große Menge von Flüchtenden, Schutzsuchenden in Deutschland ankam, da stand man vor der Frage, die auch in der Bundesregierung damals kontrovers diskutiert wurde: Schließen wir die Grenzen? Setzen wir Bundespolizei mit Wasserwerfern unter Umständen an der deutsch-österreichischen Grenze ein, um Flüchtlinge davon abzuhalten, nach Deutschland zu kommen? Man hat sich dagegen entschieden – und das ist der eigentliche Streit gewesen. Der liegt aber nach dieser Nacht, die in diesem Film geschildert wird.
Kassel: Dieser Film beginnt schon tagsüber und er beginnt erst mit einem Routinetag für die Bundeskanzlerin, also die ersten Minuten sind noch in ihrer Wohnung in Berlin-Mitte und dann fährt sie halt ins Kanzleramt, plaudert, da wird sie natürlich dargestellt von einer Schauspielerin. Ich hatte am Anfang einen etwas komischen Eindruck davon. Ich meine, Sie kennen, genau wie wir alle, Frau Merkel nicht wirklich privat, aber als Journalist sind Sie doch immer mal wieder näher an ihr dran gewesen als viele andere. Wie haben Sie diese Darstellung der Kanzlerin da in den Spielszenen empfunden?
Merkel als eine phlegmatische Dame mit Berliner Akzent
Detjen: Man muss noch mal sagen, der Film lebt aus einer Mischung von dokumentarischen Bildern, die zum Teil sehr eindringlich sind, er arbeitet sehr stark den humanitären Druck heraus in zum Teil nachgestellten, aber eben vielen Originalbildern vom Budapester Bahnhof, von den Menschen, die sich dort auf den Weg Richtung Westen machten. Das wird sehr eindringlich geschildert. Aber dann gibt es eben diese nachgespielten Szenen in diesem Doku-Drama mit Schauspielern, – Heike Reichenwallner heißt die Schauspielerin – , bisher keine fernsehbekannte, eine Theaterschauspielerin, die man für die Rolle Angela Merkels ausgewählt hat. Und ich musste da auch erst mal fast lachen, als ich das gesehen habe.
Sie spielt die Bundeskanzlerin, so als eine gemütlich-phlegmatische Dame mit Berliner Akzent, die im Dienstwagen ihr Brötchen mümmelt und dann zwischendrin immer wieder aufs Handy schaut. Das gerät fast, gerade am Anfang, zu einer Karikatur der Bundeskanzlerin und da ist dann auch offenkundig ein Spannungsverhältnis, eine Differenz, ein Missverhältnis zu den Originalbildern, in denen man Angela Merkel dann auch in diesem Film immer wieder bei ihren damaligen öffentlichen Auftritten an diesem Tag sieht. Was mir da fehlte, war insbesondere die Energie, die von einer Spitzenpolitikerin, auch von Angela Merkel, in einer solchen Situation ausgeht. Ich glaube, da ist dieses Bild in der Tat etwas verzerrt geraten.
Kassel: Ich fand aber, der Film versucht auch etwas zu zeigen, was ich gar nicht erwartet hätte, nämlich, wie Politik funktioniert und wie der Betrieb funktioniert, mit Einblicken sowohl durch diese Spielszenen als auch durch Gespräche, die geführt wurden. Frau Baumann zum Beispiel ist vielleicht die wichtigste Person im Umfeld von Angela Merkel, ein normaler Mensch kennt sie gar nicht, die spielt da eine große Rolle, sowohl in den Spielszenen als auch in den Interviews. Aber diese Darstellung des politischen Alltags, der schlagartig dann keiner mehr ist, ist die aus Ihrer Sicht gelungen?
Es wird deutlich, wer hinter den Kulissen arbeitet
Detjen: Sie ist, glaube ich, zunächst mal im Wesentlichen, soweit ich das beurteilen konnte, korrekt, wo sie bestimmte Telefonate nachzeichnet, wer hat mit wem telefoniert, Angela Merkel mit dem österreichischen Bundeskanzler Werner Faymann, dann immer wieder die Telefonate ins Bundeskanzleramt, Telefonate, die Peter Altmaier, damals Chef des Bundeskanzleramts, geführt hat, um ad hoc die ersten Maßnahmen zu organisieren, die Abstimmungen mit dem Koalitionspartner, der gescheiterte Versuch – auch das wird sehr richtig dargestellt – der Bundeskanzlerin, in dieser Nacht Horst Seehofer in Bayern zu erreichen, der einfach nicht ans Telefon gegangen war, möglicherweise, weil er ahnte, in welche Entscheidung er da hereingezogen werden würde. Das ist insoweit korrekt.
Es wird einiges deutlich, Akteure zum Beispiel. Sie haben Beate Baumann erwähnt, die Büroleiterin der Bundeskanzlerin seit Mitte der 90er-Jahre, seitdem Angela Merkel Bundeskanzlerin wurde, ihre engste Vertraute, ganz, ganz wichtige Wegbegleiterin der Kanzlerin, eine Frau mit großem Einfluss im Bundeskanzleramt, die in der Öffentlichkeit nie in Erscheinung tritt, in diesem Film wird sie gespielt, das wird deutlich, wer da hinter den Kulissen arbeitet. Aber da werden dann eben auch Dialoge nachgespielt, vertrauliche Gespräche der Bundeskanzlerin etwa mit ihrer Büroleiterin, und wir wissen am Ende nicht: Stimmt das, ist das wirklich so gesagt worden? Da kommt die Fiktion ins Spiel und es bleiben Fragezeichen hinter diesem Film.
Kassel: Kommen wir noch mal auf das, was wir alle, glaube ich, erwarten von diesem Film, nämlich noch mal eine Erklärung: Was ist damals passiert? War die Entscheidung richtig? War sie alternativlos? Schon im Vorspann teilen die Filmemacher uns mit, dass viele mit ihnen gar nicht reden wollten, die Kanzlerin selber auch nicht, das wundert mich bei ihr nicht, aber offenbar auch viele andere nicht. Für mich bekommt das aber alles dadurch auch eine gewisse Einseitigkeit. Bis auf den damaligen Chef des Verfassungsschutzes spricht eigentlich niemand in diesem Film, der die Sache damals kritisch sah und das bis heute so sieht.
Die Dimension des Dramas war größer
Detjen: Ja, das liegt aber auch daran, dass diese Entscheidung vom 4. September, die Entscheidung, die Leute aus Ungarn reinzulassen, eigentlich sowohl damals als auch im Rückblick weitgehend unumstritten ist. Der Streit kommt später. Da hätte man den Fokus dann auf ganz andere Akteure richten müssen, die den Streit innerhalb der Regierung zugespitzt haben und dann auch nach außen getragen haben: Etwa in dieser Besprechung, die ich eben erwähnt habe, im September im Bundesinnenministerium, der damalige und bis heute amtierende Chef der Bundespolizei, Dieter Romann, der sich vehement, lautstark dafür eingesetzt hat, eben die Grenzen mit Polizeimitteln, unter Umständen mit Polizeigewalt dicht zu machen – die müsste man in den Blick nehmen.
Ich glaube, da hätte man den Film anders anlegen müssen. Man hätte sich letztlich auch mehr Zeit nehmen müssen. Die BBC in Großbritannien kann das, die machen über historische Entwicklungen und Entscheidungssituationen von dieser Größenordnung mehrteilige Dokumentarserien. Ich würde mir wünschen, dass auch das deutsche Fernsehen die Kraft dazu hätte. Hier hat man sich drauf konzentriert, eine Situation zuzuspitzen, aber die Sache war eben, die Dimension des Dramas, das sich damals abgespielt hat, größer. Man hätte sich dafür mehr Zeit, mehr Raum nehmen müssen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.