Der Meister der Wahrnehmung
Der Regisseur Jérémie Cuvillier hat die Proben zu Thomas Ostermeiers Inszenierung von Tschechows "Die Möwe" mit der Kamera begleitet. Die Dokumentation gibt einmalige Einblicke in die Arbeit des renommierten Theatermachers.
"Ich bin ein absoluter Voyeur – ich bin zwanghaft damit, Leuten im privaten Raum zuzugucken – mach ich im öffentlichen Raum – mein Theater ist genau das."
Sagt Thomas Ostermeier über sich selbst. Der zwanghafte Voyeur hat uns unvergessliche Theaterabende wie "Hamlet", "Richard III." oder die "Nora" geschenkt. Seit 17 Jahren ist er künstlerischer Leiter der Schaubühne Berlin. Regelmäßig inszeniert Ostermeier in Frankreich – und auch in Lausanne macht er mehrfach Station, zuletzt im Frühjahr. Untypisch für Ostermeier: Bei den Proben von Anton Tschechows "Die Möwe" durfte dieses Mal ein Filmemacher dabei sein. Jérémie Cuvillier begleitete die Schauspieler mit der Kamera. Seine Dokumentation "Auf der Bühne wie im echten Leben" wird am 16. Juli 2016 erstmals um 0.05 Uhr auf ARTE zu sehen sein. Wir fragen Jérémie Cuvillier, wie er den Probenprozess erlebt hat und daraus der Film entstanden ist.
Susanne Burkhardt: Ihr Film beginnt mit dem Satz: "Ich bin ihm näher gekommen und DAS habe ich gesehen" und dann erleben wir Thomas Ostermeier bei den Proben für Tschechows Stück "Die Möwe" und mich interessiert, Herr Cuvillier, was haben Sie gesehen, wie haben sie den Probenprozess mit Thomas Ostermeier und dem Team erlebt?
Jérémie Cuvillier: Der Film wird in der ersten Person Singular erzählt, ich bin es, der da spricht. Und es beginnt mit meinem Satz: "Ich habe mich dieser Arbeit genähert und das ist es, was ich gesehen habe." Von da an beginnt die Erzählung. Im Film geht es viel um Fragen des Blicks, der Beobachtung, denn meine Rolle war ja die des Beobachters. Das ist ein Film, der Tag für Tag entsteht, ohne Drehbuch, ohne andere Perspektiven als der, den richtigen Platz auf der Probenbühne zu finden, von dem aus man am besten sehen kann. Es war vorher mit Thomas abgesprochen, dass ich während der Probenarbeit mit meiner Kamera überall auf der Bühne hingehen kann, auch wenn ich störe, das Licht durcheinanderbringe, die Ordnung auf der Bühne, oder die Unordnung – Thomas arbeitet ja sehr viel mit Unordnung. Es gab also diese Kamera, mit mir als Filmendem, der schon von ganz alleine versucht hat, so diskret wie möglich zu agieren.
Thomas hat das von Anfang an akzeptiert und mitgespielt, er hat versucht mich zu vergessen. Die Schauspieler haben meine Anwesenheit sehr schnell vergessen und ich habe vergessen, dass ich stören könnte. Ich bin also schließlich ganz natürlich in den Probenraum gekommen, man hat sich daran gewöhnt, ich war jeden Tag da, vom ersten Moment der Proben bis zum letzten, habe jeden Tag alles gefilmt. In meinem Film habe ich die Probenarbeit aber nie kommentiert. Ich würde mir nie erlauben, die Arbeit von Thomas zu kommentieren – der Film stellt vielmehr einen Blickwinkel auf diese Arbeit vor, aus der Perspektive der Bühne, aus der Perspektive der Schauspieler.
Tränen während der Proben
Burkhardt: So eine Probenarbeit ist ja ein geschützter Raum, als man ist untereinander, man vertraut sich. Man offenbart Innerstes – so arbeitet Thomas Ostermeier. Dass er die Erfahrungen der Schauspieler mit in das Spiel hineinholen möchte, jetzt gibt es in dem Film Szenen, da erzählt einer der Schauspieler vom Tod seines Vaters, sehr intime Momente, Thomas Ostermeier fordert die Schauspieler auf, darüber zu sprechen, wann sie fremdgegangen sind und ihrem Partner zu erklären, wie das passiert ist und es fließen Tränen in der Probenarbeit, Sie nehmen das mit der Kamera auf und dann wird es durch den Film öffentlich gemacht. War das kein Problem für die Schauspieler?
Cuvillier: Es war so, dass ich Teil der Gruppe geworden bin. Bei den ersten Proben im August 2015 haben die Schauspieler beim Reinkommen eine Kamera entdeckt. Sie waren zwar schon per E-Mail vorgewarnt worden, aber sie waren nicht wirklich darauf vorbereitet. Als sie mich dann mit der Kamera sahen, haben sie sich schon gefragt, ob das nicht ein Element sein könnte, dass den Druck, der auf ihnen lastet noch verstärkt. Mit Thomas Ostermeier zu arbeiten ist fantastisch, aber es verlangt viel von sich selber preiszugeben – ich weiß, dass sie das mit der Kamera anfangs keine gute Idee fanden, das haben sie mir hinterher erzählt. Die Schauspieler mussten mich und die Kamera aber akzeptieren.
"Spielerische Verbindung zwischen Kamera und Schauspielern"
Aber Stück für Stück habe ich ihr Vertrauen erhalten, bin zu einer ständigen Präsenz geworden, zu einem Teil der Geschichte dieser Produktion, so ungefähr haben mir das auch die Schauspieler selber erklärt. Die Kamera war also in dieses Projekt integriert. Thomas findet natürlich auch, dass alles, was während der Proben im Theater gesagt wird oder passiert, einen privaten Charakter hat, deshalb braucht er bei seiner Arbeit diese Intimität, um das aus den Schauspielern herauszuholen, was das Stück zum Leben bringt. Für ihn ist der Probenraum ein intimer Ort und er war sich der Tatsache bewusst, dass die Kamera diese Intimität stören würde. Aber er hat mich auf diese Bühne gebracht, wobei immer klar war, dass nicht er diesen Film macht, und dass es immer die Möglichkeit geben würde, mit dem Filmen aufzuhören, wenn es denn zu sehr stören würde. Es kam dann aber nie dazu. Ich habe mich einfach diskret in diese Organisation eingefügt.
Ich erinnere mich noch, dass ich in der ersten Woche sehr vorsichtig war, immer ein bisschen zu weit weg, und Thomas hat mich zwei, drei mal näher ran gewunken und gesagt, komm her, wenn du willst, hat mich ein bisschen angeschubst. Das haben die Schauspieler natürlich gesehen und verstanden, dass das künstlerische Projekt des Films mit ihrer Arbeit verbunden ist. Beim Filmen der Emotionen war ich komplett mit involviert. Als Francois vom Tod seines Vaters erzählt, von den Erfahrungen mit seinen Schwestern und so weiter, hat man den Eindruck, dass das Leben wiederkehrt, dass das nicht gespielt ist. Aber ich habe mich nie in einer Position gefühlt, die unanständig gewesen wäre. Es gab immer diese spielerische Verbindung zwischen der Kamera und den Schauspielern. Mir war wichtig, meinen Blick auf das zu richten, was dort passiert und zu versuchen, das Geschehen zu antizipieren.
Burkhardt: Wir haben vorhin gehört, wie Thomas Ostermeier erklärt, dass sein Grundinteresse der Voyeurismus ist. Dass er gern andere Menschen beobachtet, merkt man das bei seiner Arbeit mit den Schauspielern, diese genaue Personenführung, die man in Ihrem Film ja auch miterleben kann, dass er sehr an einzelnen Szenen, an Sätzen, an Gesten arbeitet, merkt man dieses Aufsaugen von anderen Biografien, von anderen Geschichten, merkt man das an seiner Arbeit?
"360-Grad-Wahrnehmung des Probenraums"
Cuvillier: Im Film sagt Thomas selber, dass er sehr voyeuristisch ist. Er hat eine Art zu gucken, seinen Blick zu versenken, in unser Inneres vorzudringen, nach den tieferen Seiten unseres Charakters zu suchen. Es ist beeindruckend, eine Person zu erleben, die einen so mit ihrem Blick gefangen nimmt. Ich denke, das macht er auch mit seinen Schauspielern. Im Probenraum fällt auf, dass Thomas nur aus Augen und Ohren zu bestehen scheint. Er nimmt seine gesamte Umgebung war. Man kann dort absolut nichts vor ihm verbergen. Als er einmal sehr auf eine Szene konzentriert war, trat jemand ganz leise im hinteren Teil des Saals ein, und er drehte sich sofort um, um zu sehen, wer das ist, obwohl kein anderer irgendetwas gehört hat. Er hat sozusagen eine 360-Grad-Wahrnehmung des Probenraums. In der Mitte der Dreharbeiten hat er mir gesagt "Jérémie, es ist schrecklich, ich schaffe es nicht, dich zu vergessen, ich versuche es, aber es ist unmöglich."
Burkhardt: Sie haben schon mehrfach Bühneninszenierungen filmisch dokumentiert zum Beispiel die Oper "Brokeback Mountain" in der Regie von Ivo van Hove. Worauf muss man achten, wenn man eine Opern- oder eine Theaterinszenierung für die Leinwand besucht?
Cuvillier: Theaterstücke oder Opern zu filmen bedeutet immer einen Kompromiss zu finden zwischen der Wahl der Perspektive des Filmemachers und der künstlerischen Vorlage des Theaterregisseurs. Denn wenn ich eine Bühnenaufführung filme, soll das in erster Linie repräsentativ sein für die Arbeit des jeweiligen Regisseurs. Wenn ich eine Oper filme, versuche ich Perspektiven zu finden, die erlauben, die Details wertschätzen zu können, die man nicht unbedingt sieht, wenn man im Zuschauerraum sitzt, weit weg oder irgendwo an der Seite, der Zuschauer hat ja immer nur einen Blickwinkel auf die Bühne, und der Vorteil beim Filmen besteht ja darin, dass man verschiedene Perspektiven kombinieren kann. Es ist also wieder die Arbeit des Beobachtens, des Hinsehens, meiner Ansicht nach darf man nicht zu aufdringlich sein, sich nicht einmischen, um nicht zu riskieren die Arbeit der Aufführung zu verfälschen. Aber es ist sehr interessant in das Werk eines anderen einzusteigen, das mag ich sehr.