Leslee Udwin: "Hat sich scheinbar nicht viel geändert"
2012 wurde in Delhi eine Studentin von einer Gruppe Männer vergewaltigt und verstarb an inneren Verletzungen. Das Verbrechen löste in Indien massive Proteste aus. Die Filmemacherin Leslee Udwin hat darüber den Dokumentarfilm "India's Daughter" gedreht.
Filmausschnitt: "Am 16. Dezember 2012 gegen 20.30 Uhr war eine 23-jährige Medizinstudentin nach dem Kinobesuch mit einem Freund auf dem Weg nach Hause. Die beiden riefen einen Privatbus. (Startgeräusche) Ihr Freund wurde zusammengeschlagen, und während der Bus über die Autobahn fuhr, wurde das Mädchen von sechs Männern vergewaltigt."
Die Vergewaltiger zeigten dabei eine entsetzliche Brutalität. Im Dokumentarfilm "India's Daughter' erzählt einer der verurteilten Täter:
Filmausschnitt: "Einer steckte seine Hand in sie hinein und zog etwas Längliches hinaus, es waren ihre Eingeweide. Er sagte: 'Sie ist tot, schmeißt sie schnell raus'."
Die Studentin Jyoti Singh Pandey und ihr Freund wurden gefunden, sie überlebte nur kurze Zeit.
Alle 20 Minuten eine Vergewaltigung
In Indien wird im Durchschnitt alle 20 Minuten eine Frau vergewaltigt, Gewalt gegen Frauen ist alltäglich – auch die Vergewaltiger Jyotis gingen davon aus, dass sie davon kommen - aber die Monstrosität dieses Verbrechens löst einen Proteststurm aus.
Nur einen Tag nach dem Mord gehen Studenten in Massen auf die Straßen, für Indien eine Sensation, wie die Regisseurin von "India's Daughter", Leslee Udwin, in Berlin erzählt:
"Das war unvergleichlich. Indien hat solche Massen auf der Straße und für so einen langen Zeitraum nicht mehr erlebt seit der Unabhängigkeit 1947. Es war wie ein Dammbruch, als sei aller Ärger, bei Frauen und Männern, und alles Leid auf einmal herausgebrochen."
Die britische Schauspielerin und Filmemacherin Leslee Udwin – als Produzentin der britischen Multi-Kulti-Komödien "East is East" und "West is West" zum Begriff geworden – hat in ihrem Dokumentarfilm "India's Daughter" den Fall von Jyoti Singh Pandey und die anschließenden Ereignisse genauestens rekonstruiert. Bemerkenswert ist, dass Udwin mit so vielen Beteiligten sprechen konnte. Auch mit den Tätern im Gefängnis – was sonst fast unmöglich ist - die sich keiner Schuld bewusst sind:
Filmausschnitt: "Es braucht zwei Hände zum Klatschen. Ein anständiges Mädchen würde nicht abends um neun herumstromern. Ein Mädchen ist weit mehr für eine Vergewaltigung verantwortlich als ein Junge."
Das Schlimmste: Was die Anwälte sagen
Weil Jyoti mit einem Jungen unterwegs war, der nicht ihr Mann oder ein Verwandter ist, wollten die Männer ihr eine Lektion erteilen, wie sie es ausdrücken. Dass diese Interviews der verurteilten Täter in der Dokumentation zu sehen sind, führte zum Verbot des Films in Indien. Der Innenminister argumentierte, die Würde von Frauen würde verletzt, indem diese Mördern eine Plattform bekämen:
Leslee Udwin: "Das ist kompletter Nonsens. Als erstes muss ich Ihnen sagen, dass das, was die Vergewaltiger sagten, bei Weitem nicht das Schlimmste war. Das Schockierendste an dem Film ist, was die sogenannten gebildeten Anwälte sagen."
Filmausschnitt: "Wenn meine Tochter oder Schwester in voreheliche Aktivitäten verwickelt wäre, würde ich sie vor den Augen meiner ganzen Familie mit Benzin übergießen und anzünden."
Das erklärte einer der Verteidiger im Fernsehen. Udwin kommentiert die Aussagen von den Angehörigen des Opfers, der Täter, von Polizeichefs und Anwälten nicht – die Wirkung ist manchmal kaum erträglich. Gegen das Verbot gibt es in Indien, außer in verschiedenen Zeitungen, keine Proteste, was Udwin, die seit dem Dreh immer wieder in Indien ist, zwar enttäuscht – ebenso wie die Tatsache, dass die Demonstrationen nach 2012 wieder abgeklungen sind und sich scheinbar nicht viel geändert hat:
Leslee Udwin: "Ich muss zugeben, dass ich manchmal traurig bin, denn wenn man diese Macht der Zivilgesellschaft erlebt hat, dann glaubt man, das ist nicht mehr aufzuhalten. Doch so läuft es nicht. Aber ein sehr gutes Zeichen ist, dass die Meldungen von Vergewaltigungen dramatisch gestiegen sind. Das haben Mädchen früher nie getan, weil es ein großes Stigma hat. Ein Mädchen, das vergewaltigt wurde, findet keinen Ehemann. Die Tatsache, dass darüber geredet wird, ist ein sehr positives Zeichen."
Und auch was das Verbot des Filmes betrifft, macht sich Udwin keine Sorgen:
"Ich sag Ihnen, warum ich optimistisch bin. Am 5. August wird sich der Gerichtshof von Delhi mit dem Verbot befassen, und ich glaube nicht für eine Minute, dass das Gericht den Bann aufrechterhalten wird."