Doku "We Almost Lost Bochum" über Hip-Hop-Crew RAG

Prägend und doch kaum bekannt

06:24 Minuten
RAG
RAG gilt als eine der wichtigsten Hip-Hop-Crews in Deutschland. Der Mainstream kennt sie dennoch kaum. © mindjazz pictures
Von David Freches |
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Die Band RAG gilt als eine der wichtigsten deutschen Rap-Crews. Die vier Musiker prägten den Boom von Hip-Hop in Deutschland mit, wurden selbst jedoch keine Stars. Die Dokumentation "We Almost Lost Bochum" erzählt, wie es dazu kam.
"RAG sind eine der wichtigsten Rap-Crews in Deutschland", sagt Doku-Macher Benjamin Westermann, "aktiv in den späten 90er-Jahren und bis heute prägend für die Geschichte und den Sound von Hip-Hop in Deutschland."

Tiefschürfend und reich an Bildern

"Sie haben eine Art von Rap gemacht, die sehr tiefschürfend war, sehr metaphorisch", fügt Julian Brimmers hinzu, der zweite Autor von "We Almost Lost Bochum". Deswegen sei die Band noch immer wichtig und bis heute im Gespräch. "Vor allen Dingen aber auch, weil die exemplarisch stehen für eine Zeit im deutschen Hip-Hop, in der unheimlich viel passiert ist."
Nämlich eine Zeit, in der aus einer Subkultur mit Jugendlichen auf Jam Sessions ein Massenphänomen wurde. RAG hat diese Hochphase des Deutschrap richtungsweisend beeinflusst. Das gilt vor allem für das Debütalbum "Unter Tage" von 1998, wie Jan Delay, Kool Savas, Marteria oder auch Curse in der Doku erzählen.
"Das erste Mal die ersten vier, fünf Songs von Unter Tage zu hören war - crazy! Crazy! Es ist ein Meilenstein. Also: Unter Tage ist ein Meilenstein des Deutschen Hip-Hops."

Im Mainstream unbekannt

Aber während aus diesen Künstlern und Jam-Bekanntschaften wie Absolute Beginner, Fettes Brot oder Freundeskreis Popstars wurden, gelang RAG selbst dieser Schritt nicht. Obwohl sie prägend war, ist die Band im Mainstream heute unbekannt. Das werfe Fragen auf, sagt Filmemacher Julian Brimmers:
"Warum sagen Leute wie Marteria bis heute: 'Das waren die Wichtigsten!' - obwohl die bis heute ja seit soundso vielen Jahren keine Musik gemacht haben? Was passiert mit den Mitgliedern einer Band, wenn der Ruhm oder dieses Berufsmusikertum einfach ausbleibt?"
Die Bandmitglieder von RAG haben in der Folgezeit alle das Ruhrgebiet verlassen. Ihre Biographien haben sich sehr unterschiedlich, teils tragisch entwickelt. Wie, darauf liegt der Fokus im Film.

Einblicke in Gefühlswelten

"Man spoilert ja nichts, wenn man sagt, dass Michael Galla, der MC, verstorben ist", sagt Julian Brimmers. "Und ich glaube, dass über die Todesumstände von ihm nicht oft gesprochen wird, wenn die sich zusammenfinden in größerer Runde. Dass das so klar ausgesprochen wird wie im Film, was passiert ist, ist selten."
Mal fließen in der Doku Tränen, mal wird gelacht, dann geht es wieder nachdenklich zu. Diese Ehrlichkeit ist es, womit der Film am meisten überzeugt. Die verbliebenen RAG-Mitglieder Aphroe und Pahel sowie der DJ Mr. Wiz erzählen in dieser Ausführlichkeit erstmals ihre ganz persönliche Geschichte, kritisch eingeordnet von ehemaligen Wegbegleitern aus der Hip-Hop-Szene. Die Bandmitglieder geben dabei einen tiefen Einblick in ihre Gefühlswelt. Sich beim Reflektieren sprichwörtlich so nackt zu machen, war für die Band nicht einfach, wie Karsten Stieneke alias Aphroe in einem Kölner Café erzählt:
"Also, wir haben alle unsere Momente im Film, wo wir über unsere Schallgrenze hinaus Sachen preisgeben. Aber die sind auch wichtig, weil wir das auch für uns selber verarbeiten und da auch mal nach draußen staten. Am Ende sieht man den Film und weiß, wie es gewesen ist, wie man tickt, und warum manches so gelaufen ist, wie es gelaufen ist."

Nie gezeigte Archivbilder

Im Film wird es für RAG kritisch, als die Band vor dem heiß erwarteten zweiten Album steht. RAG ist durch einen Plattenvertrag jetzt Teil einer Musikindustrie, von der die Band nicht wirklich weiß, wie sie funktioniert. Ergebnis: Verkaufsdruck, kreative Probleme und interne Spannungen. Es sind nicht nur diese Einblicke, die den Film sehenswert machen, sondern auch das dazu passende Videomaterial. Nie gezeigte Archivbilder, von denen die Band teilweise selbst nicht mehr wusste, dass sie existieren, wie Filmemacher Benjamin Westermann sagt:
"Die Band hat zum größten Teil selbst nicht mehr über diese Sachen verfügt, sondern es waren Freunde der Band, ehemalige Mitstreiter aus der erweiterten RAG-Crew, die uns mit DV-Tapes aus der Zeit versorgt haben. Und das war für uns natürlich - also, wir konnten teilweise selbst nicht glauben, was wir da sehen."
RAG: Die Musiker Pahel, Aphroe und Wiz
Pahel, Aphroe und DJ Mr. Wiz von RAG ziehen 20 Jahre nach der Veröffentlichung ihres Klassikers "Unter Tage" Bilanz.© mindjazz pictures
"We Almost Lost Bochum" ist ein bemerkenswerter Film, der anhand von RAG wie unter dem Brennglas deutsche Rapgeschichte aus der Prä-Internetzeit erzählt, auf tragisch-schöne Weise: Junge Hobby-Musiker gründen eine Band, bringen ein sagenhaftes Album heraus, tragen zum Boom des deutschen Raps bei, profitieren aber selbst nicht davon.

Was Bochum mit Detroit verbindet

Wie es dazu kam – und welche Konsequenzen das teils bis heute hat, all diese Fragen beantwortet die Doku. Nur nicht, warum sie heißt, wie sie heißt. Ein Grund ist, dass die Band in Bochum das zweite Studio hatte und MC Galla in dieser Stadt verstorben ist. Der andere ist eine popkulturelle Referenz, wie Julian Brimmers verrät:
"Der Titel nimmt Bezug auf 'We Almost Lost Detroit' von Gil Scott Heron und Brian Jackson, ein alter Soul-Klassiker."
In dem es um einen Beinahe-Unfall in einem Atomkraftwerk in Detroit geht - eine Region, die wegen des Strukturwandels mit denselben Entwicklungen und Problemen wie das Ruhrgebiet zu kämpfen habe, sagt Brimmers:
"Das klingt ein bisschen merkwürdig, aber gleichzeitig spiegelt es halt doch total wieder, was im Film, die Leitthemen sind: Verlust, Regionalität, auch sich abkapseln von der alten Heimat - das schwingt da alles mit."

"We Almost Lost Bochum"
Ein Film von Julian Brimmers und Benjamin Westermann

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