Dokument über Größenwahn und Verzweiflung

Von Bernd Sobolla |
Der Jesus von Klaus Kinski ist keine Hippie-Happening, sondern eine emotionale, ganz auf die Stimme des Schauspielers reduzierte Erzählung. Jesus Christus gilt hier als einer der "furchtlosesten, freiesten, modernsten" aller Menschen, der sich lieber massakrieren lässt, als lebendig mit den anderen zu verfaulen. Am 15. Mai kommt der Dokumentarfilm "Kinski: Jesus Christus Erlöser" in die Kinos.
Kinski: Jesus Christus Erlöser: "Gesucht wird Jesus Christus. Angeklagt wegen Verführung, anarchistischer Tendenzen, Verschwörung gegen die Staatsgewalt. Besondere Kennzeichen: Narben an Händen und Füßen. Angeblicher Beruf: Arbeiter. Nationalität: unbekannt. Decknamen: Menschensohn, Friedensbringer, Licht der Welt, Erlöser. Der Gesuchte ist ohne festen Wohnsitz. Er hat keine reichen Freunde und hält sich meist in ärmlichen Wohngegenden auf."

Fast zehn Jahre hatte niemand mehr Klaus Kinski mit einem Bühnenprogramm gesehen, als dieser am 20. November 1971 auf die Bühne der Deutschlandhalle tritt. Jahrelang war er erfolgreich in Italo-Western, Edgar-Wallace-Krimis oder auch in "Dr. Schiwago" aufgetreten. Es waren immer nur kleine Rollen, aber diese hatte er genial absolviert. Sein Ruhm war stetig gestiegen, seine Gagen ebenso. Doch die Kinokrise hatte auch Kinski mit seinem ausschweifenden Lebensstil erfasst. Und so geht er auf das Angebot des bis dahin äußerst erfolgreichen Konzertveranstalters Berenbruck ein, sein altes, unvollendetes Projekt "Jesus Christus Erlöser" auf die Bühne zu bringen. Kinski gilt schon damals als exzentrisch. Den meisten ist er vor allem als verschrobener Filmstar bekannt. Aber nur wenige wissen, wie der Regisseur Peter Geyer betont, dass der Schauspieler durchaus eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Gott, dem Christentum und Jesus führte.

Peter Geyer: "Seine Beziehung zum Glauben ist strittig. Sie ist auf jeden Fall gegeben. Und was ganz klar eben auch aus den genannten Fibergedichten hervorgeht, ist eine unglaubliche Beschäftigung mit der Ungerechtigkeit kirchlicher Obrigkeiten. Also ihn hat die Institution Kirche ganz offensichtlich in den frühen Fünfzigerjahren gestört."

Andere potenzielle Veranstalter hatten ein blasphemisches Programm befürchtet und sich nicht auf Kinski als Jesus einlassen wollen. Und an diesem Abend dauert es nicht einmal fünf Minuten, bis sie sich bestätigt fühlen. Denn schon bald ertönen die ersten Zwischenrufer.

Kinski: Jesus Christus Erlöser: "Moment! …"

Viele glauben, Kinski identifiziere sich mit seiner Hauptfigur und möchte sich als neuer Jesus aufspielen, als Wortführer einer Jugendbewegung. Und wenn es irgendwas gibt, was die Studenten, APO-Aktivisten und erprobten Demonstranten nicht wollen, dann ist es das.
Kinski: Jesus Christus Erlöser: "So, dann passt Mal auf! Komm, halt deine Schnauze, damit du hörst, was ich jetzt sage! Und vor allen Dingen, komm Du jetzt hier her, der so ein großes Maul hat! Beifall."

Die vielen pöbelnden Zwischenrufern wollen eigentlich gar nicht zuhören, sondern erwarten eher eine Art Politveranstaltung mit Diskussionscharakter. Und als Klaus Kinski einen Zuschauer auffordert, auf die Bühne zu kommen. Ist dies ausgerechnet einer der wenigen, der zu den religiös interessierten im Publikum gehören.

Kinski: Jesus Christus Erlöser: "Der hat ja schon seine Millionen vom Film. Leute, ich bin kein großer Redner. Und es ist vielleicht wirklich, dass welche von euch Christus suchen. Aber ich glaube, er ist es nicht. Denn Christus war, so viel ich weiß, duldsam. Und wenn ihm einer widersprochen hat, dann hat er versucht, ihn zu überzeugen. Und er hat nicht gesagt: Halt deine Schnauze! Nein, er hat nicht gesagt: Halt die Schnauze! Er hat eine Peitsche genommen und hat ihm in die Fresse gehauen. Das hat er gemacht. Du dumme Sau. Pfeifen. Und das kann dir auch passieren."

In den nächsten drei Stunden verlässt Kinski mehrmals die Bühne, Zuschauer brüllen, viele von ihnen verlassen die Halle. Dann kehrt Kinski zurück, fängt seinen Vortrag erneut an und wird wieder von der Bühne gebrüllt. Immer mehr wird das Publikum zu Pharisäern, gegen die sich Kinski verteidigt.

Kinski: Jesus Christus Erlöser: "Moment. Ich gehe jetzt noch einmal und zwar zum letzten Mal weg. Beifall. Und wenn auch nur ein einziger übrig bleibt, der das hören will, dann muss er so lange warten, bis das andere Scheißgesindel weggegangen ist. Tumult. Genau! Kinski, der die Gewalt ablehnt, lässt hier einen Friedlichen, der diskutieren will, von seiner Leibwache die Treppe runter stoßen. Das sind, das sind faschistische Methoden. Und Kinski ist ein Faschist, ein Psychopath."

Obwohl Kinski als Underground-Jesus seine Erlöservision originell vertritt, ist sich die Mehrheit im Saal einig: Ein wüst schimpfender Badboy, zudem ein vermeintlicher Millionär, kann nicht die Rolle des friedlichen Erlösers spielen. Fast alle Zuschauer verlassen allmählich protestierend den Saal. Die Presse reagiert am nächsten Tag mit einem Totalverriss. Und wahrscheinlich ist auch keiner mehr von ihr dabei, als Klaus Kinski nach Mitternacht zum x-ten Mal auf die Bühne tritt. Von den 4000 Zuschauern sind nur 100 bis 200 übrig geblieben. Aber zu ihnen spricht Kinski nun. Und dazu kommt er von der Bühne herunter. Er stellt sich unter seine letzten treuen Anhänger, seine "Jünger" und spricht endlich den kompletten Text.

Kinski: Jesus Christus Erlöser: "Mein Gott, ich muss es wissen. Gib mir Kraft zum Sterben, gib meinem Sterben einen Sinn. Wenn ich jetzt sterbe, dann lass die Menschen dasselbe tun, was du von mir verlangt hast. Werden die Menschen begreifen, warum ich jetzt sterben muss? Warum ich 2000 Jahre lang gestorben bin? Und immer wieder sterbe, jeden Augenblick? Mein Gott, lass sie doch endlich begreifen, warum ich sterbe. Dann will ich nicht mehr klagen. Dann will ich nicht mehr leiden. Dann ist es leicht zu sterben. Dann ist es vollbracht."

Es ist der spannendste Moment der gesamten Aufführung und kommt im Film erst nach dem Abspann. Es sind zwölf Minuten. Vielleicht musste Kinski ja die stundenlange verbale Geißelung erleben, um für diese zwölf Minuten zu einer Art Jesus werden zu können. Ohne Hass, mit entspanntem Gesicht und leiser Stimme beendet er seine Christus-Vision. Alle, die diesen Moment nicht erlebt haben, bezeichneten später den Auftritt als Katastrophe. Die geplante Tournee brach zusammen, der Veranstalter ging Pleite. Aber Kinski, der für viele an diesem Abend gestorben ist, erlebte für die wenigen Dagebliebenen eine Art Auferstehung. Dazu der Regisseur Peter Geyer:

"Kinski hat drei Jahre später eine Biografie geschrieben, die beginnt damit. Das heißt, er stellt es unchronologisch vor seine Kindheit, beschreibt es, … als den wichtigsten Vortrag seines Lebens. Auch die Minoh weiß zu berichten, dass er am Ende eigentlich sehr glücklich war. Es gibt einen interessanten Beweis im Archiv der Wochenschau. Da gibt es ein kleines Interview, das er am Tag später im Garten von Horst Wendtland geführt hat. Wenn man ihn sieht, wie er da mit dem Hund auf der Wiese rumtollt, quasi auch für den Hund spielt, dann kommt man nie auf die Idee, es mit einem zu tun zu haben, der sich gerade als gescheitert empfindet."

Um 2.00 Uhr morgens ist alles beendet. "Kinski: Jesus Christus Erlöser" ist ein großartiges Dokument über Kunst und Größenwahn, Hass, Kampf, Verzweiflung, Untergang - und schließlich Erlösung.

Kinski: Jesus Christus Erlöser: "Der Gesuchte betreibt Sabotage an unseren Gesetzen und an unserer Ordnung. Er predigt die Gleichheit und Freiheit aller Menschen und muss als gefährlicher Anführer bezeichnet werden. Zweckdienliche Angaben, die zu seiner Festnahme führen, nimmt jede Polizeistation entgegen. Beifall."