Ästhetische Filme am Puls der Zeit
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Die Berlinale präsentiert in der Pandemie weniger Filme als sonst. Beim Dokumentarfilm sei das vorteilhaft, sagt Filmkritiker Christian Berndt. Themen der Zeit, von Corona über Sexualstraftäter bis zu Kolonialismus-Debatten, seien klarer erkennbar.
Zur chinesischen Version von "Nehmt Abschied Brüder" schieben sich die Paare über die Tanzfläche. Ein Bild aus Wuhan vor Corona-Zeiten.
Wenn Shengze Zhu diese Bilder ihres Films aus früheren Tagen sieht, ist es ein ganz anderes Gefühl als zu Beginn des Drehs, sagt sie. Die Filmemacherin lebt in Chicago und begann vor Corona, den Dokumentarfilm "A River runs, turns, erases, replaces" über ihre Heimatstadt Wuhan zu drehen. Der Film, der im Forum der Berlinale läuft, sollte ihr Gefühl der Heimatlosigkeit zum Ausdruck bringen.
Wuhan im Wandel
Shengze Zhu lebt schon lange in den USA, aber kulturell ist sie nie wirklich angekommen, meint sie. Doch ihre Heimatstadt war ihr, als sie das erste Mal wieder zu Besuch war, ebenso fremd.
Wie viele chinesische Metropolen verändert sich Wuhan rasant, und diesen Wandel zeichnet Shengze in ihrem Film in klaren, langen Einstellungen nach, deren Ruhe in scharfem Kontrast zur Schnelligkeit des Umbaus steht. Die Menschen wirken oft verloren inmitten gigantischer Bauten.
"Du fühlst dich sehr klein", sagt Shengze, "wenn deine Stadt sich so schnell verändert". Bevor sie den Film fertigstellen konnte, kam die Pandemie und plötzlich wurde aus dem Filmmaterial etwas völlig anderes.
Geradezu prophetisch im Hinblick auf Corona erscheinen jetzt diese Bilder menschlicher Isolation, die Shengze neu montierte und die nun wie ein melancholisches Gegenbild zur chinesischen Propaganda vom Sieg über Corona und wie ein Statement gegen den Gedächtnisverlust wirken.
Aktualität und Ästhetik verbinden
Damit steht der Film paradigmatisch für das Programm des diesjährigen Forums, das auf Filme Wert legt, "die sich überlegen, wie man das Kino und das Filmemachen heute mit einem gesellschaftlichen und politischen Bewusstsein in Verbindung bringen kann, ohne dass das auf Kosten der ästhetischen Qualitäten und der Selbstreflexion geht", sagt Cristina Nord. Sie leitet seit letztem Jahr das Forum und ihr schwebt ein politisches, aber nicht rein aktivistisches Kino vor:
"Ich glaube schon, dass das etwas ist, was die Filme, die wir auswählen, stärker auszeichnet. Dieses Moment, über sich selber nachzudenken, dieses sehr starke Formbewusstsein. Was wiederum nicht heißt, dass die Filme keine Haltung hätten."
Denn das Forum, so Cristina Nord, sieht sich auch dieses Jahr in einer politischen Tradition, der es seit seiner Gründung vor 50 Jahren folgt:
"Ein Leitmotiv ist, dass wir uns recht intensiv mit schwarzer Kultur im weitesten Sinne und Schwarz mit großem S geschrieben beschäftigen, zum Beispiel ein Film wie Juste un mouvement."
Politik-Collage aus dem Senegal
In spielerischer Vermischung von Fiktion und Originalaufnahmen erzählt der Dokumentarfilm vom Leben Omar Blondin Diops. Der senegalesische Student wurde im Paris des Jahres 1968 zu einem der Wortführer der Studenten- und Antikolonialismus-Bewegung und spielte außerdem in Godards Revolutionsfilm "Die Chinesin" mit.
Die ziemlich lustige Art, mit der sich die knallbunten Ausschnitte aus Godards Film mit dem dokumentarischen Material und aktuellen Aufnahmen aus dem Senegal fast unbemerkt vermischen, macht den Film zur reizvoll-schillernden und sehr aktuellen Polit-Collage.
Eiskalter Frauenmörder
Auf nachdenkliche und direkte Weise erzählt der deutsche Dokumentarfilm "Anmaßung" der Regisseure Chris Wright und Stefan Kolbe von einem zu lebenslanger Haft verurteilten Sexualstraftäter.
"Unsere erste Notiz über ihn: still, zurückhaltend, wirkt naiv, supernett. Als wir diese Beobachtung mit einem Justizbeamten teilen, muss dieser laut lachen: 'Stefan S., das ist ein eiskalter Frauenmörder'."
Wright und Kolbe lernten Stefan S. bei einer Therapiesitzung für Gewalt- und Sexualstraftäter kennen, die sie zur Recherche für den Film besucht hatten. Danach begleiteten sie Stefan S. vier Jahre lang. "Die Vorstellung, dass wir für ihn so etwas wie Freunde oder Vertraute sein könnten, macht mir Angst."
Die eigene Irritation machen die Regisseure im Film zum Thema, sagt Chris Wright: "Dokumentarfilm für uns: Eigentlich geht es immer darum, zu beschreiben, was wir mit den Protagonisten durchgemacht haben." Und auch darum, die Grenzen eigener Erkenntnis zu erleben, fügt Stefan Kolbe hinzu:
"Mein Kopf, meine Wahrnehmung hat immer versucht, sich an der Biografie vor der Tat festzuhalten und dort irgendwelche Kausalitäten, die womöglich irgendwie entlastend sein könnten, zu suchen. Zugegebenermaßen, es hat auch nach vier Jahren nicht geholfen. Es stand auf der anderen Seite diese Tat."
Den Zuschauer schickt dieser klug inszenierte Film auf eine Reise in menschliche Abgründe, die zwischen Mitleid und Abscheu schwanken lässt. Der Dokumentarfilm des diesjährigen Forums ist so herausfordernd wie ergiebig, die coronabedingte Konzentration auf eine kleinere Filmauswahl als sonst hat dem Programm, das nun weniger beliebig wirkt als in früheren Zeiten, gutgetan.
(mle)