Dokumentarfilm "Kolyma" im Kino

Zu Besuch auf dem längsten Friedhof der Welt

Jakutischer Erfinder Niurgun mit seinem blinden Vater bei einem Verjüngungsexperiment
Jakutischer Erfinder Niurgun mit seinem blinden Vater bei einem Verjüngungsexperiment © W-film – TAG/TRAUM Filmproduktion
Regisseur Stanislaw Mucha im Gespräch mit Susanne Burg |
Wie leben Menschen entlang einer Straße, die durch das ehemalige Zentrum des Gulags führte, wo Hunderttausende Strafarbeit verrichteten und Unzählige starben? Der Filmemacher Stanislaw Mucha beantwortet diese Frage mit einem skurrilen Dokumentarfilm.
Susanne Burg: Ein patriotisches Lied über Russland, gesungen von Schülerinnen in bunten Kleidern, die Russlandfahnen schwingen. Auch solchen Situationen begegnet Stanislaw Mucha auf seiner Reise durch den Osten Sibiriens. Der Filmemacher hat sich auf einen Roadtrip entlang der Kolyma-Straße begeben. Einer 2.000 Kilometer langen Straße mit bitterer Geschichte. Sie wird auch "Straße der Knochen" genannt, führt durch das ehemalige Zentrum des stalinistischen Straflagersystems, des Gulags. Hunderttausende Strafgefangene haben hier in der arktischen Kälte nach Gold, Zinn oder Uran geschürft. "Kolyma" heißt dann auch Stanislaw Muchas beklemmender, skurriler, eindrücklicher Dokumentarfilm. Und Stanislaw Mucha ist jetzt hier im Studio.
Sie haben sich mit dem Film auf eine historische, aber auch auf eine sehr persönliche Reise begeben, denn Ihr Großvater musste diese Kolyma-Straße entlanggehen, von der Bucht von Magadan bis nach Jakutsk. Was wussten Sie, als Sie aufgewachsen sind, über seine Reise?
Mucha: Ich wusste eigentlich nur, dass dort eine ganz tolle Landschaft ist, monochrome Landschaft, schwarzweiße, weil bei minus 60, 65 Grad stirbt das Grüne komplett ab, also auch die Weihnachtsbäume, und davon war er sehr begeistert, und das hat damit zu tun, dass er eigentlich gar nichts Schlimmes da erlebt, mindestens so hat er erzählt. Nur musste er lediglich eine Schaukel für einen Lagerkommandanten bauen für das kleine Kind. Dann ist Stalin gestorben '53 und brach ein Chaos auf ganz Kolyma aus, und in den Zügen des Durcheinanders kam er dann nach Hause. Eigentlich am längsten war der Weg hin und der Weg zurück. Dort war er wahrscheinlich ein paar Monate.

Kein Gulag-Film im eigentlich Sinn

Burg: Das war jetzt wahrscheinlich nicht unbedingt repräsentativ für die Erfahrung vieler anderer, die sich dort befunden haben. Sie haben sich dann auf die Reise begeben. Es ist jetzt kein investigativer Dokumentarfilm geworden über die Leiden im Gulag. Es ist auch eine Bestandsaufnahme, wie die Menschen mit der Vergangenheit umgehen. Was war denn Ihr Erkenntnisinteresse, als Sie sich auf diese Reise begeben haben?
Mucha: Also uns war eigentlich klar, dass wir keinen Film über Gulag in dem Sinne machen wollen. Aus vielen Gründen, unter anderem, dass ich finde, das ist sehr schwer, im Dokumentarfilm sowas anzugehen, dass man dann auch die Zuschauer bekommt, sondern wir wollten uns eigentlich umschauen, wie es heute sich auf so einem Friedhof lebt. Das ist der längste Friedhof der Welt, das ist bewiesen, wo unter dem Straßenbelag Millionen von Menschen liegen, und ich fand das sehr aufregend und spannend, sich umzuschauen, wer lebt da überhaupt, wie lebt es sich dort, was beschäftigt die Menschen, was denken diese Menschen, wie gehen sie mit der Vergangenheit um. Das war unser quasi Ausgangspunkt, und das haben wir auch bedient dann im Film.

Burg: Sie haben mit unterschiedlichsten Leuten gesprochen, teilweise zufällige Begegnungen, wie am Anfang mit einer Hot-Dog-Verkäuferin, die noch nie was vom Gulag gehört hat und denkt, Sie reden von Gulasch, teilweise dann in längeren Gesprächen mit auch ehemaligen Strafgefangenen. Wie schwer war es denn, die Leute zum Reden zu bewegen?
Mucha: Also die Offenheit der Menschen unter uns hat mich sehr, sehr überrascht. Spätestens in Moskau wurde ich gewarnt von Menschen, die dort auch journalistisch oder filmisch unterwegs sind, haben gesagt, du kriegst niemanden vor die Kamera, kein Mensch wird mit dir reden. Wenn du noch deinen polnischen Pass rausziehst, dann ist sowieso Ende. Ich habe das Gefühl, dass die Menschen so offen sind, weil niemand, wahrscheinlich vorsichtshalber, niemand mit denen bis jetzt gesprochen hatte. Ich stelle da wirklich auch unangenehme Fragen – haben Sie auch gemordet –, weil um zu überleben, musste man auch morden. Da gibt es einen Zeitzeugen, der sagt, sie haben irgendwie 280 Leute umgelegt eines Tages, also um zu überleben, und das ist nicht so kompatibel mit unserer Moralvorstellung, und die Moral, das Verhalten, das ist komplett irgendwie … funktioniert anders auf diesem Planeten.

"Wirklichkeit darf auch im Dokfilm unterhaltsam sein"

Burg: Ja, das fragt man sich, weil auch die Menschen, mit denen Sie sprechen, die haben ja teilweise Schlimmes erlebt. Ein Mann erzählt zum Beispiel, dass er mit einem Lkw in einem Massengrab feststeckte, eine Woche lang, im Leichensumpf, wie er das nennt, und er lacht dabei. Immer wieder lachen Menschen, wenn sie von den Gräueltaten erzählen, und das wirkt jetzt aber nicht despektierlich oder so, sondern fast als würde es sonst zu viel sein für die Seele. Also ist das so ein bisschen die Art und Weise der Menschen, mit dieser Präsenz dieser Gräuel umzugehen?
Mucha: Ja, das ist absolut. Das ist dieser Humor, der immer durchsickert, der manchmal Galgenhumor ist, deutet eigentlich darauf hin, dass das wie eine Art von Selbstschutz ist. Also einerseits ist diese Scham, da gibt es auch Täter, die auch schweigen darüber, aber aus Scham auch, aber auch die Opfer, und wenn man das anspricht, dann kommt plötzlich auch ein Humor raus, und das ist absolut zu verstehen als Selbstschutz. Ich bin auch sehr dankbar, weil deshalb ist der Film auch, ich benutze das bewusst dieses Wort: der Film ist auch unterhaltsam. Also die Wirklichkeit darf auch ruhig im Dokumentarfilm unterhaltsam sein, und so haben wir auch das erwischt.
Filmemacher Stanislaw Mucha im Studio von Deutschlandradio Kultur, aufgenommen 2015
Filmemacher Stanislaw Mucha im Studio von Deutschlandradio Kultur, aufgenommen 2015© Deutschlandradio / Cara Wuchold
Burg: Sie sprechen auch mit einem Mann, der 30 Jahre Straflager dafür bekommen hat, dass er Stalin verunglimpft hat, der unter schlimmsten Bedingungen gelebt und gearbeitet hat in den Lagern. Er erzählt sehr freizügig davon. Er beklagt auch die mangelnde Aufarbeitung dieses Kapitels der Geschichte. Wie sehr musste er befürchten, für seine Offenheit in Schwierigkeiten zu kommen?
Mucha: Also ich glaube, dieser konkrete Mann nicht, weil der ist sowieso verfolgt. Wir mussten eigentlich fliehen vor einem Art Geheimdienst, etwa 400 Kilometer. Wir haben die dann verloren, und dort haben wir dann auf diesem ehemaligen Lager, wo er war, haben wir das Gespräch mit ihm aufgenommen, und so haben wir immer wieder diese Methode angewendet, dass wir eigentlich irgendwo weggefahren sind, um in Ruhe zu sprechen.
Mit der Bedrohung oder mit der Angst, dass den Menschen was passieren kann, die so offen vor der Kamera reden, das muss man auch so verstehen, dass die Leute einfach nichts zu verlieren haben. Also die haben schon alles verloren, die haben sich verloren, die haben oft Kinder …, so wie der Major Jury, mein Lieblingsprotagonist, der berichtet, der eine Sohn ist in Afghanistan gefallen, der andere in Tschetschenien, seine Frau irgendwo unterwegs als Krankenschwester, und jetzt als Major wurde er gefeuert noch dazu oben drauf, weil sie einen Unfall hatten beim Atomtest, und er lebt in so einer Art von Garage drin. Also was hat so ein Mann zu verlieren?
Ich glaube, so ein Schicksal, ich glaube, dass … oder hoffe, dass die Zuschauer das berühren wird, weil das ist eigentlich ein Archetyp eines Menschen, den kann man nicht nur auf Kolyma, sondern auch ruhig in Deutschland oder Polen oder Frankreich finden, aber dort ist das besonders krass, also weil die sind vollkommen abgeschnitten von der Welt.

"Das Klima hilft dem Verdrängungsprozess"

Burg: Man bekommt so den Eindruck, dass diese Geschichte die Menschen unglaublich geprägt hat, oder? Also wie sehr ist diese Geschichte präsent?
Mucha: Ja, die Geschichte ist fast in jedem Stückchen Erde, in jedem Stückchen der grausamen Lagerarchitektur präsent, die ist präsent auch vor allem in den Menschen, den Erlebnissen. Das Problem beziehungsweise wie eine Art von Umgang ist, dass sie das alles verdrängen, wie sie nur können. Ich glaube, dem Ganzen hilft das, also dem Verdrängungsprozess, hilft auch das Klima. Das heißt, Permafrost, minus 65 Grad, das war das Schlimmste, was wir erlebt haben, wo wir gedreht haben, da dreht man nur 20 Minuten, dann muss man abhauen, und im Sommer plus 40. Also das sind 100 Grad Unterschied, und das macht etwas mit den Menschen, bin ich mir absolut sicher. Das sieht man auch.
Pferdehändlerin auf dem Fleischmarkt in Jakutien bei minus 50 Grad.
Pferdehändlerin auf dem Fleischmarkt in Jakutien bei minus 50 Grad.© W-film – TAG/TRAUM Filmproduktion
Dazu kommt noch diese bekloppte Bodenschätze, wo – das ist wirklich so – ein reicher Boden, nicht nur an Gold, sondern an irgendwelchen komischen Metallen, die nirgends wo auf der Welt zu finden sind, wenn man einen Kompass in bestimmten Stellen auf Kolyma auspackt, dann die Nadel spinnt wie bekloppt. Man weiß nicht warum. Oder plötzlich minus 50 Grad, und ein Bach friert nicht zu. Wie geht das? Das kann nur irgendwie etwas mit der Chemie oder mit vielleicht auch Verunreinigung …, weil das ist ein hochgiftiger Prozess mit der Goldförderung, weil sie waschen das mit Quecksilber, und das wird alles in die Natur rausgeschmissen, weil sie müssen eine bestimmte Anzahl von Tonnen von Gold nach Moskau liefern.
Übrigens vor ein paar Wochen gab es eine schöne Geschichte in Jakutsk, also quasi Endpunkt der Kolyma-Straße, hebt eine Boeing ab, da hat eine wahrscheinlich die Tür oder irgendetwas war nicht gesichert, die ist aufgegangen, und auf die Landebahn sind 280 Tonnen Gold rausgespuckt worden. Also das muss … Ich habe das gesehen. Das war ein Foto. Also solche Geschichten passieren da andauernd.

Aufarbeitung der Geschichte "interessiert keinen"

Burg: Das heißt, dieser Goldrausch, der besteht immer noch.
Mucha: Dieser Goldrausch hat angefangen eigentlich 1931,32, den ganzen Zweiten Weltkrieg, dann natürlich in … und dauert bis heute an. Das letzte Arbeitslager wurde geschlossen, nicht in den 50ern, sondern in der Gorbatschow-Ära, und zwar durch eine Explosion. Ich war dort, wo zweihundert-, glaube ich, -achtzig Frauen ums Leben gekommen sind. Die haben gegraben nach Steinkohle, was man auch gebraucht hat, um diesen Frostboden auftauen zu lassen. Dann gab es eben eine Gasexplosion, und auf jeden Fall sind ums Leben gekommen die Frauen, und es gibt auch Resozialisationslager dort immer noch, wo Gefangene auch arbeiten und sind auch sehr viele Goldoligarchen, also wo wirklich Leute, die in Angola oder in Afghanistan gekämpft haben, dann kamen sie zurück, waren frustriert, hat man die nach Kolyma verbannt, macht dort eure Karriere.
Also sie bekamen nur Tickets von der Armee geschenkt, und das sind irrsinnige Karrieren, also die in einem Jahr Abitur gemacht haben, Studium, und noch Goldkombinat übernommen haben. Also das ist nur dort möglich, und das macht wiederum auch etwas mit den Menschen, weil sie dürfen sich nicht für die Geschichte interessieren, für die Leichen, in denen sie wühlen, um an das Gold ranzukommen, und dann passiert etwas mit der Psyche.
Burg: Das heißt, wie weit ist man denn eigentlich mit irgendeiner Form der historischen Aufarbeitung der Geschichte, sagen wir mal, bis Stalins Tod '53?
Mucha: Gar nicht, das interessiert keinen oder darf nicht interessieren. Das ist wie so ein Mantel des Schweigens, was sich so ausbreitete und dauert an und liegt so brach. Es gibt natürlich irgendwelche Denkmäler, aber die kann man nicht finden so einfach, weil da hat irgendeiner Gewissensbisse bekommen und hatte so Steine hingestellt, aber das, was auf dem Stein steht, ist auch interessant, weil da steht zum Beispiel, "Vielen Dank an die Bauer der Kolyma-Straße". Also das ist so, das erinnert uns, Hitler war auch nicht schlecht, weil er Autobahnen gebaut hat. Das ist die gleiche Art und Weise des Denkens, was da sich breit und weit macht. Also ich finde, wir waren schon im gewissen Sinne auch Pioniere. Ich verstehe das bis heute nicht, warum darüber kein …, diese Art von Film noch nicht entstanden ist.
Burg: Nun gibt es aber einen: "Kolyma" heißt er, und er ist ab Donnerstag im Kino zu sehen. Stanislaw Mucha ist der Regisseur. Herzlichen Dank, Herr Mucha, für Ihren Besuch!
Mucha: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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