Schlingensief - In das Schweigen hineinschreien
Regie: Bettina Böhler
120 Minuten, Deutschland 2020
Kinostart: 20. August 2020
Nur für werkfeste Insider
05:33 Minuten
Am 21. August 2010 starb der Filme- und Theatermacher Christoph Schlingensief. Zehn Jahre nach seinem Tod kommt nun ein Dokumentarfilm über ihn in die Kinos. Der Streifen von Bettina Böhler besteht nur aus Archivmaterial.
Christoph Schlingensief: "Mein Vater ist letztes Jahr gestorben und ich will den nicht unbedingt jetzt schon treffen. Ich habe im Moment keine Lust, meine Verwandten schon wieder zu sehen. Das ist schön, ich freue mich auch, die alle wieder zu sehen ... Aber ehrlich gesagt: nee."
Der Krebs im Mittelpunkt seiner Kunst
In den letzten Jahren von Christoph Schlingensiefs Leben rückte die Krankheit oft in die Mitte seiner Kunst. "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir" bei der Ruhrtriennale 2008, der "Zwischenstand der Dinge" in Berlin, "Mea Culpa" 2009 im Wiener Burgtheater: Die Krebs-Trilogie kämpfte mit den letzten Dingen. Und stoppte auch nicht vor dem Privaten, etwa der Mutter.
Nachricht auf dem Anrufbeantworter: "Erste Sprachnachricht, empfangen gestern um 18:13 Uhr." Stimme der Mutter auf der Mailbox: "Hallo Christoph, du tust mich aber auf die Folter spannen. Du hattest mir doch fest versprochen, mich anzurufen. Tschüss, Kind."
Wer die Teile der Krebs-Trilogie gesehen hat, vergisst das nie mehr. Alle Regeln der Theaterkritik wurden hinfällig. Distanz unmöglich, Mitgefühl zwingend.
Humor half, bis zuletzt. Jetzt ist es schon wieder zehn Jahre her, als Christoph Schlingensief dem Krebs erlag. Höchste Zeit, sein Werk wieder in den Blick zu bekommen. Viele sagen, er fehle. Aber warum?
Der Größenwahn von Menschen
Vielleicht hilft das Kino. Der Dokumentarfilm von Bettina Böhler kommt nun zum zehnten Todestag in die Säle: "Schlingensief - In das Schweigen hineinschreien".
Das Schweigen bezeichnet das Verdrängte, die Scham oder beides. Die Scham über die Nachgeschichte des Nationalsozialismus zum Beispiel, ohne die Schlingensiefs erste Schaffensperiode nicht zu verstehen ist.
"Mich interessiert das Dritte Reich genauso wie jeder Größenwahn von Menschen, etwas zu vertreiben, Leute anzustecken, dabei Verbrechen zu begehen und nachher tritt die Katastrophe ein und die Ereignisse fließen. Wenn man nämlich nicht mehr kontrollieren kann, wenn man einfach nicht mehr weiß, wie man das jetzt noch irgendwie hinkriegt, dann ist es für mich sinnvoll, und deshalb fasziniert mich das als Vorlage, weil ich es nicht begreife", sagte Christoph Schlingensief.
Das Nicht-Begreifen ist ein kräftiter Impuls, Kunst zu produzieren - das Alles-schon-wissen tut ihr selten gut. Aber bei einem Dokumentarfilm, der auch eine Rolle in der Weitergabe spielt, wäre es wichtig, es könnten mehr Leute mehr verstehen. Auch Jüngere und Nicht-Deutsche zum Beispiel.
Archivstrecke ohne neue Interviews
Bettina Böhler, die in dem Neunzigerjahren für Schlingensief zwei Filme schnitt, montiert eine zwei Stunden lange Archivstrecke ohne neue Interviews.
Werkfeste Fans werden ihre Freude haben. Alle anderen sind wohl bald verloren in einem Film, der oft nicht sagt, welche Bilder aus welchem Jahr wir sehen. Und weil er auf aktuelle Interviews verzichtet, fehlt auch die Frage, wie sein Werk heute einzuschätzen ist.
Seltsam: Seine Themen wie Inklusion von Menschen mit Behinderung, Rassismus und Antisemitismus sind seit seinem Tod zu kunstübergreifenden Debatten gewachsen. Doch der Film interessiert sich nicht dafür.
Schlingensiefs Faszination für das Theater
Es ist dennoch wunderbar, Schlingensief zuzuhören. Was ihn, der 1993 vom Film zum Theater wechselte, an der Bühne interessierte:
"Ich sehe eine große Chance im Theater, dass es in der Lage ist, Dinge zusammenzubringen und Gedanken zu denken, die man draußen auf der Rolltreppe im Kaufhof schon lange nicht mehr denken darf, weil man dann festgenommen wird. Auf der Bühne darf ich das."
Doch Kunstfreiheit heißt heute, zehn Jahre nach seinem Tod, etwas anderes. In den hitzigen Debatten unserer Tage geht es darum, ob Kunst mehrdeutig und somit allenfalls verbal verletzen darf. Oder ob sie ein Safe Space sein soll, ein Schutzraum für Marginalisierte. Es wäre spannend, Schlingensief auch im Licht gegenwärtiger Debatten zu sehen.
Sichere Räume und harte Inszenierung
Im folgenden Ausschnitt ist zu hören, dass Schlingensief beides gemacht hat: sichere Räume für Ausgegrenzte geschaffen, aber innerhalb dieser Grenzen hart inszeniert. Hier spielt Schlingensief mit seinem behinderten Schauspieler Achim von Paczensky in "Freakstars 3000":
Christoph Schlingensief: Wer beschäftigt Dich?
Achim von Paczensky: Der ASB
Christoph Schlingensief: Wer ist der ASB?
Achim von Paczensky: Der Arbeiter Samariter Bund
Christoph Schlingensief: Der Arbeiter Samariter Bund will, dass du jeden Tag 60.000 Hühner schlachtest?
Achim von Paczensky: Ja
Christoph Schlingensief: Der Arbeiter Samariter Bund?!
Achim von Paczensky: Ja!!
Christoph Schlingensief: Gestehen Sie!
Achim von Paczensky: Ja!
Christoph Schlingensief: Sie werden aber hier bei uns missbraucht! Ist das richtig?
Achim von Paczensky: Nein.
Christoph Schlingensief: Doch die Leute sagen doch, dass Sie hier missbraucht werden!
Achim von Paczensky: Wer erzählt’n ditte?
Christoph Schlingensief: Hier werden Sie missbraucht! Das steht in der ganzen Post drin!
Achim von Paczensky: Na, die möcht’ ich ma sehen!
Christoph Schlingensief: Ja, eben, die wollen wir doch mal sehen!
Achim von Paczensky: Der ASB
Christoph Schlingensief: Wer ist der ASB?
Achim von Paczensky: Der Arbeiter Samariter Bund
Christoph Schlingensief: Der Arbeiter Samariter Bund will, dass du jeden Tag 60.000 Hühner schlachtest?
Achim von Paczensky: Ja
Christoph Schlingensief: Der Arbeiter Samariter Bund?!
Achim von Paczensky: Ja!!
Christoph Schlingensief: Gestehen Sie!
Achim von Paczensky: Ja!
Christoph Schlingensief: Sie werden aber hier bei uns missbraucht! Ist das richtig?
Achim von Paczensky: Nein.
Christoph Schlingensief: Doch die Leute sagen doch, dass Sie hier missbraucht werden!
Achim von Paczensky: Wer erzählt’n ditte?
Christoph Schlingensief: Hier werden Sie missbraucht! Das steht in der ganzen Post drin!
Achim von Paczensky: Na, die möcht’ ich ma sehen!
Christoph Schlingensief: Ja, eben, die wollen wir doch mal sehen!
Ein grenzwertiges Spiel, sicher. Am Ende des Clips küsst er Achim von Paczensky. Und als der Schauspieler und Freund starb, hielt Schlingensief die Trauerrede, acht Monate, bevor er selbst verstummte.
Am Schluss wurde Schlingensief von allen geliebt, selbst von ehemals scharfen Kritikern. Auch Bettina Böhlers Dokumentarfilm blendet die meisten Widersprüche aus. Doch eine Begegnung mit Christoph Schlingensief war noch nie eine Kuschelparty, sondern immer ein Vollkontakt-Training - in den schützenden Räumen der Kunst.