Von Gewalt, Günstlingswirtschaft und Intrigen
Im Januar 2013 stand Moskaus Kulturszene unter Schock: Ein maskierter Mann schleuderte dem künstlerischen Leiter des Bolschoi-Balletts, Sergei Filin, Säure ins Gesicht. Der britische Filmemacher Nick Read war gleich nach dem Attentat mit der Kamera vor Ort. Sein Dokumentarfilm "Bolschoi Babylon" kommt am Donnerstag in die Kinos. Unsere Filmredakteurin Susanne Burg hat mit dem Regisseur gesprochen.
Einfach war es nicht, mit der Kamera Zugang zum Bolschoi Theater zu bekommen.
Als die Geschichte (um den Säureanschlag auf Sergei Filin) publik wurde, belagerte sofort die internationale Presse das Bolschoi, erzählt der britische Filmemacher Nick Read im Interview. Eineinhalb Tage durften sie filmen. Dann wurde der Solo-Tänzer Pawel Dimitrischenko verhaftet. Und den Medien wurde der Zugang die nächsten sechs, sieben Monate verwehrt.
Das Theater ist ein Staat im Staat
Erst als Wladimir Urin im Juli 2013 Intendant wurde, konnten Read und sein Kollege Mark Franchetti mit den Dreharbeiten fortfahren. Nur: das Bolschoi-Theater ist ein Staat im Staat, ein riesiger Apparat mit 3000 Mitarbeitern – mit wem also reden? Wer ist überhaupt bereit, offen zu sprechen über das Pulverfass Bolschoi, bei dem eben nicht nur schön getanzt wird, sondern Machtkämpfe und politische Intrigen offensichtlich gefährliche Funken versprüht haben.
Die Filmemacher bekommen schließlich Tänzerinnen und Tänzer vor die Kamera, die über den unglaublichen Druck in der Kompanie sprechen, über Neid und Eifersucht – wie die Primaballerina Maria Alexandrowa, die sagt, dass sich das Theater an dem Tag spaltete, an dem Sergej Filin künstlerischer Leiter wurde.
"Er brachte viele neue Leute rein, die unseren Platz einnahmen. Sie verdrängten uns von unserem Platz. Das war nicht angenehm. Und es waren Künstler, von denen welche weit unter unserem Niveau lagen. Das war ein Schlag für unser Selbstwertgefühl."
Auch die Freundin von Pawel Dimitrischenko wurde bei der Besetzung übergangen. Der Tänzer soll daraufhin einen Mann angeheuert haben, der den Anschlag auf Filin organisiert hat.
Es ging um mehr als nur um Eifersüchteleien
Aber der Film zeigt auch, dass es grundsätzlich um mehr geht als um Eifersüchteleien. Schon länger war das Ballett in zwei Lager gespalten, erzählt der Stiftungsratsvorsitzende Alexander Budberg im Film.
"Die jüngere Generation steht auf Pawels Seite. Er hat sie als Anführer der Gewerkschaftsbewegung unterstützt, hat sehr viel für sie getan und war ziemlich mutig und unheimlich engagiert. Die andere Hälfte war die, die Sergej Filin verbunden war. Und diese beiden antagonistischen Seiten tanzten am Abend zusammen in ein und derselben Aufführungen. Sie unterhielten sich und halfen sich gegenseitig beim Aufwärmtraining. Aber ihre Positionen waren verschieden, wirklich verschieden."
"Bolschoi Babylon" zeigt die vielen Risse, die durch die Belegschaft gehen, beleuchtet die Beziehung zum Kreml, betrachtet das Theater als Spiegel der russischen Gesellschaft. Und bleibt an einigen interessanten Stellen leider stehen. Immer wieder sprechen die Mitglieder von Vetternwirtschaft und Korruption. Konkreter werden sie nicht. Ihr größtes Problem sei nicht Zensur gewesen, sondern die Selbstzensur der Mitarbeiter, sagt Filmemacher Nick Read.
Die Ballerinas erzählten längst nicht alles
"Die Ballerinas und Tänzer, so wie alle anderen Bolschoi-Mitarbeiter, erzählten nicht alles, denn sie sind und bleiben nun mal Angestellte des Bolschoi. Es gab einige Personen, die weiter Korruptionsvorwürfe erhoben und von Schmiergeldzahlungen und sexuellen Gefälligkeiten erzählten. Wir haben nach Namen, Zeitdaten und Summen gefragt, die geflossen sind, und versucht, das mit versteckten Kameras aufzunehmen. Das haben wir aber nicht verwendet im Film. Wir sind ja dort auch nicht als investigative Journalisten 'eingedrungen'."
Sie wollten die größeren, dramatischen und shakespeareschen Motive der Eifersucht und des Verrats erkunden, sagt Nick Read. Das ist ihnen gelungen. Dazu bietet der Film ein komplexes Porträt des heutigen Russlands. Nur - gerade weil die Gesprächspartner so viele interessante Fragen aufwerfen, wünscht man sich als Zuschauer eben hier und da noch mehr Antworten.