Dokumentarfilm "Walchensee Forever"
Der Walchensee sei "ein Zufluchtsort für uns Frauen in der Familie", erzählt Regisseurin Wonders. © FlareFilm
Vier Frauen, vier Schicksale
10:43 Minuten
In ihrem Dokumentarfilm "Walchensee Forever" porträtiert Janna Ji Wonders die Frauen ihrer Familie über mehrere Generationen hinweg. "Für mich war die Arbeit an dem Film ein Forschen nach vererbten Sehnsüchten und Traumata", erzählt die Regisseurin.
Patrick Wellinski: Fünf Generationen von Frauen einer deutschen Familie stehen im Mittelpunkt des Dokumentarfilms "Walchensee Forever". Darin erzählt Regisseurin Janna Ji Wonders über das Schicksal und die Biografien ihrer Urgroßmutter, Großmutter und Mutter – und natürlich auch über sich selbst. Es sind turbulente Lebensgeschichten, in denen sich die deutsche Geschichte der letzten 100 Jahre spiegelt: von den Weltkriegen über die 68er-Bewegung bis heute. Im Zentrum stehen Gespräche zwischen Mutter und Tochter. Geheimnisse werden gelüftet, Seelen, Leben und Lieben erforscht und Perspektiven geändert.
Ich konnte mit Regisseurin Janna Ji Wonders vor der Sendung sprechen und wollte von ihr wissen, welche Rolle der Walchensee für ihre Familie spielt, denn immer wieder kehrt der Film an diesen Ort zurück, immerhin einer der tiefsten Alpenseen Deutschlands.
Janna Ji Wonders: Der Grundstoff wurde eigentlich schon gelegt von meiner Urgroßmutter. Sie war diejenige, die den Walchensee für sich entdeckt hat: Ihre kleine Tochter ist 1918 an der Spanischen Grippe gestorben, und der Walchensee war der einzige Platz, wo sie Trost gefunden hat.
Das Trauma über den Verlust der Tochter war zwar omnipräsent, aber sie hat sich dann in die Arbeit gestürzt, in die Arbeit des Cafés. Und dadurch ist das wie so eine selbsterfüllende Prophezeiung für die nachfolgenden Frauengenerationen. Der Walchensee ist ein Zufluchtsort für uns Frauen in der Familie. Und die Frauen, die raus sind in die Welt, die hat es immer wieder magnetisch zurückgezogen an den Walchensee. Deswegen ist der Walchensee auch wie so ein eigener Protagonist im Film, er ist ein stummer Zeuge dieser menschlichen Dramen, die passieren, und er kriegt dadurch auch so einen großen Stellenwert im Film.
Eine große Verbundenheit von Müttern und Töchtern
Wellinski: Sie erzählen ja die Geschichte Ihrer Familie rein aus der Perspektive der Frauen, also die Urgroßmutter, die Großmutter, Ihre Mutter, Sie – mindestens vier Generationen, vielleicht sogar fünf, wenn man ehrlich ist. Wieso die rein weibliche Perspektive?
Wonders: Mich hat das geprägt, die Suche der Frauen in meiner Familie, die Verbundenheit von Müttern und Töchtern und die generationsübergreifenden Verstrickungen. Für mich war die Arbeit an dem Film auch wie so ein Forschen nach den eigenen Wurzeln, nach vererbten Sehnsüchten und Traumata und vor allem auch die Geschichte mit Frauke – die verstorbene Schwester meiner Mutter, die ich nie kennengelernt habe, weil sie gestorben ist, bevor ich auf die Welt kam.
Frauke war wie ein Irrlicht, das über unserer Familie schwebte. Das habe ich als Kind schon gespürt. Frauke ist eigentlich der Schlüssel zu diesem Film, ihre exzessive Suche, ihre Sehnsucht im Leben und auch ihr Tod. Den Film habe ich ja eigentlich schon angefangen, als ich ein Kind war, nur wusste ich das damals noch nicht.
Meine Mutter hat mich oft mit ihrer Videokamera gefilmt und mir Fragen gestellt. Ich habe das dann wie ein Spiel gesehen und mir die Videokamera geschnappt und wiederum ihr Fragen gestellt. Erst nach der Filmhochschule war ich auch bereit, diesen Film zu machen, weil ich wusste, dass es emotional eine große Herausforderung wird, und meine Oma war damals schon 104, und ich wusste, wenn ich es jetzt nicht mache, dann nie.
Sich gegenseitig essenzielle Fragen stellen
Wellinski: Ein sensationell hohes Alter, das sie erreicht hat. Das ist auf jeden Fall auch eine beeindruckende Persönlichkeit, der man jetzt begegnen kann. Sie haben ja schon gesagt, dass das ein Projekt war, von dem Sie schon von vorneherein wussten, dass Sie das emotional sicherlich sehr involvieren wird. Sie erzählen ja auch über Familiengeheimnisse. Nicht alle Familien wollen, dass diese Geheimnisse an die Öffentlichkeit geraten.
Bei Ihnen geraten diese Geheimnisse jetzt an eine sehr große Öffentlichkeit: Fremde Menschen wie ich zum Beispiel sehen jetzt, was da passiert ist. Wie schwer ist das eigentlich, so private Dinge in einen Film reinzumontieren, auch zu erfragen letztendlich, von dem Sie dann genau wissen, Fremde sehen das, nicht nur Mama und ich.
Wonders: Meine Mutter und ich, wir sind es einfach gewöhnt, uns gegenseitig zu filmen und genau an die Wunden zu gehen oder auch sich existenzielle Fragen zu stellen, sich auch kreativ auseinanderzusetzen mit der Vergangenheit. Meine Mutter ahnte dieses Mal: bei diesem Film geht es ans Eingemachte. Es hat auch sehr viele Gespräche lang gedauert, bis sie wirklich durchlässiger wurde und sich geöffnet hat. Am Anfang hat sie sich noch sehr vorbereitet auf die Gespräche und versucht, ihre Fassade zu bewahren. Das sagt sie selbst.
Aber als ich dann ohne Kameramann und Tonmann gedreht habe, also alles alleine gemacht habe, Kamera und Ton selber, und nur wir beide da waren, meine Mutter und ich, da kamen wir wieder in diese Intimität und das hatte dann dieses Spielerische, wo wir angeknüpft haben an die Gespräche, die sie mit mir als Kind schon geführt hat.
Familienarchiv auf dem Speicher
Wellinski: Ich will auch über das Material Ihres Films sprechen, denn natürlich sind da die Interviews, die Sie führen, die sind sehr wichtig, die sind natürlich auch zentral. Sie zeigen aber auch Bilder, Tonaufnahmen. Es gibt Briefe, Tagebücher, die vorgelesen werden. Überhaupt hatte ich da das Gefühl, Ihre Familie ist enorm gut selbst dokumentiert. Also fast alle Dinge, auf die Sie zugreifen, sind aus eigenen Quellen zu schöpfen. Das ist beeindruckend.
Wonders: Ich bin selbst überrascht, was ich da im Speicher des Cafés alles gefunden habe an privatem Archivmaterial. Erst dachte ich noch, ich muss bestimmt ganz viel Archivmaterial in anderen Archiven suchen, und das war alles: Das ganze Archivmaterial war völlig unsortiert in Schuhschachteln, Kisten. Das hat meine Mutter aufbewahrt, nie mehr angeguckt.
Ich bin dann immer hoch in den Speicher, habe das digitalisiert. Das waren am Ende acht Terabyte, also wirklich wahnsinnig viel Archivmaterial. Es fing ja an mit meinem Großvater, der das alles schon dokumentiert hat, der eine Liebe hatte für Fotografie und für Film. Das wurde eben an meine Mutter weitergegeben, und meine Mutter hat es wiederum an mich weitergegeben, und ich bin diejenige, die diese losen Fäden zusammenzieht oder auch die Puzzleteile, um daraus ein großes Bild zu machen.
Wellinski: Sie haben ja schon erzählt, dieser Ankerpunkt ist der Walchensee, dahin kommt man immer wieder zurück, wenn man Teil Ihrer Familie ist. Aber der andere Pol des Films scheint mir da die große Welt zu sein, die spätestens mit den Biografien Ihrer Mutter und der Schwester Ihrer Mutter, Ihrer Tante, dann auch in die Familiengeschichte reinkommt. Da geht es auch viel um Selbstfindung, der 68er-Zeitgeist kommt da sehr schön noch mal zur Geltung. Rainer Langhans spielt eine sehr wichtige Rolle. Rückzug, Selbstsuche. Diese wichtigen Dinge scheinen aber alle draußen zu spielen, als gäbe es das nicht am Walchensee, als wäre das dort nicht möglich gewesen auf eine gewisse Art und Weise.
Der Enge des Dorflebens entkommen
Wonders: Ja, wenn man jetzt zum Beispiel meine Oma betrachtet, die hat ja ein total pflichterfülltes Leben. Eine Berufswahl stand ja für meine Oma gar nicht zur Debatte, die musste im Café helfen, um es eines Tages weiterzuführen. Es war zwar eine Pflicht, das Café, aber es hat ihr auch im Laufe der Zeit eine finanzielle Unabhängigkeit gebracht und ein selbstbestimmtes Leben. Sie blieb am See.
Im Gegensatz zu meiner Oma wollte sich meine Mutter aus dieser Enge des Dorfes befreien. Und sie konnte raus in die Welt – und Ende der 60er war ja diese Aufbruchsstimmung: die Eltern infrage stellen und der Drang nach Selbstverwirklichung. Sie ist raus in die Welt, aber sie hat das Dorf nie ganz hinter sich gelassen und ist immer wieder zurückgekommen. Erst durch den Tod ihrer Schwester war sie dann auf einer ewigen Sinnsuche – immer mit mir im Schlepptau. Und für mich – im Gegensatz zu meiner Oma und Mutter –, ich habe eigentlich alle Möglichkeiten. Trotzdem ist der Walchensee auch nach wie vor meine Homebase.
Wellinski: Aber was ist Ihnen denn näher? Ist Ihnen vielleicht die Lebensvorstellung Ihrer Großmutter, zu der Sie ein sehr inniges Verhältnis haben, näher oder dann doch diese Selbst- und Sinnsuche Ihrer Mutter? Können Sie damit dann etwas mehr anfangen? Wo positioniert sich Ihre Generation dahingehend?
Wonders: Ich spüre irgendwie beides in mir. Ich habe nicht dieses pflichterfüllte Gefühl, das meine Oma hatte, sondern eher den Wunsch – auch durch das Filmemachen und den kreativen Ausdruck – mich mit den großen Fragen des Lebens auseinanderzusetzen und das auch in meiner Kreativität: Mich dadurch mit dem Leben auseinanderzusetzen und Geschichten zu erzählen – und mit den Geschichten auch zu berühren und in dem Zuschauer oder den Zuschauerinnen etwas auszulösen. Das ist mein großer Wunsch, dass es unter die Haut geht.
Die Essenz des eigenen Lebens im Film
Wellinski: Welche Wirkung hatte denn der Film auf Sie und Ihre Mutter letztendlich? Das eine ist ja die Projektarbeit, die Recherche, die Montage, aber irgendwann sieht man sich da vorne auf der großen Leinwand. Hat das einen Effekt?
Wonders: Es hat einen Effekt, einen sehr befreienden Effekt. Am Anfang, klar, da war die Angst, was macht das emotional mit uns, wo geht die Reise hin, es könnte ja auch ein Zerwürfnis geben, was auch immer. Aber im Nachhinein ist es ein sehr befreiendes Gefühl, diesen Film gemacht zu haben, für meine Mutter und für mich. Meine Mutter ist sehr überrascht, so klar die Essenz Ihres Lebens in dem Film zu sehen, die ganzen Zusammenhänge, was sie geprägt hat, dann aber auch wiederum das, was mich geprägt hat. Sie ist sehr dankbar und überrascht und überwältigt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.