Dokumentarfilm

"Wir wollen die Unterschiede groß machen"

Reinhard Stähling im Gespräch mit Katrin Heise |
"Wenn ich ganz Schwache und ganz Starke miteinander lernen lasse, dann lernen auch die ganz Starken mehr, als wenn sie nur mit Ähnlichen zusammenkommen", ist Reinhard Stähling überzeugt. Er ist Leiter der Berg-Fidel-Grundschule in Münster und sieht im gemeinsamen Lernen große Chancen.
Katrin Heise: Der Rückblick auf die Paralympics und der Ausblick auf den Behindertensport nach dem großen Fest, dieses Thema verschieben wir ein wenig. Karl Quade, der Delegationsleiter der deutschen Sportler ist im Moment nicht zu erreichen. Aber wir schauen auf das, was der Behindertenbeauftragte der Bundesrepublik, Hubert Hüppe, gesagt hat hier im Deutschlandradio Kultur: Er sagte oder er beklagte ja, dass es in Deutschland keinen normalen, entspannten Umgang zwischen Behinderten und Nichtbehinderten gebe und führte das auch vor allem darauf zurück, dass behinderte Kinder von vornherein ausgesondert und nicht normal in Kindergärten und Schulen mit integriert seien.

Wir schauen jetzt auf ein Beispiel, wo das genau ganz anders gemacht wird. Berg Fidel ist ein Stadtteil in Münster, ein Stadtteil mit Hochhäusern und Einfamilienhäuschen, mit Deutschen und Ausländern, mit engagierten und bildungsfernen Familien - und Kinder aus all diesen Elternhäusern gehen auf die Berg-Fidel-Grundschule, kein Kind wird abgewiesen.

Ein Dokumentarfilm hat einige Schüler drei Jahre lang begleitet. Und die Kinder bringen ganz unterschiedliche Voraussetzungen mit. Wir begegnen in dem Film von Hella Wenders zum Beispiel einem überaus intelligenten, musisch begabten, fantasievollen Jungen David, der aber sehr starke Hör- und Sehprobleme hat.

Wir beobachten seinen jüngeren Bruder Jakob, der mit dem Downsyndrom geboren wurde, und wir lernen das Roma-Mädchen Anita kennen, das vor der Abschiebung steht, oder Lukas, der sich wahnsinnig für Autos interessiert, auf dem Gebiet sich auch alles merken kann, es ansonsten aber doch ein bisschen schwer hat mit dem Lernen. Die alle gehen gemeinsam in die Berg-Fidel-Grundschule, denn die hat Inklusion zu ihrem Programm gemacht.

Ich habe mit dem Schulleiter, Reinhard Stähling, gesprochen und den mal gefragt, wie so was vor sich geht, wenn alle Kinder mit so unterschiedlichen Stärken und Schwächen zusammen lernen sollen. Wie funktioniert das?

Reinhard Stähling: Eigentlich lernen sie voneinander. Ganz einfaches Prinzip ist, was man ja auch sonst in jeder Klasse hat, dass nicht die Kinder alle ähnlich sind, aber wenn ich die Unterschiede größer mache, also wenn ich ganz Schwache und ganz Starke miteinander lernen lasse, dann lernen auch die ganz Starken mehr, als wenn sie nur mit Ähnlichen zusammenkommen.

Heise: Warum tun die das? Verstehe ich nicht.

Stähling: Das ist auf den ersten Blick auch nicht nachzuvollziehen. Weil die meisten fürchten ja, das könnte ja gar nicht sein, denn sie würden ja eher im Niveau gesenkt. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Wir haben ja damit zu tun, dass sogenannte Behinderte eine andere Perspektive auf den Lerngegenstand haben. Also wenn ich etwas zeige, etwas im Unterricht den Schülern beibringe, nehmen wir mal an, eine Fläche, und ich will eine Flächenberechnung machen, dann muss ich auf jeden Fall mit Medien arbeiten, mit Hilfsmitteln arbeiten, damit jeder das verstehen kann, auch ein geistig Behinderter.

Und wir stellen immer wieder bei sehr begabten Kindern fest, dass die zwar ganz leicht aufnehmen, aber dann manchmal auch nicht so in der Tiefe. Und nicht wirklich dem Lerngegenstand entsprechend, vertieft die Dinge verstehen, sondern sie sind sehr leicht in der Lage, es auswendig zu können oder schnell zu begreifen, aber sie haben nicht wirklich das Begreifen im wahrsten Sinne des Wortes. Und wenn da einer bei ist, der beispielsweise nicht gut hören kann, dann müssen wir das sehr deutlich machen, dass der das auch verstehen kann, dann sind auch die anderen gefordert, sprich bitte deutlich, sag es noch mal, wie du es meinst. Und solche Herausforderungen ...

Heise: So wird es vertieft bei allen Schülern. Sagen Sie, den Rahmenplan müssen Sie doch aber bei allen Kindern auch erfüllen?

Stähling: Ja. Aber eben ganz verschiedene Rahmenpläne. Also ein Erstklässler ein anderer als ein Viertklässler. Bei uns haben wir noch eine Besonderheit: Wir lernen gemeinsam. Wir haben diese Unterschiede zwischen schwach und stark noch dadurch verstärkt, dass wir auch noch Erstklässler mit Viertklässlern gleichzeitig lernen lassen. Also wir wollen nicht Unterschiede nivellieren, wir wollen das glatte Gegenteil. Wir wollen die Unterschiede groß machen. Und gerade das bietet für jeden eine unheimliche Chance.

Also einer, der gerade in die Schule gekommen ist, aber schon zu Hause oder wo auch immer, im Kindergarten schon Lesen gelernt hat, für den ist das ein Paradies. Er kann ja gleich bei den Älteren Anregung finden, und der kann sich sehr gut entwickeln. Während ein Schwacher, sagen wir einmal, der wäre dann schon drei Jahre in der Schule, einer, der dann ganz große Probleme hat, der hat nicht immer diesen Vergleich mit den anderen Gleichaltrigen, weil ja nur eine kleine Gruppe in der Klasse sein Alter haben. Die anderen sind jünger, und denen ist er noch, sagen wir mal im Lesen oder im Rechnen, durchaus gewachsen.

Heise: Das heißt, er ist auch nicht immer, fühlt sich nicht immer unterlegen.

Stähling: Richtig. Oder als Schlusslicht in einer Klasse, wie ja das dann im Laufe der Jahre sich immer verfestigt und man dann irgendwann dazu kommt, dann müsste der sitzen bleiben. Sitzenbleiben haben wir vollständig abgeschafft.

Heise: Man merkt den Kindern an, dass sie sich miteinander wohlfühlen, dass sie sich miteinander auseinandersetzen, dass sie sich zum Teil besser kennen, als die Lehrer die Kinder kennen. Sie helfen sich auch gegenseitig. Manchmal sind die Kinder aber auch sehr genervt voneinander. Beispielsweise Kinder mit Downsyndrom können ziemlich beharrlich sein, manches verhaltensauffällige Kind ist laut und stört ganz einfach. Hat dieses Genervtsein, dieses Sich-übereinander-ärgern eigentlich auch einen Platz oder muss man ständig Rücksicht aufeinander nehmen in der inklusiven Schule?

Stähling: Das hat einen großen Platz. Also das zu ignorieren wäre wirklich unmenschlich. Auch naiv. Wir müssen das Nerven, das, was uns stört, müssen wir aussprechen und wir müssen dann nach Lösungen suchen. Kinder, die in einer inklusiven Klasse aufwachsen, werden immer leichter lernen, Lösungsmöglichkeiten für Probleme zu finden. Weil sie wissen, wir müssen zusammen klarkommen, und wir müssen einen Weg finden. Und man kann nicht das Problem dadurch lösen, dass man hier einen rausschmeißt.

Und diese Möglichkeit erst mal gar nicht zu haben, ist schon der erste Schritt. Dann wird man sagen, so, wie kriegen wir das hin? Und dann wird man eine Lösung wirklich suchen, die auch für das Kind selber, das betroffene Kind eine gute Lösung ist. Also man sagt dann meinetwegen, wir bieten an, du kannst nach draußen gehen auf die Schaukel und dich erst mal dort körperlich abreagieren. Nach einer Zeit, wenn du merkst, du kannst wieder arbeiten, dann kommst du wieder rein, dann machst du weiter. Denn niemand hat was davon, wenn wir alle ertragen müssen, dass einzelne Kinder immer den anderen auf die Nerven gehen.

Heise: Eine Schule, die keinen aussortiert, ist die Berg-Fidel-Grundschule in Münster. Schulleiter Reinhard Stähling berichtet im Deutschlandradio Kultur über seine Erfahrungen. Herr Stähling, worauf kommt es bei Ihren Pädagogen an? Denn ich meine, auf jedes Kind im Einzelnen einzugehen, erfordert wahrscheinlich auch schon mal mehr Pädagogen oder auch eine ganz andere Ausbildung bei den Pädagogen oder einfach nur eine besondere Herzensbildung?

Stähling: Ja, vielleicht alles drei. Aber mehr Pädagogen ist auf jeden Fall richtig. Man darf nicht alleine stehen damit. Und das muss man in einer solchen Schule unbedingt schaffen. Das lässt sich aber immer gut machen.

Heise: Das lässt sich immer gut machen, das finde ich interessant. Weil normalerweise wird ja bei genau solchen Schulversuchen immer mit den nicht vorhandenen finanziellen Mitteln argumentiert. Man kann nicht so viele Lehrer, Pädagogen, Erzieher in eine Klasse stellen, weil man das Geld einfach nicht hat.

Stähling: Nun ist es aber so, dass manche Kinder sozusagen Personal mitbringen. Wenn wir schwer geistig behinderte Kinder haben oder wir haben Kinder mit besonderen Schädigungen, dann kriegen die einen Integrationshelfer und einen begleitenden Erwachsenen, den sie mit hineinbringen in die Klasse. Man kann dann im Team zusammen überlegen, wie es für die ganze Klasse leichter zu machen ist, wie man da miteinander klarkommen kann - das ist alles eine Sache eines Teams.

Bei uns ist es so: Wir haben in jeder Klasse jemanden als Klassenlehrer, und dann haben wir eine zweite Person, die die sonderpädagogische Arbeit stärker im Fokus hat. Und in jeder Klasse sind bei uns ungefähr sechs bis sieben Kinder, die sonderpädagogischen Förderbedarf haben und die damit auch einen gewissen Stellenanteil an Lehrerstunden mit hineinbringen.

Heise: Damit Inklusion an Schulen gelingt, muss man ja auch die Eltern überzeugen. Wenn wir jetzt mal einen Blick auf unsere Leistungsgesellschaft werfen, auf eine Gesellschaft, wo jeder im Wettbewerb mit jedem steht - wie bereitet denn eine Schule wie die Ihre auf diese Wirklichkeit vor, in die die Kinder dann ja irgendwann entlassen werden?

Stähling: Ja, das ist eine Frage, die auch viele Eltern betrifft. Also viele Eltern sagen, ich fürchte, es könnte nachher sein, dass mein Kind also doch, weil es dann hier sehr, sehr förderliche Bedingungen gefunden hat, dann in einem richtig harten System nicht mehr klarkommen. Das ist nicht unsere Erfahrung. Diese Kinder sind sehr fit. Sie haben eine soziale Stabilität gewonnen. Da sind wir relativ offen für neue Erfahrungen, und wir schrecken auch nicht die Kinder davor ab, dass sie jetzt auf andere Schulen kommen, sondern wir begleiten sie eigentlich auch dahin.

Nur wir haben das Problem, dass wir 15 Schulen haben, die eigentlich unsere Kinder übernehmen, und wie will man die jetzt wirklich vernünftig begleiten? Das ist zu viel, das ist auch nicht zu schaffen. Jedes Kind braucht eigentlich eine Begleitung für diesen Übergang. Und das ist nicht nur in Münster so, das ist eigentlich überall in den großen Städten so, dass die Kinder auf verschiedene Schulen verstreut werden und man dann auch die Bindung der Kinder aneinander, an ihre Freunde, an die Schule dann völlig verliert. Und das ist sehr schade, und das ist ein Lernverlust.

Heise: Wenn man sich den Film anschaut, der drei Jahre lang ja ihren Alltag beobachtet hat, den Alltag der Kinder, dann kann man sich freuen, dann kann man lachen, wenn man sie beobachtet. Man wird am Schluss aber irgendwie richtig traurig, wenn man nämlich mitkriegt, dass die Kinder, die da miteinander gelernt haben, egal, welche Voraussetzungen sie hatten, egal, wie weit sie es gebracht haben, dass sie am Ende der vierten Klasse auseinandersortiert werden nach Leistung.

Der hörgeschädigte David wird nicht vom Gymnasium akzeptiert, das Roma-Mädchen kommt auf die Sonderschule, und sie ist es, die dann einen Wunsch formuliert, sie würde nämlich gern zehn Jahre lang oder noch länger auf so eine Schule gehen wie Berg Fidel. Glauben Sie, Herr Stähling, dass es nur eine Chance gibt für inklusive Schulen, wo Kinder eben tatsächlich zehn, dreizehn Jahre zusammen lernen können?

Stähling: Ich glaube schon, dass wir da eine Chance haben, und ich glaube auch, dass das gewollt ist. Und ich glaube, dass wir dazu auch keine Alternative mehr haben. Unser Land ist eigentlich schon europaweit ein Sonderfall. Nur in Österreich und in der Ukraine gibt es noch die vierjährige Grundschule. Das kann eigentlich niemand wirklich wollen, auch nicht in Deutschland.

Also vierjährige Grundschule heißt ja, nach kurzer Zeit schon aussortieren, wo die Kinder gerade mal Schwung kriegen und sich an das gewöhnt haben. Also niemand von unseren 200 Eltern könnte ich benennen, der sagt, ja, prima, das muss auch so sein. Sondern eigentlich würden alle sagen, das ist etwas, was wir brauchen, fas Arbeiten muss weitergehen mit den gleichen Pädagogen im gleichen Hause möglichst. Und es sollte nicht einen Bruch geben.

Und dieser Bruch, der führt immer zu irgendwelchen Rückschlägen. Auch bei Gymnasiasten, auch bei sehr Lernstarken oder Hochbegabten. Ein Bruch ist ein Zeitverlust, und das ist für mich die Hauptursache für die mäßigen Pisa-Ergebnisse in Deutschland. Also der Bruch nach Klasse Vier.

Heise: Beobachtungen von Reinhard Stähling, Schulleiter der Berg-Fidel-Grundschule in Münster. Danke schön, Herr Stähling, und viel Erfolg Ihrer Schule weiterhin.

Stähling: Vielen Dank!

Heise: Wer mal reinschauen will, wie Inklusion, dieses theoretische Gebilde, in der Praxis aussehen kann: Der Dokumentarfilm "Berg Fidel" von Hella Wenders, der läuft in dieser Woche an.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.