Flüchtlinge filmen sich selbst
Wie fühlt es sich an, den Grenzzaun nicht überwunden zu haben? Monatelang zu warten und dabei nicht die Hoffnung zu verlieren? Zwei Filmemacher haben Flüchtlinge ihren Alltag selbst filmen lassen. Ihre Doku entstand an der Grenze von Afrika zur spanischen Enklave Melilla.
Filmausschntt: "Are you afraid? – Yes."
Es ist dunkel. Man hört Keuchen, erkennt schemenhaft zwei Männer. "Hast du Angst?", fragt der eine den anderen. "Ja", antwortet der andere. Die Männer klettern auf den Berg Gurugu, verstecken sich zwischen Kakteen und prüfen, ob heute der Tag gekommen ist, den Grenzzaun zu überwinden, der Afrika von Europa trennt und der gesichert ist durch drei 7 Meter hohe Zäune, mächtigen Stacheldraht und Überwachungskameras. Es ist nicht der richtige Tag. Schnitt. Ein informelles Camp.
Filmausschnitt: "Ich fange an zu drehen. Okay, die Leute da hinten."
Die Kamera zeigt einen Mann, der auf dem Boden hockt und an einem Plastikbecher schnitzt. Ein Messbecher, erfahren wir. Kaputt gegangen bei der letzten Polizeirazzia. Auf dem trockenen Sandboden liegen Matten, zwischen den Bäumen sind Planen gespannt. Einige Männer kochen. Einige hören Musik. Alltag im Camp.
Warten im Camp
"Ich bin seit 15 Monaten hier", erzählt der Malier Abou Bakar Sidibé im Off-Kommentar. "Ich weiß nicht, wie häufig ich schon versucht habe, über den Zaun zu springen." Nun dokumentiert Abou Bakar Sidibé das Leben in diesem informellen Camp, die Umgebung, das Warten auf den nächsten Sprung, die Verletzten, die es immer wieder gibt. Die Toten. Die Polizeirazzien, die in regelmäßigen Abständen stattfinden.
Filmausschnitt: "Film this. People need to see this. (Hubschrauber) Run faster, they are coming."
Es ist die radikal subjektive Perspektive eines Menschen, der selbst nach Europa gelangen will, die den Film so spannend macht. 2014 vermehrten sich die Berichte, dass immer wieder tausende Flüchtlinge versuchten, die Grenzanlage zu überwinden und dabei auch starben. Die beiden Dokumentarfilmer Estephan Wagner und Moritz Siebert machten sich auf den Weg an die nordafrikanische Küste und suchten Kontakt zu Flüchtlingen.
Moritz Siebert: "Uns war klar, das ist nicht der erste Film zum Thema. Es gibt Filme, es gibt auch gute Filme. Wir wollten was Neues machen, wir waren so begeistert und so beeindruckt von diesen Menschen, die sich nicht aufhalten ließen, diese Grenzen zu überwinden und haben uns überlegt: Was kann man machen? Anders machen, um vielleicht auch den bestehenden Werken etwas hinzuzufügen. Und kamen dann bald auf die Idee, wie’s wäre, wenn nicht wir die Bilder suchen, sondern andere die Bilder suchen lassen, nämlich diejenigen, die selbst dort leben und den Sprung immer wieder versuchen zu wagen."
Das Equipment: 50-Euro-Kameras
So drückten sie schließlich zwei Männern jeweils eine 50 Euro-Fotokamera mit Videofunktion in die Hand und ließen sie machen, ließen sie ihre Bilder suchen – und auch dieses Suchen haben sie mit in den Film aufgenommen.
Filmausschnitt: "You can film me from the side, but not my bum, film me from the side but not my bum – ach, filme alles - better cover your private parts."
Wir sehen, wie sich ein Mann über einen Eimer gebeugt wäscht. Du kannst mich von der Seite filmen, aber nicht meinen Hintern, sagt er in die Kamera. Ach, filme doch alles, sagt er schließlich. Die Leute sollen das sehen.
In der vergangenen Woche hat Tobias Kniebe in der "Süddeutschen Zeitung" gegen den dokumentarischen Trend gewettert, Bilder für sich sprechen zu lassen, nicht zu erklären, nicht einzuordnen. Von "ideologischer Selbstentmachtung des Dokumentarfilms” sprach er und hielt ein flammendes Plädoyer für journalistisches Arbeiten im Dokumentarfilm. Es ist wohl auch der Wunsch, die Welt zu erklären, der hier durchklingt.
Die Perspektive wechseln
Nur arbeiten sich Dokumentarfilmer bereits seit Jahrzehnten daran ab, wie und ob man überhaupt so etwas wie Wahrheit einfangen kann. Und ein Film wie "Les Sauteurs” entsteht gerade aus dem Impuls heraus, der europäischen Perspektive voller Erklärungen und den hiesigen Bildern von Migrantinnen und Migranten etwas entgegenzusetzen. Nicht zu erklären, sondern Einblicke zu gewähren, die Protagonisten wirklich zu Protagonisten zu machen und dadurch Blick und Denken beim Zuschauer zu verändern. Cinéma Vérité im besten Sinne.
Filmausschnitt: "When you look at the world through a camera you begin to perceive the surroundings differently. I started to enjoy creating images. Slowly I found beauty in them. They have a meaning for me. I started to express myself with images. I feel that I exist when I film."
Wenn du durch die Kamera schaust, siehst du die Welt anders, sagt Abou Bakar Sidibé. Ich fing an, Gefallen daran zu finden, Bilder zu schaffen. Sie bedeuten mir etwas. Ich fing an, mich in Bildern auszudrücken. Ich fühle mich am Leben, wenn ich filme.
"Les Sauteurs” arbeitet ganz bewusst mit Perspektiven: der subjektiven setzt der Film abstrakte Bilder von Wärmebild- und Überwachungskameras entgegen. Hier erscheinen die Flüchtlinge nur als Punkte, die sich bewegen. Und es ist erschütternd, wie viele Punkte manchmal zu sehen sind. Und sich dann plötzlich nicht mehr bewegen. Es ist die Lebensrealität am Rande einer abgeschotteten EU.