Es gibt eine Einsamkeit, die bewirkt, dass man sich irgendwann danach sehnt,
dem ersten Traum seines Lebens
auf die Spur zu kommen, mithilfe dessen
man sich vielleicht wieder erinnert,
eigentlich nie daraus erwacht zu sein. Wäre das möglich?
Dass einem dann diese Ameisen aus der Hand laufen
und diese Rasierklinge im Auge scheint
schon einer Wolke gleich, Striche
durch den Mond ziehen.
Dominik Dombrowski: "Schwanen"
© Edition Azur
Zwischen Kneipen-Metaphysik und Kinematografie
05:42 Minuten
Dominik Dombrowski
SchwanenEdition Azur, Berlin 202280 Seiten
18,00 Euro
Mit Schnaps, Anekdoten und Kinokultur dringt Dominik Dombrowskis neue Lyrik in surreal-spukhafte Hinterwelten vor. Der Band "Schwanen" arbeitet sowohl mit vergnüglicher Ironie als auch melancholischem Sound.
Es ist eine „Edward-Hopper-Oktobernacht“ irgendwo in einer Schänke, wo es zwischen schummrigem Zigarettenrauch und Calvados noch verwaiste Billardtische gibt. Allerlei Storys liegen in der Luft. So auch jene von einer durch die Bürgerschaft Hamms zu Tourismuszwecken einstmals angeschafften ägyptischen Mumie – eine recht absurde Geschichte, die dann das lyrische Ich an der Theke zu einer Gedankenreise an das Land am Nil veranlasst. Vor seinem inneren Auge sieht es einen jungen Mann, der dort über den Tod nachdenkt und sich vorstellt, wie seine „Seele fortsegelt“ hinab in die Unterwelt: „Wenn alles gut geht, / werden ihm magische Fähigkeiten verliehen. / Er könnte sogar als Gespenst die Lebenden besuchen.“
In einer Zeit der Religions- und Sinnkrise von solcherlei Übergängen und Rückkehren zu schreiben, belegt den Versuch, das lange vergessen geglaubte Metaphysische wieder einzufangen. Auch auf der Ebene der Gesamtstruktur löst der neue Gedichtband von Dominik Dombrowski diese Ambition ein. Mögen seine Miniaturen zwar alle auch für sich stehen, so sind sie gleichsam subtil durch Transzendenz-Motive miteinander verquickt. Immer wieder begegnen uns in „Schwanen“ daher die Sonne, die Sterne, die Milchstraße oder ebenso häufig der (wohl babylonische) Turmbau.
Eigenes Genre
Dass die grenzenlose Poesie dem 1964 in Texas geborenen und heute in Bonn lebenden Autor dazu dient, ein Tor zu einem spirituellen Raum zu öffnen, mag man allerdings erst auf den zweiten oder dritten Blick erkennen. Denn vordergründig entwickelt der Underdog der deutschen Lyrikszene ein ganz eigenes Genre, das der Straßen- und Tresenpoesie. Sie weist mehr eine Nähe zum Anekdotischen als zur klassischen Dichtung auf, findet ihren Ausgangspunkt in reichlich Bierseligkeit und Rauschmitteln oder schlichtweg in Beobachtungen während nächtlicher Spaziergänge durch die Stadt.
Mal trifft ein Subjekt bei nebelverhangener Dunkelheit auf eine im Schnee barfüßig dastehende Greisin – mithin eine Anspielung auf den ebenso schuhlosen, in der eisigen Landschaft befindlichen Leiermann in Wilhelm Müllers „Winterreise“ –, die sich schon am nächsten Tag in einen Baum verwandelt hat, mal führt ein Lagerfeuer unter bekifften Hippies und „Übriggebliebene[n]“ zu einem deep talk über das Schicksal und die menschliche Existenz:
Kinematografische Einflüsse
Aufgegriffen wird zuletzt die bekannte Schockmontage aus Luis Buñuels Film „Ein andalusischer Hund“. Hierin schiebt sich zunächst eine Wolke vor den Mond, bevor dann nach einem Schnitt unversehens eine Klinge einen Augapfel streift. Schon seit jeher nimmt das Kino einen zentralen Platz in Dombrowskis Dichtung ein. In diesem Band erweist es sich gar als ein Schlüsselmoment.
Nachdem die Kinematografie in ihrer Frühphase sichtlich von Freuds Psychoanalyse inspiriert war, setzt „Schwanen“ nun das surreale Programm sowohl mit vergnüglicher Ironie als auch melancholischem Sound fort. Die Realität fungiert in diesen Poemen einzig noch als Sprungbrett für somnambule Traumexzesse. Es spukt, es geistert in diesem poetischen Delirium, aus dem man nach knapp achtzig Seiten nur ungern erwachen möchte.