"Eine ziemlich einmalige Persönlichkeit"
Als Michael Althen starb, verlor Dominik Graf einen engen Freund. Nun hat er dessen Leben verfilmt. Der Regisseur spricht darüber, wie ein guter biografischer Film erzählt sein sollte und warum er bis heute um den Filmkritiker trauert.
Patrick Wellinski: Wann nach seinem so plötzlichen Tod war Ihnen eigentlich klar, dass Sie einen Film für Michael Althen und vor allem einen über ihn machen wollen?
Dominik Graf: Na ja, es gibt ja so Menschen, die dieses Leben, das eigene Leben prägen und in seinem Fall auch das Leben sehr vieler anderer Menschen prägen. Und Michael war schon für alle, die ihn kannten, eine überragende Persönlichkeit, eine ziemlich einmalige Persönlichkeit, und auch ein Künstler, der sozusagen nie ganz aus dem Ei geschlüpft ist, weil er sich vielleicht nicht getraut hat, also entweder in Kombination mit mir, aber dann doch irgendwie durch seine Kritiken und vor allem durch seine Nachrufe grandiose literarische Formen gefunden hat, um die Liebe zum Kino zum Leben sozusagen zu eins zu bringen. Und ich denke, dass eigentlich, ja, so ein bis anderthalb Jahre nach seinem Tod war vielen gleichzeitig – also auch dem Jochen Schröder, der den Film mit mir zusammen gemacht hat, der Produzent – klar, dass man Michael nicht einfach jetzt irgendwie so gegangen lassen sein kann.
Wellinski: Wie haben Sie ihn eigentlich kennengelernt, erst durch seine Texte und dann persönlich?
Graf: Ja, die Texte kannte ich, das war für mich eine neue Generation in der "Süddeutschen" damals, die endlich mal auch die Schönheiten des amerikanischen Kommerzkinos der 80er gepriesen hat und nicht nur auf immer politischen Kriterien und gesellschaftlicher Wichtigkeit herumgehüpft ist wie ungefähr zehn, fünfzehn Jahre vorher lang, sondern die auch einen anderen Ton fanden für Leidenschaft zu Gesichtern, Leidenschaft zu Szenen, zu einzelnen Dialogsätzen, zu einzelnen Kameraeinstellungen. Getroffen haben wir uns dann das erste Mal – ich glaube, '90 oder '91 – in einem Biergarten hier in München, bezeichnenderweise der Biergarten, in dem wir uns dann auch immer wieder getroffen haben, auch als er dann nicht mehr in München gewohnt hat, und haben sofort über ein Thema geredet, das mir ansonsten eigentlich, wo mich alle irgendwie verständnislos angeguckt haben, nämlich über Orte im deutschen Film, also inwieweit Orte, Topografien, Außenmotive natürlich vor allem, inwieweit die eigentlich eine Rolle spielen. Da gibt es natürlich ein paar herausragende Herrschaften, die das zelebriert haben, wie Wenders oder Keutner oder in den älteren Filmen auch eben Veit Harlan und so weiter, aber eigentlich, wenn man sich so damals umgeguckt hat, wenig. Und das hat ihn auch umgetrieben, und aus diesem Gespräch darüber, das war auch seine Idee, weswegen er mich interviewen wollte, warum eben da bei mir immer so Orte vorkommen, die dann auch in Erinnerung bleiben oder von denen man gedacht hat, stimmt, die hätten längst schon mal vorkommen müssen, daraus erwuchs dann eigentlich die Idee über den Film über München, der eigentlich auch nur aus Orten und Plätzen bestehen sollte, die bisher in Münchener Filmen noch nicht vorgekommen sind.
Wellinski: Wie sind Sie denn jetzt bei der Konzeption eigentlich vorgegangen? Also Sie gehen ja der klassischen Dramaturgie, die ein Leben so vorgibt – Geburt, Kindheit, Familie, Arbeit, Tod –, in dieser Reihenfolge zumindest aus dem Weg. Sie mussten sich ja die Frage gestellt haben, wie verfilmt man das Leben eines Filmkritikers?
Bloß kein chronologisches Abarbeiten der Biografie
Graf: Ja, wie verfilmt man überhaupt das Leben von einer Person, finde ich. Also ein Filmkritiker ist ja letzten Endes ein Mensch wie jeder andere, der hinterlässt Spuren, der hinterlässt Zeitgenossen, die auch in der Lage sind, sich über ihn zu äußern, der hinterlässt Zettel, Reste, Fragmente und Fotos ohne Ende, und eigentlich ist er sozusagen in seiner Künstlerschaft auch ständig präsent. Das kann man sich alles heranholen, und dann muss man eben aufpassen, dass es nicht ein chronologisches Abarbeiten einer Biografie wird, weil ich da dran auch nicht glaube. Also es interessiert mich auch im Kino nicht, chronologische Abarbeitungen, egal ob es fiktive sind oder dokumentarische. Ich glaube, man muss eher nach den Mustern in einem Leben suchen, oder nach den Dingen, nach den Komplexen – also jetzt nicht im Sinn von Minderwertigkeitskomplexen, sondern den komplexen Themen –, die sozusagen einen Menschen bewegt haben und die in verschiedenen Stadien auch immer wiedergekommen sind, wie ein Pendel, das zurückgekommen ist, aber dann immer auf einer anderen Stufe den Menschen wieder vorgefunden hat. Das Kino war sicherlich eins der größten Themen und Pendel für ihn, dem er sich auch, glaube ich, unterschiedlich irgendwann, also zu dem er sich zeitlebens zwar in Leidenschaft und Liebe, aber manchmal durchaus auch mit einer gewissen Verzweiflung zugewandt hat, und dann natürlich sehr viele andere Dinge, auch private Sachen, aber eben auch die Literatur, die Malerei, sein unvollendet gebliebener toller Film über den russisch-französischen Maler Nicolas des Staël – das sind alles dann so Punkte, wo man das Leben eigentlich mehr in der Vertikalen, in der Horizontalen sozusagen erzählen kann, das heißt also eben nicht vertikal eine Linie nach oben gehen oder nach unten gehen, sondern wo man die Dinge gleichwertig alle Jahre miteinander verschmelzen lassen kann in einzelnen Momenten, die sich dann irgendwie doppeln, dritteln oder sich immer wieder wiederholen.
Wellinski: Ein zentrales Element Ihres essayistischen Ansatzes sind ja die Texte von Michael Althen, er hat ja eine unglaubliche Menge produziert, das muss man ja sagen. Wie sind Sie denn bei der Auswahl des Materials vorgegangen? Haben Sie sich da nach Gefühl oder nach "den Text, den fand ich immer schon großartig" gerichtet?
Graf: Völlig subjektiv, also ich habe seine Texte auch gesammelt, weil die meistens auch auf Seiten ausgedruckt waren, die von ihm ein oft sehr wunderschönes Layout hatten, mit fantastischen Fotos aus dem Kino, aus der Kinogeschichte, die ich manchmal noch nirgendwo gesehen habe, jedenfalls waren die Seiten an sich schon Erlebnisse, deshalb habe ich die aufgehoben. Und dann war es mir relativ schnell klar, welche Texte drin sein müssen sozusagen. Daraus hat sich dann auch ... Ich meine, man muss nur zehn Texte aneinanderlegen, dann hast du schon einen ganzen Film, wenn du die durchliest. Also man hat das Gefühl, man muss sich dann auch einschränken, und in der Einschränkung wurde es dann gewissermaßen immer klarer, welche Momente auch von diesen Texten die sind, wo Michael sich in besonderer Weise manifestiert.
Unverfilmbare Dinge verfilmt
Wellinski: Es ist ja auch ein Suchen und ein Abtasten in diesem Film: Einer meiner Lieblingsmomente, das ist ja fast schon ein Genremoment in diesem Film, wo Sie die Karte der Côte d'Azur zeigen um Cannes herum und mit einer Art Suchstrahl zeigen, wo Michael Althen überall gewohnt hat, natürlich sehr weit weg vom Zentrum. Wie kommen Sie auf diese Idee, auch mit Genreelementen dann so zu arbeiten?
Graf: Eigentlich sind das ja lauter unverfilmbare Dinge, also eben, wie soll man Zeitungsartikel verfilmen. Man muss sich dann sozusagen die assoziativen Bilder dazu holen. Manche gibt es nicht, die muss man machen, einige kann man dann am Schneidetisch konstruieren, wie eben das mit der Landkarte und dem Scheinwerfer, das kommt ja dann noch mal vor, wenn es dann eben nach Antibes geht, zu Nicolas de Staël und seinem Selbstmord dort. Und das ist natürlich auch so, dass der Michael ... dass ich weiß, dass er natürlich als großer Liebhaber von Modellen und Landkarten so eine Art der Bebilderung sicherlich auch sanktioniert hätte, sagen wir mal so.
Wellinski: "Was heißt hier Ende?" wird mit der Zeit aber auch zur Zustandsbeschreibung der jetzigen deutschen Filmkritik, und irgendwie hat man das Gefühl, dass mit ihm auch ein gewisser Teil, eine gewisse Emotion in der Filmkritik gestorben ist. Wo steht denn die deutsche Filmkritik aus Ihrer Sicht heute, Herr Graf?
Graf: Na ja, das ist mir ja von vielen Filmkritikern offenbar auch übel genommen worden. Ich selber habe in dem Film gar nicht so eine große Meinung dazu, ich habe aber Leute interviewt, die sehr dezidierte Meinungen dazu haben und die natürlich dann an bestimmten Stellen auch sagen, das geht ja alles den Bach runter. Natürlich geht die Funktion des Filmkritikers, der nur noch irgendwie in der Presse den Daumen hoch oder runter machen kann oder einen Punkt für Humor und zwei für Anspruch vergeben kann, und das reicht dem normalen Leser eigentlich heutzutage, um ins Kino zu gehen oder nicht. Das ist natürlich beschämend, das ist auch eine furchtbare Entwicklung. Auf der anderen Seite wäre der Michael der Erste gewesen, der gesagt hätte, na ja, gut, dann ist das halt so, dann machen wir halt irgendwas anderes, gewissermaßen. Nur unter diesem "so ist es eben" hätte auch bei ihm eine Melancholie geschwebt, die ich versucht habe, auch in dem Film einzufangen. Das ist jetzt nicht meine Melancholie, sondern das ist die eines Menschen, dessen ganze Arbeit und ganze Leidenschaft ja gerichtet war auf das Kino und auch auf die Filmkritik, auf die Darbietung von verbalen Auseinandersetzungen über Film, an dem ihm unglaublich viel lag. Also das waren wirklich ... das ist jemand, der noch nach 30 Berufsjahren quasi eine ganze Nacht lang über einen Film reden konnte. Auf der anderen Seite merkte er natürlich, irgendwie läuft die Zeit ab, ja, also wie so eine Uhr, die allmählich gegen null geht. Und das hatten die anderen Herrschaften um ihn herum eben auch, auch wenn Claudius Seidl noch so stark sagte, es stimmt überhaupt nicht, und unsere Zeitung geht nach wie vor, die wird sogar immer besser – trotzdem sagt auch der, na ja, so die großen Nachwuchstalente in der Filmkritik, die fehlen zurzeit. Das bedeutet ja nicht, die Leute sind alle doof, sondern das heißt ja, dass Film auch einen Bedeutungsverlust erlitten hat. Den versuche ich auch irgendwie einzugrenzen, vor allem mit den etwas jüngeren Kritikern, dem Olaf Möller und dem Christoph Huber. Ich weiß nicht, ob das Publikum das Gefühl hat, dass wir da zu einem Punkt kommen, also Bedeutungsverlust ja oder nein, aber ich finde, dass der Christoph Huber schon erstaunlich gut analysiert, was sich seit der Erfindung des Arthouse-Kinos so in den 80ern dann eben, also wie das Kino sozusagen in seiner Welthaltigkeit – auch so ein Michael-Althen-Wort – in seiner Welthaltigkeit quasi ausgetrocknet wurde durch dieses Schubladen-Marketing, also das ist ein Film für 50-Jährige, und das ist für die, die gerade ein Kind gekriegt haben, und das ist für Verliebte, und das ist für junge Verliebte, das macht einen ja wahnsinnig, das ist ja keine ... Im Grunde sollte, wie Olaf Möller sagt, jeder Film ja eigentlich alles beinhalten. Jetzt beinhalten die Filme aber nur noch sozusagen zielgruppenrelevante Sachen, das ist ja alles schrecklich, also insofern, ja, Bedeutungsverlust, alles klar.
Wellinski: Wim Wenders spricht in Ihrem Film von einer Komplizenschaft zwischen, wie er sagt, dem Michael und uns, und die vermisst er. Vermissen Sie auch vielleicht die Komplizenschaft zwischen der Kritik und den Filmemachern?
Ein gemeinsames Ticken für den Film
Graf: Also ich bin ja aufgewachsen zehn Jahre vor dem Michael, gewissermaßen in der deutschen Hochzeit des deutschen Autorenfilms, da gab es eine Komplizenschaft zwischen den Kritikern und den Filmemachern. Die hat mir nicht so behagt als junger Student, weil die nämlich abends am Biertisch die Kritik gemeinsam geschrieben haben, die am nächsten Tag da stand. Das fand ich irgendwie nicht okay. Also eine gewisse Distanz muss schon sein, so wie der Michael ja dann, nachdem wir uns kennengelernt haben und auch persönlich gearbeitet haben, dezidiert nicht mehr über meine Filme geschrieben hat, das finde ich total okay. Komplizenschaft ist, meine ich, anders: Es ist ein gemeinsames Ticken für den Film, für das, was man vermisst, für das, was man lobt, für das, was man liebt. Ich denke, dass wenn man da einen Einklang hat, dann kann einem die Kritik als Regisseur ja auch unglaublich viel geben und auch wirklich erklären, auch was man falsch gemacht hat unter Umständen, und es kann aber auch so eine Art von, wie soll ich sagen, einem Gleichklang geben zwischen dem Gefühl, dass da ein Kritiker schreibt, der ein viel größerer Künstler ist als vielleicht der Regisseur, der den Film gemacht hat, und man aber den Eindruck hat, okay, der sagt jetzt, das habe ich da jetzt noch nicht geschafft, aber dann versuche ich es beim nächsten Mal. Dazu muss man sich nicht ständig im Biergarten treffen, wie gesagt, wenn man das tut, dann sollte man das auch sein lassen, dass der Kritiker über einen schreibt. Aber das stimmt schon, dieses gegenseitige sich, sagen wir mal, sich gegenseitig befruchten sozusagen, das war eigentlich auch in allen großen Kinowellen der Filmgeschichte auch immer so.
Wellinski: Abschließend vielleicht, Herr Graf, haben Sie etwas durch die Dreharbeiten zu "Was heißt hier Ende?" von Ihrem Freund Michael Althen Neues erfahren, was Sie vorher vielleicht nicht wussten oder nicht geahnt haben?
Graf: Ich glaube, dass die Vertiefung der Furchen, die ich so zusammen mit ihm in seinem Leben abgegangen bin, also das, was ihn interessiert hat, da wo er wirklich seinen, wie soll man sagen, seinen Pflug irgendwie reingehauen hat, dass das noch mal auch mehr noch tiefer begründet wurde. Also ich bin sozusagen an die Wurzel dessen vorgestoßen, was ich in gewissem Sinn schon wusste, was aber durch die Vertiefung von unten aus der Kindheit, aus den Aussagen der Freunde dann doch noch mal auch für mich im Nachhinein – als auch immer noch Trauernder über so einen Verlust wie er, über so einen frühen Tod –, das mir doch sehr, sehr wichtig war.
Wellinski: Dominik Graf über seine filmische Würdigung des verstorbenen Filmkritikers Michael Althen. "Was heißt hier Ende?" läuft ab kommendem Donnerstag in den deutschen Kinos. Herr Graf, vielen Dank für Ihre Zeit, den Film, und ich wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg!
Graf: Ich danke! Tschüss!
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