Doomscrolling

Warum negative Schlagzeilen uns nicht loslassen

06:12 Minuten
Frau sitzt auf dem Rücksitz eines Autos mit Maske und schaut auf ihr Smartphone
Positive Neuigkeiten scheinen uns längst nicht so zu fesseln wie negative. © imago / Addictive Stock / Nano Calvo
Von Felix Wessel |
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Seit Corona geht es vielen so: Sie können nicht aufhören, sich durch immer neue alarmierende Nachrichten zu scrollen. Doomscrolling heißt das Phänomen, und es lässt sich psychologisch gut erklären.
Ich gebe es zu – ich hatte das mit Doomscrolling ja so ein bisschen verpennt. Also, den Begriff. Aber als es schließlich im Radio in Neuseeland zum Wort des Jahres gekürt wurde, da hatte ich endlich einen Namen für das, was ich schon seit Monaten immer wieder gemacht habe.
"Doomscrolling, das. Von Doom für Verderben oder Unheil. Sich fortwährend durch negative Nachrichten zu scrollen, obwohl diese traurig, entmutigend oder deprimierend sind."
Es war im vergangenen März. Wir waren auf Reisen in Südafrika. Meine Frau im Pool, ich mit Smartphone auf dem Hotelbett, immer und immer wieder am Scrollen durch Live-Ticker, Twitter- und Facebook-Feed.
"Die Weltgesundheitsorganisation spricht mit Blick auf den Corona-Erreger mittlerweile von einer Pandemie."
"Das Robert Koch-Institut stuft das Risiko für die Bevölkerung mittlerweile als hoch ein."
"Die Lufthansa streicht im Zuge der Corona-Krise von der kommenden Woche an 95 Prozent ihrer Flüge."
"Das Risiko wegen zunehmender Einschränkungen nicht die Rückreise antreten zu können, sei hoch."

Wir richten die Aufmerksamkeit auf das Bedrohliche

Zu Beginn dieser Ausnahmesituation regelmäßig nach Informationen suchen – das haben viele gemacht, sagt Moritz Petzold. Er ist Psychologe an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité in Berlin. Und eigentlich sei es auch ganz normal, in Gefahrensituationen die Aufmerksamkeit eher auf die bedrohlichen Dinge zu legen. Aber da, sagt Petzold, könne auch eine Art Teufelskreis entstehen.

"Wenn man sich bedroht fühlt, dann mehr versucht, Informationen über die Bedrohung zu bekommen, dann noch mehr sich bedroht fühlt, immer weiter fokussiert auf negative Informationen – und da sich eben so ein Strudel entwickeln kann, der mit diesem Modebegriff jetzt auch bezeichnet wird."

Und Doomscolling kann eben auch mehr sein als ein Modebegriff. Ein Forschungsteam, an dem Moritz Petzold beteiligt war, hat zu Beginn der Pandemie eine Studie durchgeführt.
Rund 6500 Menschen haben mitgemacht. Und auch wenn wir mit der Deutung etwas vorsichtig sein müssen, war ein Ergebnis: Wer sich länger oder häufiger über die Medien mit Corona beschäftigte, hat auch ein höheres Ausmaß psychischer Belastung gezeigt. Und bei Menschen, bei denen Social Media eher die primäre Informationsquelle war, da war die Belastung auch höher.

Eine nicht endende Flut an Nachrichten

Ben Grosser ist Künstler und Professor an der University of Illinois in den USA. Und auch er war am Doomscrollen – zum Teil bis spät in die Nacht. Grosser hat schließlich ein Projekt daraus gemacht: endlessdoomscroller.com.
Wer auf die Seite geht, kann sich durch Schlagzeilen scrollen: "Lockdown verlängert. Die Krise ist unvermeidbar. Fälle auf Rekord-Niveau. Es wird länger dauern als man denkt." – Jede Menge negative Schlagzeilen. "Die Situation ist schlimmer als vorhergesagt. Keine Lösung am Horizont. Die Experten sagen, es werde niemals besser. Heute ist doppelt so schlimm wie gestern."

Aber egal, wie weit man scrollt: Ein Ende ist nicht in Sicht. Für Ben Grosser ist das eine Auseinandersetzung mit uns in dieser Krise – und eine mit dem Design der Plattformen.

"Wenn ich zum Beispiel an Facebook denke: Der Newsfeed-Algorithmus von Facebook ist nicht darauf ausgelegt, mir gerade genug Informationen zu geben, damit ich sicher bleibe, was in der Pandemie eine schöne Sache wäre. Er ist darauf ausgelegt, dass ich weiter schaue. Und was dafür sorgt, dass ich weiter schaue – besonders im letzten März, April, Mai, Juni, aber auch jetzt – ist Angst, angstbasierte Artikel darüber, wie schlecht die Dinge sind und wie schlecht sie bald werden könnten."

Gleefreshing statt Doomscrolling

Doch im November hat sich dann auf einmal etwas getan: "Joseph R. Biden Junior is elected the 46th president of the United States."
Und viele haben sich nach der Wahl in Amerika gefragt: Ist es überhaupt noch Doomscrolling, wenn die Nachrichten gar nicht mehr schlecht sind? In den USA kam deshalb ein neuer Begriff auf:

"Gleefreshing, das. Gegenteil von Doomscrolling. Von Glee für Freude und refresh für aktualisieren."
Doch irgendwie hat das mit dem Gleefreshing nicht so richtig Fahrt aufgenommen: In den USA kam der Sturm auf das Kapitol – und weltweit immer wieder Neues zu Corona: Mutationen, Höchststände bei Todesfällen, Impfstoff-Engpässe und vieles mehr.

Den Medienkonsum hinterfragen

Wahrscheinlich müssen wir also einen Weg finden, mit dem Doomscrollen umzugehen. Tipps gibt es viele: Webseiten mit konstruktiven Inhalten nutzen, einen getrennten Feed für Nachrichten und einen für die schönen Dinge im Leben haben – und vieles mehr.
Ich muss zugeben. Für mich habe ich noch nicht wirklich den perfekten Weg gefunden. Einen Schritt bin ich aber schon gegangen: weniger Social Media. Und auch Psychologe Moritz Petzold empfiehlt: Wenn das mit dem Medienkonsum etwas aus dem Ruder geraten ist, am besten als erstes den Umfang reduzieren – "und die Quellenauswahl einzuschränken, also sich hier mehr auf Regierungsseiten, Gesundheitsorganisationsseiten zu beziehen und weniger auf soziale Medien oder Live-Ticker, wo sehr schnell unterschiedliche Informationen kommen, um sich objektiv zu informieren. Und das möglichst auch nicht dauernd zu tun, also nicht alle zehn Minuten auf das Handy zu gucken und dann nach neuen Informationen zu suchen."
Aber klar, ganz ohne Social Media wird es für die wenigsten von uns gehen. Für Künstler Ben Grosser aus Illinois ist deshalb ein Punkt wichtig: Uns selbst und unser Verhalten auf den Plattformen kritisch zu hinterfragen.
"Sprich über die Plattform, denk über sie nach, indem du ein wenig Abstand von ihr gewinnst: Was ist es, das da passiert? Das ist ein Weg, um zumindest ein bisschen die Machtverhältnisse neu zu aufzustellen. Klar, das verändert es nicht dramatisch. Aber je mehr wir uns klarmachen können, wie Software uns beeinflusst, desto mehr können wir achtsam bleiben und nicht im Scrollen versacken."
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