Ein kleines, zartes Mädchen turnt am Boden. Schreitet, hüpft, springt, rollt, wirbelt, fliegt. Den Takt gibt Tschaikowskis Nussknackersuite an. Radwende, Flickflack, Mühle, Handstand-Überschlag, Salto vorwärts, Radwende, Flickflack, gestreckter Salto. Alles sieht elegant aus und federleicht. Diese Musik begleitet die junge Turnerin bei jeder Kür. Sechs Jahre lang. Bis sie nicht mehr kann.
Januar 2021. Ich habe das Turnermädchen von einst am Telefon. Nennen wir sie Kerstin P. Ihren richtigen Namen möchte sie nicht in der Öffentlichkeit sehen.
An diesem Tag hat Kerstin P. einen Sieg vor Gericht errungen. Für sich und für andere DDR-Sportler, die schon als Kinder oder Jugendliche ohne ihr Wissen gedopt wurden. "Dass das endlich einmal aufhört, uns immer in eine Ecke zu schieben: Ihr habt ja alles gewusst, ihr habt ja alles genommen, was ihr kriegen konntet - so ungefähr", schildert sie ihre Motive. "Einfach, dass dieser Weg der Gerechtigkeit geebnet wird. Für alle anderen mit."
Mit zwölf bekam sie Oral-Turinabol
Als Zehnjährige kam Kerstin P. zum Sportklub Empor Rostock. Ihre Medizinakte, geführt von den Sportärzten des Klubs, belegt: Bereits mit zwölf Jahren wurde ihr das Hormon-Präparat Oral-Turinabol verabreicht. Zum ersten Mal stellt nun ein deutsches Gericht fest: "Die Verabreichung von Dopingmitteln an die Klägerin ... war rechtsstaatswidrig... Es liegt ein Willkürakt im Einzelfall vor. Willkürlich handelt ein Staatsorgan, wenn es sich über das Recht hinwegsetzt."
Bisher hieß es immer, Zwangsdoping sei kein Willkürakt des Staates, sondern von Trainern und Ärzten ausgeführt. Deshalb stehe auch nicht der Staat dafür gerade, wenn ehemalige DDR-Leistungssportler bis heute schwere gesundheitliche Folgen zu tragen haben.
Nach diesem Urteil ist es nun jedoch möglich, dass Kerstin P. und viele andere Athleten von einst eine kleine monatliche Rente beantragen können. Bis zu ihrem eigentlichen Rentenalter schafft es die heute 60-jährige Lehrerin nicht mehr, täglich zur Arbeit zu gehen.
Schmerzen und Operationen
"Ständige Schmerzen in allen Gelenken, die man sich nur vorstellen kann. Operiert worden bin ich am Ellenbogen, Knie, Hüfte. Mehrmals, insgesamt sind es acht Gelenkoperationen", schildert P. "Und das ist auch noch nicht alles, es kommen noch welche. Meine erste Gelenk-OP hatte ich mit 15."
Unsere Goldkinder. Aus Kerstin P. wurde kein Goldkind, das wir bejubeln konnten. Sie blieb auf der Strecke. Nicht, weil sie nicht wollte, sondern weil sie nicht mehr konnte. Weil ihr Körper mit 15 Jahren kaputt war. Solche wie Kerstin haben wir nicht gesehen. Sie bleiben auch Jahrzehnte später noch unsichtbar. Viele von ihnen schämen sich, haben das Gefühl, versagt zu haben.
Dass andere versagt haben, wird ihnen erst später klar. Auch Kerstin P. erging es so. Ein paar Monate nach dem Gerichtsurteil besuche ich sie. Ich möchte von ihr die ganze Geschichte erfahren. Die Geschichte eines Turnermädchens in der DDR.
"Ich war noch Kindergartenkind, da hat mich meine Tante mitgenommen, nachmittags war immer so Sportunterricht, Arbeitsgemeinschaften. Und dann bin ich später in der Grundschule viermal in der Woche zum Training gegangen", erinnert sich Kerstin P.. "Wir haben dann teilgenommen: Kreisspartakiade, Bezirksspartakiade, überall diese Wettkämpfe. Und es wurde dann bei mir auch so: Immer weiter, immer weitermachen, immer mehr auch lernen. Um zu zeigen, was ich kann."
Rhythmische Sportgymnastik: Teilnehmerinnen der IV. Spartakiade in Berlin 1973.© imago / Sven Simon
Bis heute sieht man Kerstin P. die Turnerin an: Sie ist klein und sehr zierlich. Nur von den geschmeidigen Bewegungen ist nichts mehr geblieben. Um die Schmerzen in den Gelenken zu überstehen, braucht sie täglich zehn Tabletten.
Aus einem Album rutscht ein kleines Schwarz-Weiß-Foto heraus: Ein Mädchen mit sehr kurz geschnittenen Haaren steht im Turndress auf einem Balkon. Kerzengerade, Hacken zusammen. Sie schaut ernst in die Kamera. Da ist sie zehn Jahre alt und sieht aus wie eine Erstklässlerin.
"Ja, und das Gewicht war ja auch so. Da sehe ich aus wie ein Junge, nicht?", sagt sie. "Das war die Grundhaltung: Schultern zurück, Kopf gerade."
Aufnahme an der Kinder-und Jugendsportschule
Kurz nachdem dieses Foto entstand, erfüllt sich der große Traum des Mädchens: Sie, die damals beste Turnerin der drei DDR-Nordbezirke Rostock, Schwerin, Neubrandenburg, darf zur Kinder-und Jugendsportschule, kurz KJS, gehen. Sie gehört nun zu einer großen Familie, der des Sportclubs Empor Rostock.
"Es ging morgens los zum Frühstück ins Sportforum, dann erstmal Unterricht. Dann halb zehn, zehn Training bis mittags; Mittagessen, kleine Pause; dann ging es wieder weiter, Training bis 18 Uhr; dann nach Hause – also, ins Internat – Essen, Hausaufgaben machen, ins Bett."
Medizinische Akte Kerstin P., SC Empor Rostock
16.2.1971. Größe 130,5 cm, Gewicht 23 kg, gegenwärtige Trainings-und Wettkampfbelastung: 17-20 Stunden pro Woche.
Sie habe das gern gemacht damals, sagt P.: "Sehr gern. Ich konnte mir gar nichts anderes vorstellen. Die Trainer haben uns ja auch erzogen, nicht nur der Erzieher im Internat. Und es hieß immer: Du vertrittst hier die drei Nordbezirke, die KJS. Und da hat man sich immer irgendwie gefühlt: Ich muss ja Leistung vollbringen, sonst enttäusche ich alle, die an mich glauben. Die hinter mir stehen und immer alles mitmachen."
Medizinische Akte Kerstin P., SC Empor Rostock
22.9. 1971. Seit zwei Jahren Achillesband-Beschwerden. Auf Eis legen.
Für mich war immer das große Vorbild Karin Janz. Wie die geturnt hat, egal welches Gerät, war sagenhaft. So wollte ich unbedingt sein.
Kniebruch im ersten Jahr an der KJS
Karin Janz gehört zu den Goldkindern, auf die viele in der DDR stolz waren. Als Kerstin ein Kind war, flog die elf Jahre ältere Turnerin vom Sportclub Dynamo Berlin von Erfolg zu Erfolg: Zwanzigmal DDR-Meisterin, viermal Europameistern, einmal Weltmeisterin, zweimal Olympiasiegerin. Sie ist die erfolgreichste Turnerin der deutschen Sportgeschichte. Später wurde sie Medizinerin und entwickelte die weltweit erste Bandscheibenprothese. Zum Thema Doping möchte sich die Berliner Professorin auf Anfrage nicht öffentlich äußern.
Medizinische Akte Kerstin P.
31.1.1972. Mit dem rechten Knie umgeknickt, Ausrissfraktur im Bereich der rechten Kniescheibe.
"Als ich im ersten Jahr meinen ersten Kniebruch hatte, saß ich auf der Matte und meine Eltern wurden angerufen zum Abholen. Und die Trainerin sagte: 'Nun gucken Sie sich das Häufchen an! Nun sitzen wir da, vier Wochen Gips, wir können nur Krafttraining machen und keine anderen Geräte.' Und da habe ich mich geschämt. Ich habe gedacht: Du hast versagt. Du hast jetzt alle enttäuscht.
Medizinische Akte Kerstin P.
28.2. 1972. Gips ab, Beweglichkeit schon recht gut.
5.4. 1973. Sturz bei Pferdsprung, falscher Absprung.
3.5. 1973. Beim Bodenturnen auf den Ellenbogen gefallen, Streckhemmung.
24.7. 1973. Oberschenkelmuskulatur gezerrt, Schmerzen beim Spagat und Spreizsprung.
"Da war immer das schlechte Gewissen: Du bist krank und kannst das nicht leisten. Und nicht einmal der Gedanke, du willst nach Hause, du willst aufhören. Das kam all die Jahre nicht vor", schildert P. die Zeit. "Wir sind ja dahin gegangen, weil wir was erreichen wollten Wir wollten ja! Wir waren solche Kinder, nicht erzogen zum Aufgeben. Das gab es nicht. Immer weiter. immer weiter."
Medizinische Akte Kerstin P.
30.1. 1973. Seit gestern wieder erhebliche Beschwerden im rechten Knie, drei Tage nur Armübungen.
10.10. 1973. Aufgescheuerte Blasen an beiden Händen, Schmerzen im rechten Knie, kein Training.
Vor dem Stufenbarren habe sie Respekt gehabt, erinnert sich die 60-Jährige. "Wir hatten Blutblasen, und wenn dann so eine große Blutblase aufgeht und es wird glitschig und sie schmieren ab und schaben sich am Barrenholm die ganzen Schienbeine auf, das war sehr schmerzhaft. Das tut richtig weh. Die Oberschenkel waren bei uns allen immer rau. Sie müssen sich so einen Arbeiter vorstellen mit richtigen Schwielen an den Händen, so sahen wir Mädchen aus."
Schikanöse Trainer und Hungergefühl
Kerstin liebt das Bodenturnen. Das ist ihr Element. Die Musik vom Nussknacker beflügelt sie. Den Ballettunterricht hat sie gern, dort fühlt sie sich sicher, nie wird es dort laut. Wenn sie fröhlich ist, tanzt sie einfach so vor sich hin, allein oder mit den Freundinnen an ihrem einzigen freien Nachmittag, dem Mittwoch.
"Man hat ja auch manchmal Angst, wenn man ein neues Element übt. Passiert dir was, schaffst du das, kriegst du das hin? Wenn man auch schon etliche Verletzungen davongetragen hat", erinnert sich P. "Und da wurde man dann natürlich auch angebrüllt. Und es flogen auch Schlüsselbunde. Und dann hat man schon eine Verletzung mehr, wenn man es abbekommen hat. Es waren nicht alle Trainer so, aber ich habe zwei davon nur so erlebt."
Die junge Turnerin steckt alles weg. Den Eltern erzählt sie nichts. Sie möchte ja besser werden, sie möchte ja nicht enttäuschen. Im Internat ist es die Erzieherin, die sie auffängt. Sie sagt "Muttern" zu ihr. Bis heute besucht die mittlerweile 85-jährige Erzieherin ihren Schützling von einst, wenn Kerstin P. wieder wegen einer Gelenkoperation im Krankenhaus liegt.
Medizinische Akte Kerstin P.
23.9. 1975. Hungergefühl.
"Gedünstete Kartoffeln, gedünstetes Gemüse, das war unser Mittag. Ohne Soße, ohne alles. Dann gab es morgens Filinchen und Knäckebrot mit Magerkäse. Und wenn dann die Schwimmer oder Handballer und die Fußballer Bananen gekriegt haben – so was durften ja die Turner nicht essen, das war für das Gewicht überhaupt nicht gut – dann standen wir im Essenraum und uns leckte der Zahn. Und dann haben wir uns schon manchmal was erbettelt von anderen Sportlern, die uns mal was zugesteckt haben."
Oft, so erinnert sich Kerstin, schauten die Frauen an der Essenausgabe der Sportschule die Turnermädchen mitleidig an. Doch sie durften ihnen nichts Zusätzliches geben und hielten sich auch daran.
"Es war schon manchmal ganz schön bitter, immer mit diesem Hungergefühl umzugehen. Wir wurden am Tage manchmal zweimal gewogen, morgens und nachmittags. Wenn wir zum Beispiel Ausdauertraining hatten im Barnstorfer Wald – dorthin sind wir alleine gegangen zum Ausdauerlaufen –, dann haben wir uns Geld mitgenommen, da gab es einen Eisstand. Und dann haben wir uns Eis gekauft und hatten nach dem Training zugenommen statt abgenommen! Und dann hatten wir schon so eine Angst vorm nächsten Tag, haben wir uns abends drei Trainingsanzüge angezogen und sind die ganzen Etagen im Sportforum hoch und runter gelaufen. Oder wir hatten Scheuerlappen unterm Hintern und sind damit die Flure lang gerutscht, damit der Po auch schön flach ist. Immer diese Angst: Hab ich zugenommen? Das Wiegen war immer präsent."
Begegnung mit einer Ex-Trainerin
30 Jahre später trifft Kerstin P. eine ihrer Trainerinnen wieder. Beide sind Zuschauerinnen bei einer Turn-Meisterschaft. "Da war ich schon Mitte 40 ungefähr, meine beiden Jungs waren schon groß. Und ich bin zu einem Wettkampf gefahren, wir haben uns dort zufällig getroffen", erinnert sich P. an die Begegnung weit nach Wende und Wiedervereinigung. "Die Trainerin ließ mich anstellen: Stell dich mal hin, dreh dich mal! Oh, an deiner Figur musst du aber arbeiten!"
Kerstin P. wiegt damals 48 Kilogramm.
Eine Freundin habe sie damals gerettet, indem sie hat ganz laut gerufen habe: "Komm, Kaffee und Kuchen stehen schon bereit!", erinnert sich Kerstin P. "Da ist mir aufgefallen, dass ich mich wirklich gerade hinstelle, Haltung annehme, mich drehe, so, wie sie es früher verlangt hat. Das passiert mir mit über 40 noch mal! Dass sie auch noch so viel Macht immer noch haben. Wenn man sie sieht, dass man das macht, was sie wollen.
Trainieren. Wiegen. Messen. Essen. Hungern. Untersucht werden. Täglich Tabletten, täglich Spritzen ins Knie. Härter Trainieren. Das ist der Alltag an der Sportschule, das, woran sich Kerstin P. erinnert.
Geheimer Staatsplan 14.25
Im Verborgenen laufen noch andere Dinge ab. Dinge, von denen sie nichts ahnt. Wie Dokumente der Staatssicherheit belegen, beschloss die DDR-Regierung 1974 im geheimen Staatsplan 14.25 die "planmäßige Anwendung und Untersuchung unterstützender Mittel im Leistungssport".
Ministerium für Staatssicherheit, Treffbericht IM "Technik", 6.11. 1975
"In diesem Zusammenhang informierte der IM, dass man in der sportmedizinischen Unterstützung offensichtlich gegenwärtig noch die einzige Möglichkeit für weitere Leistungssteigerungen seht. Augenfällig war dies selbst bei der Spartakiade, wo ein großer Teil, selbst Sportler noch im Kindesalter, bereits 'angefüttert' worden sind. Der IM hob in diesem Zusammenhang besonders de Aktivitäten der Trainer hervor, die von den Ärzten verlangen und zum großen Teil auch durchsetzen, alle erlaubten und unerlaubten Mittel einzusetzen. Letztlich hängt davon ihr Prämienanteil ab, der deutlich höher ist als der der Ärzte."
Bereits ein Jahr früher, im Mai 1973, tauchen in der medizinischen Akte der damals zwölfjährigen Rostocker Turnerin, die zu dieser Zeit so viel wiegt wie eine Neunjährige, Hinweise auf die Vergabe von Oral-Turinabol auf. Ein Hormonpräparat, das ursprünglich entwickelt wurde, um die Heilung nach schweren Verletzungen und Operationen zu beschleunigen. Es sollte die Sportler belastbarer machen.
Oral-Turinabol war das am häufigsten verwendete Anabolikum im DDR-Leistungssport. © imago / Sepp Spiegl
So konnten sie länger und härter trainieren, über ihre Schmerzgrenze hinaus. Das führte zu frühem körperlichen Verschleiß. Bei der Vergabe von Oral-Turinabol an Kinder kann es außerdem zu Wachstumsverzögerungen kommen - ein erwünschter Nebeneffekt bei Turnerinnen.
Medizinische Akte Kerstin P.
17.5. 1973. Größe 1,38 m, Gewicht: 28,2 kg. Gegenwärtige Trainings-und Wettkampfbelastung: 22 Stunden pro Woche. Einleitung des Kaiser-Schemas, Oral-Turinabol.
"Und dann überlegt man: Mensch, du hast immer zweimal am Tag Tabletten bekommen. Das waren immer gefärbte Gläser, braune. Das stand nie drauf, was das ist. Gesagt worden ist: 'Das ist Vitamin C, ihr seid den ganzen Tag in der Turnhalle und nicht draußen an der frischen Luft und in der Sonne. Das ist wichtig, dass ihr das nehmt.' Und als Kind macht man es und hinterfragt nicht irgend welche Sachen."
Doping im Osten gegenüber Doping im Westen
Weder die minderjährigen Sportler noch deren Eltern wurden über die Behandlung informiert, geschweige denn, ihr Einverständnis eingeholt. Diese Praxis ist der wesentliche Unterschied zum ebenfalls illegalen Doping in westlichen Ländern. Und der Unterschied zur Vergabe der Mittel an volljährige Sportler – mit deren Wissen und Einverständnis.
Laut DDR-Staatsplan musste alles streng geheim bleiben.
Treffbericht IM "Technik", 28.12.1983
Die Vergabe der Präparate an die Athleten hat entweder in Fremdpackungen bzw. ohne Packung zu erfolgen, keinesfalls dürfen die Athleten in den Besitz der Originalpackung gelangen.
"Wir waren ja Kinder. Und solche Begriffe wie Drogen oder Doping, sowas gab es ja gar nicht in der DDR. Wir haben doch nie und nimmer an so etwas gedacht und dass das so etwas hervorruft. Auch nicht in den 80er-Jahren", erinnert sich Kerstin P. "Das kam wirklich erst in den 90er-Jahren, als vieles aufgearbeitet worden ist, vieles laut geworden ist und durch die Presse ging. Da fing es erst an: Oh Gott, hat man das mit dir auch gemacht? Und so bin ich ja erst darauf gekommen, meine Akte zu besorgen."
Archive und Aufarbeitung
Ihre Medizinakte aus DDR-Zeiten zu bekommen, gelingt nicht vielen Sportlern. Viele Unterlagen wurden vernichtet, lagern in unterschiedlichen Archiven oder sind nicht vollständig. Kerstin P. wurde von den Mitarbeitern der Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur bei der Recherche unterstützt. Und auch dabei, den Gerichtsprozess zu führen und für die Anerkennung ihrer Leiden als Folge des frühen Zwangsdopings zu klagen.
Im Urteil des Greifswalder Verwaltungsgerichts ist die Rede von von "rechtsstaatswidrigem Handeln" und "eigenmächtiger Körperverletzung" durch den Staat. Die Richter widersprechen damit der Auffassung ehemaliger DDR-Trainer, Sportärzte und Spitzenathleten, die sagen: Die Vergabe des Steroids Oral-Turinabol, die mit anderen Medikamenten nach dem sogenannten Kaiser-Schema kombiniert und bei Minderjährigen angewandt wurde, sei eine "medizinische Behandlung" bei bestimmten Erkrankungen von Knochen und Knorpeln.
Der Sportwissenschaftler und Historiker Giselher Spitzer wertete hunderte Stasi-Unterlagen zum Thema Leistungssport aus und konnte die Befehlskette von Partei- und Staatsführung bis hinunter zu Trainern und Sportärzten rekonstruieren. Er stellt in seiner Publikation "Sicherungsvorgang Sport" zum Thema Kaiser-Schema fest: "Das ursprünglich als eine ärztliche Therapie für Kinder angelegte Kaiser-Schema wurde zur Dauervergabe von Anabolika missbraucht, wenn es nicht sogar zu diesem Zweck erdacht wurde."
Fragen an die Verantwortlichen
"Da geht einem so viel durch den Kopf, man weiß gar nicht, wo man anfangen soll zu fragen. Oder auch: Warum? Weshalb? Wer hat euch das aufoktroyiert und warum habt ihr das an uns Kindern ausprobiert? Und jetzt, wo man Fragen hat: Keiner will antworten."
Wie viele andere hat auch die ehemalige Rostocker Turnerin versucht, die Trainer von einst anzusprechen.
"Bei einem bin ich verleugnet worden. Der hat so getan, als ob er meinen Namen überhaupt nicht kennt", berichtet Kerstin P.. "Und der andere Trainer, mit dem ich mich getroffen habe, der hat immer gesagt: 'Nun erzähl was anderes, erzähl von Zuhause, was gibt's da Neues?' Ich hatte dann noch eine Begegnung, als ich mein erstes Hüftgelenk bekam, da kam mir ein älteres Ehepaar frontal entgegen. Das waren ehemalige Trainer. Da habe ich zum ersten Mal richtige Wut gehabt, wirklich da das erste Mal. Die beiden sind gegangen, ohne Brille, ohne Stock. Und ich habe gedacht: In ein paar Tagen gehst du hier auf Krücken mit der neuen Hüfte, und die machen sich ein schönes Leben. Immer noch. Und sind nicht zur Verantwortung gezogen worden."
Seit dem 3. Oktober 2000 gelten alle Fälle von Straftaten im DDR-Leistungssportsystem als verjährt. Kein Trainer oder Sportmediziner der drei DDR-Nordbezirke musste sich vor Gericht verantworten.
"Ich weiß nicht, ob ich so was könnte, bei kleinen Kindern, oder Kindern, die mir anvertraut sind, sowas zu machen. Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass dazu einige in der Lage waren. Und das ist das Traurige, diese Schattenseite. Man sieht jetzt diese Menschen anders, diese Trainer."
Aussortiert nach der OP
Was ihre Trainer sagten, war für das Turnermädchen Gesetz. Sie waren die Autoritäten, nicht die Eltern.
"Wir haben alles geglaubt, was die uns erzählt haben. Und alles, was wir laut Trainingsplan erreichen mussten: Du musst das schaffen! Du willst das doch! Du willst doch da und da nachher stehen! Als Kind sagt man natürlich ja. Noch mehr trainieren. Noch mehr anhängen. Noch mehr Kraft. Bis man dann eben nicht mehr kann."
Medizinische Akte Kerstin P.
5.5. 1976. Operation linker Ellenbogen, Anruf beim Chefarzt Orthopädie Universitätsklinik. Ergebnis: Leistungssport nein, allgemeiner Sport ja.
Größe 156,5 cm, Gewicht 44,25 kg, gegenwärtige Trainings-und Wettkampfbelastung: Hat abtrainiert, 3 Stunden pro Woche.
"Es hieß immer früher: Leistung vollbringen. Konntest du das, dann warst du gut angesehen. Und, leider, wenn du das nicht mehr konntest aufgrund von Krankheiten, Verletzungen, Operationen, dann warst du eben niemand mehr. Das hat mich mächtig geprägt, dass ich dann praktisch nicht mehr derjenige war. Man hängt den Trainingsanzug, den Gymnastikanzug an den Nagel, und das war’s dann."
Mut zur Aufarbeitung
Die Nussknackersuite ist der Sound ihrer Kindheit. Kerstin P. mag diese Musik noch immer. Sie sieht darin die Schönheit, die Leichtigkeit und die Eleganz des Turnens. Jener Sportart, die sie so liebte. In der sie alles geben wollte. Bei der sie aber auch Schaden nahm, am Körper und an der Seele.
Zum ersten Mal hat sie hier ihre Geschichte öffentlich erzählt. Sie tut das für sich und für viele andere Sportlerinnen und Sportler, aus denen keine Goldkinder wurden. "Habt den Mut, euch zu stellen. Habt den Mut, eure Geschichte aufzuarbeiten. Versteckt euch nicht. Wenn Unrecht da war, dann soll man für das Recht kämpfen. Und das habe ich versucht zu machen."
Eine Wiederholung vom 20. Juni 2021.