Viele Opfer leiden noch heute
In der DDR war Doping im Spitzensport an der Tagesordnung, oft ohne Wissen der Betroffenen. Viele Sportler leiden bis heute an gesundheitlichen Folgen. Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat nun Forschungsstipendien bereitgestellt, um das Zwangs-Dopingsystem aufzuarbeiten.
Schwerin, Leistungssportkomplex in der Friedrich-von-Flotow-Straße. An diesem Septembermorgen trainieren die zwölf- und 13-jährigen Volleyballer des Schweriner Sportclubs: Immer wieder Bälle aufschlagen, zuspielen, annehmen. Die Jungs zählen zu den rund 650 Schülern des Sportgymnasiums. Zu DDR-Zeiten war dies die Schweriner Kinder- und Jugendsportschule (KJS). Heute trägt sie den Titel "Eliteschule des Sports".
Nebenan im Sportinternat. Die Mensa füllt sich mit jenen 66 Mädchen und Jungen, die in ihren Disziplinen Meister von Mecklenburg-Vorpommern geworden sind und deshalb zum Bundeswettbewerb "Jugend trainiert für Olympia" nach Berlin fahren dürfen. Schuldirektor Torsten Westphal – graugepunktetes Hemd, braune Fliege – lässt es sich nicht nehmen, die Delegation offiziell zu verabschieden.
"Du hattest zu bringen: zack, zack, zack"
"Ihr seid als die Repräsentanten unserer Schule beim höchsten Schulwettkampf Deutschlands. Das ist schon mal eine echte Hausnummer. Also: Wir haben die Beachvolleyball-Mannschaft unter der Leitung von Herrn Schulmeister. Wir haben ein Ruderteam unter der Leitung von Herrn Dreifke. Wir haben ein Leichtathletik-Team, geleitet von Herrn Bernhard."
Dann heißt es: Ran an die belegten Brötchen, später Aufstellung nehmen zum Gruppenfoto. Mit dabei: Nils-Uwe Bernhardt, der einst selbst durch diese Schule gegangen war.
"Aufgewachsen hier in Mecklenburg. Auch selber hier an der Sportschule gewesen in den 80er-Jahren, also mit den Größen Torsten Voss, Gerd Wessig und Konsorten zusammen trainiert."
Tosten Voss wurde 1987 Zehnkampf-Weltmeister und 1988 in Seoul Vize-Olympiasieger. Gerd Wessig ersprang 1980 in Moskau Olympiagold mit der Weltrekordhöhe von 2,36 Metern und beherrschte im folgenden Jahrzehnt die DDR-Hochsprungszene. Nils-Uwe Bernhardt schaffte es immerhin zuletzt als Dreispringer auf den sechsten Platz bei einer DDR-Meisterschaft. - Der größte Unterschied zwischen den Leistungssportsystemen damals und heute aus seiner Sicht?
"Ganz ehrlich: Die Jugend von heute ist anders, und sie muss auch anders gehandhabt werden. Also aus meiner eigenen Erfahrung - ich mache den Trainerjob ja nun auch schon seit fast 30 Jahren – es ist immer wieder festzustellen, so lange dieser Leistungsdruck mit Spaß verbunden ist, kann ich sie motivieren. Da kommen sie auch von ganz alleine. Aber sobald dieser Spaßfaktor rausfällt…"
"Hat früher auch jemand auf Spaß oder Freude am Sport geachtet?"
"Wenig. Wenig, weil du als Trainer auch ganz anders in der Bredouille standest. Also, du hattest da zu bringen: Leistung, zack, zack, zack. Wenn man sagt, hier habe ich fünf, sechs Athletinnen. Früher war es, von den sechs müssen fünf ganz nach oben wandern. Das ist heutzutage nicht mehr. Heute bist du wirklich froh, wenn du von den fünf oder sechs alle bis zum Ende am Sportgymnasium halten kannst."
"Ich dachte, das wäre was, was dem Muskelaufbau beschleunigt"
Doch ganz ohne Erfolgsdruck geht es auch heute nicht. Zehn Mädchen zu "Jugend trainiert für Olympia" zu bringen – gut und schön, aber:
"2024 möchte ich mindestens eine hier aus dem Sportgymnasium bei Olympia sehen. Ansonsten brauche ich nicht Trainer zu machen."
Doping sei natürlich der andere große Unterschied, sagt Nils-Uwe Bernhardt. Gut, zu DDR-Zeiten kein Thema, jetzt auch nicht – aber doch aus sehr unterschiedlichen Gründen.
"Bei uns in der Leichtathletik können uns aus deutscher Sicht jedenfalls hinstellen und sagen: Bei uns nicht! Wir sind so was von kontrolliert. Natürlich kommen dann irgendwann die Fragen von den Kindern, wenn sie dann europäisch in der Nationalmannschaft sind und dann vielleicht Athleten sehen, die einen Meter weiter springen im Weitsprung oder fast eine Sekunde schneller rennen, über 100 Meter. Jeder weiß, es gibt Mittelchen. Aber das Doping alleine macht mich nicht schneller. Ich muss schon trainieren dafür. Sonst funktioniert es auch nicht. Und das, was die Kinder eigentlich wissen wollen, ist, wie kann ich mich ernährungstechnisch verbessern."
Schwerin am Ziegelinnensee. Hier wohnt die ehemalige Spitzenleichtathletin Silvia S. und hat ganz andere Sorgen. 1973 holte der Sportclub Traktor Schwerin das damals 17-jährige Talent von einer Betriebssportgemeinschaft zu sich in die Sprint-Gruppe. Noch im selben Jahr gewann Silvia, die nicht mit vollem Namen genannt sein möchte, die "Jugendwettkämpfe der Freundschaft" in Odessa. Ein Schwarz-Weiß-Foto an der Wand eines kleinen Arbeitszimmers zeugt davon, dass sie damals sogar die spätere Sprint-Weltmeisterin und Olympiasiegerin Marlies Oelsner-Göhr hinter sich gelassen hat.
"Ich sollte daraufhin in den nächsten drei Jahren auf die Olympischen Spiele in Montreal vorbereitet werden. Und dann hat man eben sofort angefangen mit dem Doping bei mir. Ich wusste nicht, dass das verbotenes Doping ist, sondern ich dachte, das wäre was, was den Muskelaufbau beschleunigen würde. So hat man mir das gesagt. Es wurde von Sportärzten erklärt, und der Trainer hat mir das verabreicht."
Oral-Turinabol an Hochleistungssportler verteilt
Da sind unter anderem die kleinen blauen Pillen - Oral-Turinabol aus dem Hause Jenapharm. Ursprünglich für die schnellere Heilung von Knochenschwund entwickelt, wurde das künstliche männliche Sexualhormon in absurden Größenordnungen an Hochleistungssportler verteilt. Und zwar auch dann noch, als die ersten Anzeichen von Vermännlichung, extremer Akne, Leberschäden, Unfruchtbarkeit und so weiter auftauchten.
Drei Jahre lang wird Silvia S. gedopt. Trotzdem – oder vielleicht auch deshalb - schafft sie es nicht in den Nationalkader für die Olympischen Sommerspiele in Montreal, denn:
"Bis 1976 ging meine leistungssportliche Karriere, aber sehr viel unterbrochen durch Krankheiten, weil immer auch wieder nach Krankheiten sehr früh angefangen wurde zu trainieren."
Einmal wird die Sprinterin sogar trotz einer fiebrigen Grippe für einen Wettkampf fit gespritzt. Seitdem: Immer wieder gesundheitliche Probleme. 2012 ist Schluss. Sie bricht zusammen, wird relativ rasch vorzeitig berentet, was selten vorkommt. Warum ausgerechnet ihr leistungssportgestählter Organismus nur noch mit höchstens 30 Prozent der nötigen Energie läuft, warum sie extrem schnell erschöpft und kaum belastbar ist? Irgendwann tippen die Ärzte auf eine Stoffwechselkrankheit und können sich die Ursache nicht erklären.
Heute weiß die 60-Jährige von dem geheimen "Staatsplan 14.25", mit dem die DDR-Partei- und Staatsführung ab 1974 für ein staatlich gesteuertes und kontrolliertes Zwangs-Dopingsystem sorgte. Es umfasste bis zum DDR-Ende sämtliche Kader, denen WM- und Olympiamedaillen zugetraut wurden. Für circa 12.000 Sportler hatte der Sportmedizinische Dienst der DDR "Zentrale Vergabekonzeptionen" für sogenannte "unterstützende Mittel" entwickelt. Auch die schon erwähnten Schweriner Spitzenleute Voss und Wessig wurden jahrelang vollgepumpt. Öffentlich darüber reden mögen sie nicht.
Die ehemalige Sprinterin möchte kein "Nestzbeschmutzer" sein
Auch Silvia S. will kein "Nestbeschmutzer" sein und mag lange Zeit nicht einmal darüber nachdenken, ob ihre Krankheit eine Folge des Dopings sein könnte. Doch 2014 sieht sie einen aufrüttelnden NDR-Dokumentarfilm über "Doping - das Trauma des DDR-Sports". Im Jahr darauf verfolgt sie die Debatten im Schweriner Landtag über eine historische Aufarbeitung der Doping-Strukturen in den drei ehemaligen DDR-Nordbezirken Schwerin, Rostock und Neubrandenburg. Als das Kultus- und Bildungsministerium schließlich 2016 auf Initiative der Bündnisgrünen die Mittel für drei dopingbezogene Promotionsstipendien bereitstellt, fasst Silvia S. einen Entschluss. Mit ihren Erinnerungen und Aufzeichnungen will sie den Forschern helfen. Und letztlich auch sich.
"Es gibt eigentlich nichts, was ich tun könnte, damit es mir besser geht. Deswegen unterstütze ich auch die Arbeit, weil ich denke, man muss auch in der Forschung ein bisschen näher gucken: Was passiert mit den ehemaligen Leistungssportlern? Was haben sie für Erkrankungen? Und sicherlich auch bei den Erkrankungsformen mal genauer gucken, was ist es denn eigentlich, was da passiert."
Nächstes Ziel: die Universität Rostock. Die soll die Forschungsthemen bestimmen, die Stipendien ausschreiben und die insgesamt 150.000 Euro vom Land verteilen. Verantwortlich dafür: Prof. Dr. Andreas Büttner.
"Zum einen geht es um den DDR-Doping-Staatsplan, wie der in den drei Nordbezirken umgesetzt wurde. Dann werden sportmedizinische und pharmakologische Aspekte der eingesetzten Substanzen untersucht. Und als Drittes sollen eben Folgeschäden aufgrund der Substanzen sowohl körperlicher als auch psychischer Art untersucht werden."
Bildungsministerium fördert Forschung über Doping-Folgen
Nächste Woche berät der Rostocker Promotionsausschuss. Schon bald danach werden die Doktorarbeiten ausgeschrieben. Auf den ersten Blick überraschend, dass mit Andreas Büttner ausgerechnet der Direktor des Rostocker Instituts für Rechtsmedizin den Projekt-Hut aufhat. Doch nachdem der Universitätsrektor bei den Historikern und den Sportmedizinern auf wenig Interesse gestoßen war, wandte der sich an Büttner. Der Forensiker sagte zu, weiß er doch aus nächster Anschauung einiges über die Wirkung anaboler Steroide.
"Ich komme ja primär aus München, und dort hatten wir über einen Zeitraum von zehn Jahren alle verstorbenen Doping-Opfer untersucht, die im Freizeitsport entsprechende Substanzen konsumiert hatten. Wenn man sich damit beschäftigt, muss man natürlich tiefer einsteigen in die Pharmakologie. Damit hatte und habe ich immer noch sehr enge Verbindungen nach Kreischa, wo ja die Expertise für Dopingsubstanzen liegt. Und mit dem dortigen Leiter, Herrn Thieme, mit dem war ich gemeinsam in München und der wird mich auch jetzt unterstützen. Und ich habe mich gern bereit erklärt, diese Studie in Zusammenarbeit mit anderen wie den Historikern und Sportmedizinern zu übernehmen."
Die Stasi-Unterlagenbehörde von Mecklenburg-Vorpommern sichert den Forschern eine enge Zusammenarbeit zu. In der Landesbibliothek, in den Archiven der Kliniken, Sportclubs und ehemaligen Kinder- und Jugendsportschulen lagern zudem vielfach noch ungehobene Wissensschätze. Darunter die Ermittlungs- und Prozessakten der einst in Schwerin angesiedelten Schwerpunktstaatsanwalt DDR-Doping.
Zudem sei jeder Zeitzeuge sehr willkommen, sagt Prof. Andreas Büttner. Und nein, niemand müsse befürchten, seinen Namen in der Presse zu lesen, gar vor Gericht gezerrt zu werden. Zum einen seien mit DDR-Doping in Zusammenhang stehenden Straftaten wie Körperverletzung seit dem zehnten Jahrestag der Vereinigung am 3. Oktober 2000 verjährt. Zum anderen:
"Als Arzt habe ich ganz genauso die Schweigepflicht zu beachten. Und wenn sich jemand mit der Bitte um Anonymisierung an mich wendet oder an einen meiner Promovenden, wird das selbstverständlich unter anonymisierter Form verarbeitet. Also, Doping-Opfer auf der einen Seite, aber natürlich auch Ärzte oder eventuell Trainer und Sportler, die in diese Verabreichung oder Gabe dieser Substanzen involviert waren."
"Wir waren Menschenmaterial"
Mecklenburg-Vorpommern als Vorreiter in der DDR-Dopingforschung - davon müssen möglichst viele Betroffene erfahren, denkt sich der in Berlin ansässige Dopingopfer-Hilfeverein und lädt im Sommer zu einer Informationsveranstaltung nach Schwerin. Von den etwa 40 ehemaligen Spitzensportlern, die gekommen sind, wagen sich die meisten zum ersten Mal aus der Deckung. Darunter Katy Pohl, ehedem Volleyballerin beim SC Traktor Schwerin.
"Ich bin gebürtige Schwerinerin.'79 kam ich an den Sportclub, absolvierte dort an der Kinder- und Jugendsportschule drei Jahre bis zur zehnten Klasse und wurde dann in den Sportclub übergeleitet, wo ich noch ein Lehrjahr präsent war. Trainierte fleißig bis ungefähr zum 17. Lebensjahr."
Schon zu diesem Zeitpunkt leidet sie unter Schmerzen und Knie-Problemen. Später sollte es noch schlimmer kommen, obwohl sie weder familiär vorbelastet sei noch ungesund gelebt habe, sagt Katy Pohl: Zysten an allen Organen, mehrere Fehlgeburten, Knie-Tumor, eine sehr seltene Stoffwechselkrankheit, schlechte Knochenheilung, Arthrose. Doping als Ursache sei ihr lange Zeit nie in den Sinn gekommen, hatte sie während ihrer aktiven Zeit doch nie Pillen vom Trainer erhalten. Doch als sie 2012 die Erwerbsunfähigkeitsrente beantragte, habe ihr der medizinische Gutachter die Augen geöffnet.
"Weil er nach den orthopädischen Befunden den Kopf schüttelte und sagte: Wo waren Sie sportlich aktiv? Und da sagt ich: Ich war beim Volleyball, beim Sportclub Traktor Schwerin. Und da sagt der Gutachter zu mir: Sie haben gedopt. - Ich war platt, erschüttert. Ich sagte: Bei meiner Ehre - ich habe nie gedopt. Und er sagte: Sie können sicher sein: Ich war an der Universitätsklinik Rostock beschäftigt. Wir waren für diesen Sportclub verantwortlich. Sie wurden dann gedopt. Und er berentete mich unbegrenzt."
Die heute 50-Jährige verdächtigt die angeblichen "Vitamin-Drinks", die sie und ihre damaligen Mannschaftskameradinnen täglich zum Training trinken mussten. Katy Pohl ist zu 80 Prozent behindert und möchte endlich wissen, was genau sie als Minderjährige in welchen Dosen bekommen hatte.
"Wir waren Probanden. Wir waren Menschenmaterial. Wir waren Anonyme. Die, die hochkamen - gut und schön. Die anderen wurden nach hinten fallengelassen. Dieses Gefühl habe ich. Nach Gesundheitsakten habe ich noch nicht recherchiert, denn ich habe ja nicht immer die Berechtigung Einsicht zu nehmen. Das haben sicherlich nur offizielle Stellen."
Jeden Morgen eine Pille schlucken
Doch da klärt die Dopingopferhilfe auf: Jeder Betroffene hat ein Recht auf seine Patientenakte vom Sportmedizinischen Dienst der DDR, der jeden betreute und regelmäßig untersuchte, so lange er oder sie aktive Hochleistungssportler waren. Zwar enthalten diese Akten keine Doping-Vergabepläne. Doch die über die Jahre gesammelten Blutbilder, EKGs, Leberwerte, Röntgenaufnahmen und die Notizen über medizinischen Behandlungen lassen womöglich Rückschlüsse zu.
Diese Patientenakten müssen mindestens 30 Jahre ab dem Ende der Sportkarriere aufbewahrt werden. Sie lagern zumeist in den Archiven der Gesundheitsämter all jener Städte, wo es Kinder- und Jugendsportschulen beziehungsweise Sportclubs gab.
Karin Franke sitzt im Publikum und notiert: Nachfragen im Gesundheitsamt der Stadt Jena. Sie hat Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre beim dortigen Sportclub geturnt. Auch die Wahl-Schwerinerin hat viel durchgemacht: Fehlgeburten, untypische chronische Krankheiten, die unerklärliche Kraftlosigkeit. Ursachen? Kennt niemand. Karin Franke ist sich sicher, gedopt worden zu sein. Sie musste jedenfalls im Alter von zehn bis zwölf Jahren jeden Morgen eine blaue Pille schlucken, vermutlich Oral-Turinabol.
"Ich habe mich heute das erste Mal damit intensiv beschäftigt. Ich habe es schon immer vermutet, dass viele Krankheiten damit zusammenhängen. Aber irgendwie hat man keine Zeit gehabt, oder hat sie sich nicht genommen. Für mich ist das heute echt eine Wunde, die aufbricht. Muss ich sagen."
Als das Podium über gelegentliche Doping-Folgeschäden in der zweiten Generation diskutiert, muss Karin Franke den Saal kurz verlassen. Nach der Veranstaltung erklärt die Mutter von drei Kindern, dass auch ihr mittlerer Sohn schwer krank sei.
"Das ist jetzt so ein Selbstvorwurf dabei, so nach dem Motto: Hätteste vielleicht gar keine Kinder kriegen dürfen oder so. Also das hat mich am allermeisten getroffen heute. Das muss ich sagen. Aber wenn dann mal dieses Thema Doping, was ich auch schon mal beim Arzt angebracht habe, also: Ich bin früher gedopt worden. - Das interessiert die alle gar nicht. Da hören die weg! Und deswegen steht man alleine damit."
10,5 Millionen Euro für DDR-Dopingopfer
Sieben Ex-Athleten nutzen das Angebot der Dopingopferhilfe, einen Beratungstermin in Schwerin zu machen. Der Verein kann zum Beispiel darüber aufklären, wie man eine Zuwendung aus dem zweiten Entschädigungsfonds für DDR-Dopingopfer beantragt. Diesen Fonds hat der Bundestag im April aufgelegt und mit 10,5 Millionen Euro gefüllt – gedacht für eintausend Anspruchsberechtigte. Ein guter erster Schritt, meinen sie bei der Dopingopferhilfe, schätzen aber die Gesamtzahl der Geschädigten mittlerweile auf rund fünftausend.
An diesem Tag sucht auch Karin Franke die Schweriner Stasi-Unterlagenbehörde auf, die dem Hilfeverein Räume für die Beratungsgespräche zur Verfügung stellt. Die Vereinsvorsitzende Ines Geipel hört aufmerksam zu.
"Wir haben eben diese blauen Pillen gekriegt, diese kleinen. Die hatten da so einen Schalter, wo wir immer unser Frühstück abgeholt haben, und da stand der Trainer, und da wurde uns diese blaue Pille überreicht und die mussten wir auch schlucken. Also mit Mundkontrolle, ob die auch weg ist."
Ines Geipel: "Haben Sie noch irgendwelche Unterlagen aus dieser Zeit?"
Karin Franke: "Das müsste ich jetzt nochmal neu zu Hause gucken. Aber ich glaube das bald gar nicht."
Geipel: "Na gut, wenn Sie auf einer KJS waren, gibt es ja dann ein Schularchiv. Da sollen die Ihnen das rausziehen, einfach sagen von dann bis dann."
Ines Geipel zieht einen mehrseitigen Antrag für jene Behörde hervor, die den Entschädigungsfonds verwaltet.
Geipel: "Das ist das Bundesverwaltungsamt, und so, wie Sie das schildern, haben Sie auf alle Fälle einen Anspruch darauf."
Karin Franke steckt die Formulare ein. Sie will nun Unterlagen suchen und alles aufschreiben, woran sie sich erinnern kann. Dazu gehört, dass sie mit zwölf Jahren aus der Kinder- und Jugendsportschule weggelaufen war und sich von den Eltern nie wieder dorthin zurückschicken ließ. Das Turnen habe ihr immer Spaß gemacht, sagt sie. Aber das KJS-Training sei übermäßig hart gewesen, die Trainer waren nicht selten physisch und psychisch brutal. Mädchen mit blutenden Händen an den Stufenbarren zu schicken, nur weil sie ein paar Gramm zu schwer waren - keine Seltenheit. Und noch nicht das Schlimmste, sagt Karin Franke.
Diese Tür in eine Zeit zu öffnen, in der sie durchaus skrupellosen Trainern und Ärzten als Schutzbefohlene anvertraut worden war, fällt ihr besonders schwer. Doch hinter dieser Tür könnten Ursachen für einige ihrer bislang unerklärlichen Leiden zu finden sein. Karin Franke erhält den Tipp, sich an den Chef der Schweriner Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie zu wenden.
"In Schwerin…" - "Ja." - "Da melden Sie sich im Sekretariat und sagen, dass Sie sich als Betroffene melden…"
"Man hat sich ihrer Seelen und ihres Körpers bedient"
Dr. Jochen-Friedrich Buhrmann behandelt schon seit längerem gezielt Patienten, die sich als Opfer von Stalinismus und DDR-Diktatur mit den Folgen traumatisierender Erlebnisse herumplagen. Seit zwei Jahren arbeitet er auch mit dem Dopingopfer-Hilfeverein zusammen. Mehr als 30 Ex-Leistungssportler haben sich mittlerweile bei dem Mann vorgestellt, der sich als Internist und als Psychotherapeut sehr aufmerksam Körper und Geist anschaut.
"Also wir beschäftigen uns idealerweise mit all den Informationen, die uns die Patienten geben, so dass wir uns im ärztlichen Sinne ein vollständiges Bild von der Anamnese ihre biographischen Hintergrundes, ihres Werdeganges, ihrer Krankheitsgeschichte und so weiter verschaffen und dann auf sehr komplexe Weise auswerten können. Davon ist ein Teil die pharmakologische Dopinggeschichte. Der Teil, der sich vielleicht am besten ansprechen lässt, der der rationalste ist. Aber das ist ja auch tatsächlich nur ein Teil."
Körperliche Schmerzen, psychische Leiden – das können auch späte Reaktionen auf ein Trauma sein, sagt Jochen-Friedrich Buhrmann. Es lohne sich danach zu gucken, unter welchen Rahmenbedingungen die Sportler damals gelebt haben.
"Ich bin auch selbst erschrocken über Details, die Betroffene mir berichtet haben. Wie sie misshandelt worden sind, wir sadistisch die Trainer waren, welche Leistungen ihnen unter welchen Bedingungen abverlangt worden sind. Man hat sich ihrer Seelen und ihres Körpers bedient und hat auf die Menschen, auf die Betroffenen in der Situation keine Rücksicht genommen."
Unterdessen hat sich Karin Franke entschieden. Sie möchte sich bei Dr. Buhrmann in der Schweriner Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie vorstellen.
"Erhoffen tue ich mir davon eigentlich , dass ich Wege finden kann, besser mit meinen ganzen Erkrankungen umzugehen. Dass ich mit meinen gesundheitlichen Zustand besser annehmen kann oder Stellen finde, die dafür Verständnis haben. Also Ärzte oder spezielle Ärzte, die mit dem Thema umgehen können, denn das habe ich bisher immer noch nicht."
Studie über Folgeschäden des DDR-Dopings
Außerdem möchte sie an der bundesweit größten Studie über die Folgeschäden des DDR-Dopings teilnehmen, die der Greifswalder Universitätsprofessor Harald Freyberger im Juli gemeinsam mit dem Schweriner Jochen-Friedrich Buhrmann begonnen hat. Der erklärt:
"Der Forschungsgegenstand sind alle Betroffenen, die sich in der Zwischenzeit bei der Dopingopferhilfe gemeldet haben. Das sind jetzt mittlerweile über tausend. Die haben einen Fragenbogen in der Regel beantwortet und zurückgeschickt, den die Dopingopferhilfe so für ihren Bedarf konzipiert hat. Und wir werden in einem ersten Schritt diese Fragebögen auswerten. Da werden wir schon vieles erfahren über die Folgeschäden, die angegeben werden von den Betroffenen. Man wird Zuordnungen treffen können zu den Geschlechtern, zu den Sportarten, so dass da schon mal eine Menge anfängt sich zu differenzieren."
In einem zweiten Schritt werde man allen Beteiligten einen Fragenkatalog zusenden, der höchsten wissenschaftlichen Standards genügt, um belastbare Daten zu ermitteln. Jochen Buhrmann geht davon aus, dass sie dann verschiedene Cluster mit typisch verlaufenden Doping- und Krankheitsgeschichten bilden können. Das könnte später im Umkehrschluss Dopingopfern helfen, schneller zum Kern ihres Problems vorzudringen.
"Und wenn wir diese Cluster bilden können, kommt es im Umkehrschluss dazu, dass wir die Opfer anschreiben und fragen, ob wir mit ihnen ein persönliches Interview führen dürfen. Das geht dann in einem dritten Schritt noch mehr in die Tiefe. Das wird auch ausgewertet, und alles drei würde in Buchform erscheinen."
"Ich plädiere erst einmal auf eine schulinterne Aufarbeitung"
Zurück in der Schweriner "Eliteschule des Sports", der Nachfolgeeinrichtung der Kinder- und Jugendsportschule. Direktor Torsten Westphal öffnet eine Tür. Auf dem Schild steht "Konferenzraum". Drinnen hängen jede Menge Sportlerporträts. Eine hohe Glasvitrine mit hunderten Pokalen erstreckt sich über eine ganze Wand.
"Es müsste eigentlich Pokalzimmer heißen oder Vorzeigezimmer. Hier haben wir noch, weil wir ja auch DDR-Zeiten noch die großen Erfolge zu verzeichnen haben - das ist Jürgen Schult. Der hält nach wie vor den Diskusweltrekord. Das ist eine Leihgabe. Dort haben sie dann Boxer, Leichtathleten, Segler."
Auch Jürgen Schult, heute Leitender Bundestrainer für die Wurf- und Stoßdisziplinen, war in den 80er-Jahren mit dem Muskelaufbau-Mittel Oral-Turinabol gedopt worden – und wusste davon. Weil er die Ermittler darüber belogen hatte, musste Schult 12.000 D-Mark Strafe zahlen. Dazu findet sich in dem Pokalzimmer keine Notiz. Ebenso wenig zu dem heutigen Schweriner Sportfunktionär Gerd Wessig oder anderen nachweislich belasteten Sportlern oder Trainern, die heute noch am Sportgymnasium oder nebenan am Olympiastützpunkt aktiv sind.
Er verwahre sich gegen Pauschalverurteilungen, sagt Torsten Westphal. Spannend finde er freilich, dass nun in Mecklenburg-Vorpommern gleich an mehreren Stellen mit der historischen und medizinischen Aufarbeitung der DDR-Dopingstrukturen begonnen werde.
"Das ist jetzt so eine Problematik, der ich mich auf jeden Fall, wenn es denn so weit sein sollte und die Anfragen kommen, stellen werde. Keine Frage. Aber ich plädiere erst einmal auf eine schulinterne Aufarbeitung."
Zum Schluss ein Gang mit Gymnasiumsdirektor Torsten Westphal durch die Box-Halle. Gerade trainieren der Schweriner Weltmeister Jürgen Brähmer und einige Nachwuchstalente. Er wolle nicht missverstanden werden, sagt der Fachlehrer für Geschichte:
"Ein Schlussstrich darf einfach nicht gezogen werden; man muss sich dieser Problematik stellen allein schon aus der Tatsache heraus, dass man aus den Fehlern der Vergangenheit für die Gegenwart und Zukunft lernen muss. Dazu stehe ich auch. Aber wie weit soll diese Aufarbeitung gehen, wenn Namen fallen? Schwerin ist eine Stadt, die hat zwar 100.000 Einwohner, aber trotzdem kennt hier jeder jeden. Und wenn dann Namen fallen, hat das Dimensionen selbst nach so langer Zeit. Das muss man sich im Vorfeld gut überlegen, ob das dann noch so will."