Schaden an Leib und Seele
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Sie haben unter dem Drill gelitten - unter den Folgen des Dopings leiden sie noch heute. Zu DDR-Zeiten wurden jugendliche Sportler mit harten Medikamenten vollgepumpt. Als Erwachsene haben sie mit schweren körperlichen und psychischen Problemen zu kämpfen.
"Berlin, 1. November 1977. Hallo, ihr Lieben daheim, wenn alles klappt, dann komme ich am 19./20. November nach Hause. Aber unser Cheftrainer will, dass wir die Langstrecke mitfahren, zehn Kilometer im Zweier für uns. Wir waren im Lehrgang schon alle völlig knülle. Es gibt keinen mehr in unserer Trainingsgruppe, der nichts zu klagen hat. Wir haben alle die Nase voll. Die sollen sich bloß nicht einfallen lassen, uns erst Weihnachten heimfahren zu lassen!"
Iris Buchholz ist 59 Jahre alt. Als sie diese Briefe schreibt, ist sie 16 und gehört zur Elite der jungen Ruderinnen. Die Schwerinerin trainiert beim Sportclub Dynamo Berlin. Ihr Leben spielt sich auf dem Wasser, in der Sporthalle, in der Schule und im Internat der KJS, der Kinder- und Jugendsportschule, ab. Eine internationale Karriere wurde nicht daraus.
"Heute wissen wir ja auch - diese Zahl hat sich bei mir so eingeprägt - dass im Prinzip auf jeden Spitzensportler, fast egal in welcher Sportart, drei Menschen verbrannt wurden. Es zählte nur der Körper. Ich habe das auch viel in den Briefen an meine Eltern geschrieben damals. Und erst nach über 35 Jahren, erst in der Klinik, im geschützten Rahmen, habe ich mir getraut da reinzugucken. Was hast du damals eigentlich geschrieben?"
Iris Buchholz schrieb: "Die Heimfahrt fällt weg. Gut, ne? Ich könnte den Leuten reintreten! Die haben ja nicht das geringste Verständnis für uns. Fünfmal im Jahr zuhause, das scheint den blöden Trainern schon zu viel zu sein. Ich habe vielleicht eine Wut auf die!"
Psychischer Zusammenbruch, Therapien, Kliniken
Sie sagt heute: "Mir ist selbst beim Lesen dieser Briefe richtig schlecht geworden. Ich bin völlig in mir zusammengebrochen. Ich war froh, dass ich in der Klinik war. Unbewusst macht man wahrscheinlich doch irgendwie das Richtige, wenn man so nach und nach merkt: Irgendwas ist da schief gelaufen. Und irgendwie musst du jetzt anders mit dir umgehen."
Iris Buchholz ist eine sehr große, sehr schlanke Frau. Businessoutfit. Geschäftsfrau, Prokuristin in einer Firma. Tough, erfolgreich. Wie viele ehemalige Leistungssportler. Und: am Ende. Mit 47 Jahren wird sie am Herzen operiert, schon zwei Tage später geht sie wieder arbeiten. Zehn Jahre später eine weitere, schwerwiegende Operation. Danach der psychische Zusammenbruch, Therapien, Kliniken. Erst da wird ihr bewusst: Ihre körperliche und ihre seelische Verfassung haben etwas mit ihrer Geschichte zu tun, ihrer Geschichte in der Kaderschmiede des DDR-Leistungssports.
"Da konnte ich nur unter Tränen überhaupt was erzählen. Im Beruf konnte ich das super abspalten. Ich muss es selber erstmal annähernd verstehen und in Worte fassen können. Selbst in meinem Familienkreis ist das schwer zu vermitteln."
Der erste Schritt zur Erkenntnis war für Iris Buchholz eine Fernsehdokumentation: Die dort gezeigten Medikamente – Anabolika und Schmerzmittel, erkannte sie an der Packung. Erst jetzt wurde ihr klar, dass diese in dem enthalten waren, was ihr, als Minderjähriger, ohne ihr Wissen und ohne Zustimmung der Eltern verabreicht worden war - verschleiernd "Vitamine" und "unterstützende Mittel" genannt.
Iris Buchholz sagt: "Was ist damals unter dem Leistungsdruck psychisch mit uns gemacht worden? Weil uns oft durch die unterstützenden Mittel in verschiedensten Formen diese Schmerzgrenze erhöht wurde, sukzessive, ohne dass wir es merkten. Ich war ja verdammt nochmal damals stolz drauf, dass ich zum Sportklub delegiert wurde. Andere waren neidisch. Und auch heute sagen Freunde aus der damaligen Zeit: 'Ich war so neidisch auf dich'. Ich sage: 'Na, heute bestimmt nicht!' Das ist vorbei, nachdem ich den Schrittmacher habe, und kein Kardiologe weiß bis heute, warum ich mehrmals einfach so umgefallen bin."
Eine Landesbeauftragte für die Dopingopfer
Die ehemalige Sportlerin begab sich in stationäre psychotherapeutische Behandlung. Arbeitete dort ihre Geschichte auf. Doch nicht nur die Hilfe von Medizinern und Psychotherapeuten stabilisierte die einst so starke und zuletzt so schwache Frau wieder.
Auch die Betreuung durch Daniela Richter tat ihr gut. Daniela Richter ist Beraterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Landesbeauftragten für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur. 2016 beauftragte der Landtag in Schwerin diese Behörde, die vom Staatsdoping der DDR Betroffenen zu begleiten. Mittlerweile gibt es bei allen Landesbeauftragten in jedem ostdeutschen Bundesland eine solche Beratungsstelle. In Schwerin werden 265 Sportlerinnen und Sportler aus den ehemaligen drei Nordbezirken betreut.
Warum das 30 Jahre nach der Wende immer noch – oder erst jetzt überhaupt – ein aktuelles Thema ist, begründet Daniela Richter so: "Ich glaube, es braucht immer einen Abstand, um solche Sachen zu begucken, individuell und gesellschaftlich auf jeden Fall. Und dann kommt natürlich dazu, dass die Krankheiten oft auch erst dann aufgetreten sind bzw. sie wurden gut kompensiert oder man brachte das gar nicht in Zusammenhang."
Schmerzhafter Prozess der Verarbeitung
Das Problem ist: Den meisten Sportlerinnen und Sportlern, die jetzt in die Beratungsstellen kommen, ist lange nicht bewusst gewesen, dass auch sie zu den Betroffenen gehören. Schließlich waren sie doch noch Kinder oder Jugendliche und hatten wissentlich nichts eingenommen. Doch in einigen Sportarten und in bestimmten Klubs wurden – so legte es der sogenannte "Staatsplan 14.25" fest – auch schon minderjährigen Sportlern verschiedenste Substanzen verabreicht, um den unerbittlichen Trainingsplan erfüllen zu können.
Sich darüber klar zu werden, ist ein schmerzhafter Prozess. Gemeinsam kann man ihn besser bewältigen. So treffen sich 40 ehemalige Athletinnen und Athleten aus den Nordbezirken regelmäßig in der Selbsthilfegruppe, die von Daniela Richter in Schwerin betreut wird.
"Und daran merkt man einfach auch, wie hoch der Bedarf da ist, und wie lange die auch auf diesen ganzen Geschichten und Begebenheiten gesessen haben, ohne jemals mit jemandem darüber zu reden", sagt Richter. "Ich hatte auch einige Sportler, die gesagt haben: 'Das weiß noch nicht mal mein Ehepartner, was ich Ihnen heute das erste Mal erzählt habe.' Und das finde ich dann immer schon erschreckend."
Die Ursachen dafür liegen tief. Sie haben vor allem mit Scham zu tun, erfuhr Daniela Richter bei ihren Beratungen.
"Mit der Scham dann stigmatisiert zu werden in der Form: 'Du wolltest das ja. War ja auch was Gutes. Wieso beschwerst du dich jetzt?' Und dann auch dieses: 'Du musst alleine zurechtkommen.' Man konnte sich damals keinem anvertrauen - warum sollte es heute anders sein? Und dann ist es auch häufig so, dass man hört: Das versteht ja keiner."
Aus einem Brief von Iris Buchholz: "Berlin, 3. Mai 1978. Im Moment könnte ich wirklich alles wegschmeißen. Beim Training klappt einfach nichts mehr. Wir sind zwar von unserer Trainingsgruppe die Schnellsten, aber wir sind trotzdem nicht zufrieden."
Buchholz erinnert sich: "Letzten Endes ging es nur um Druck, Druck, Druck. In den Briefen, die ich jetzt eben gerade nachgelesen habe, da habe ich gedacht: Du hast damals ja schon einen maximalen Burn-Out gehabt. Du warst ja völlig neben der Rolle schon, weswegen du ja auch aufhören wolltest Ich habe Rückenschmerzen, Magenschmerzen gekriegt, das wurde alles abgetan: Das geht weiter."
Sie schrieb damals: "Gestern war ich nochmal beim Arzt. Er meint, dass ich objektiv wieder gesund bin. Es war wohl eine chronische Magenschleimhautentzündung. So was auf so lange Zeit kommt mir bisschen seltsam vor. Als ich sagte, dass es doch auch eventuell eine Nervensache sein könnte, blödelte er gleich rum, dass ich mir das gar nicht erst einreden brauche. Na ja, letztendlich kam raus, dass ich jetzt versuche, das Training wieder aufzubauen und in 14 Tagen wieder voll drin stehe. Da hätte ich heulen können."
Der Zusammenbruch kommt mit Verzögerung
Der psychische Zusammenbruch kommt bei der ehemaligen Ruderathletin Iris Buchholz 40 Jahre nachdem sie diese Briefe schrieb. Im Schweriner Krankenhaus wird sie von Dr. Jochen Buhrmann betreut, dem Chefarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Jochen Buhrmann arbeitete gemeinsam mit seinem - inzwischen verstorbenen - Kollegen Harald Freyberger und Doktoranden der Universität Greifswald an der Studie "Erkrankungshäufigkeit bei begutachteten DDR-Kaderathleten".
Schon in den 90er Jahren gab es wichtige Studien zu Doping-Folgeschäden – dort ging es jedoch vor allem um körperliche Schäden. Jochen Buhrmann ist einer der Vorreiter unter den Medizinern, die den Blick erweitern.
"Gerade die psychischen Folgeschäden sind unterschätzt. Einmal, weil sie wenig bekannt sind und weil wenig Augenmerk darauf gerichtet wurde", sagte Buhrmann. "Und weil die Sport-Betroffenen selbst bislang der Auffassung sind, dass all ihre organischen Schäden letztendlich Folge des Dopings mit unterschiedlichsten Substanzen sind. Die Anabolika sind ja nur eine Substanzgruppe, wenngleich die am meisten gegeben wurde. Dass das mit dem in Zusammenhang steht. Und nicht, dass die psychologischen Rahmenbedingungen für sich genommen schon traumarisierend genug sind, um die jetzige psychische Verfassung zu erklären."
Von den 57 begutachteten Sportlern, 33 Frauen und 24 Männer im Durchschnittsalter von 53 Jahren, haben 70 Prozent in ihrem bisherigen Leben unter Depressionen gelitten. Buhrmann:
"Auch wiederum auffällig ist die Häufigkeit der posttraumatischen Belastungsstörungen. Patienten, die wesentliche psychische Traumatisierung erlitten haben durch die Zeit im Leistungssport der DDR und die Bedingungen dort. Und zwar sind das über alles, Männer und Frauen, 17,5 Prozent. Und das ist weit, weit höher als der Durchschnitt der Bevölkerung. Da spricht man von drei Prozent. Die 17,5 Prozent, die wir errechnet haben, sind schon eine sehr große Belastung."
Krankheiten, die nicht heilen
Viele der ehemaligen Sportlerinnen und Sportler sind heute dauerhaft arbeitsunfähig - aufgrund physischer und psychischer Erkrankungen. Durch das Dopingopfer-Hilfegesetz, das Ende 2019 auslief, konnte von den Betroffenen eine einmalige finanzielle Hilfe in Höhe von 10.500 Euro beantragt werden. Ähnlich dem Fonds für Heimkinder ist das eine Art moralische Anerkennung der Schäden.
Auch Kathy Pohl bekam diese Summe zuerkannt. Die ehemalige Volleyballerin des SC Traktor Schwerin, die als Verwaltungsangestellte in Berlin arbeitete, ist bereits mit Mitte 40 voll erwerbsunfähig. All die Operationen, denen sie sich unterziehen musste, kann sie kaum zählen. Die 10.500 Euro sind ihr eine Hilfe, stellen aber keine Entschädigung dar.
"Das empfand ich schon als wohltuend, dass man zunächst einmal ernst genommen wird. Ernst genommen als Dopingopfer. Und ich dachte: Das klingt erst mal gut als Summe. Aber ich bin jetzt 22 Jahre von meinem normalen Renteneintritt entfernt. Mir fehlen 22 Jahre meines Arbeitslebens! Wie wollen die Verantwortlichen das wieder gut machen? Die Verantwortlichen sind bereits im Sicheren. Und leider sind das alles Krankheiten, die nicht abheilen."
"Ihr Leben ist anders"
Ebenso wie die Schweriner Ruderin Iris Buchholz wurde Kathy Pohl weder von Trainern noch von Ärzten über den tatsächlichen Inhalt des "Vitamincocktails" aufgeklärt, natürlich auch nicht die Eltern der damals 15jährigen. Sie erfuhr die Wahrheit, als sie für ihren Rentenantrag von einem Neurologen begutachtet wurde. Zufällig hatte der früher mit dem Leistungssportsystem zu tun.
"Er sagte, nachdem er lange überlegte und ich schon einige Fragen beantwortet hatte: 'Sie waren am Sportclub Traktor Schwerin?' – 'Ja.' – 'Ach so. Dann haben Sie gedopt.' Ich sage: 'Ich habe niemals gedopt!' Sagt er: 'Sie können sich sicher sein. Wenn Sie sagen, Sie haben nicht gedopt, dann wurden Sie gedopt. Ich war an der Universitätsklinik Rostock beschäftigt und wir waren für den Sportclub Traktor zuständig!' Gehen Sie mal mit solcher Erkenntnis aus so einem Gespräch heraus. Ihr Leben ist anders."
Die ehemalige Volleyballerin fand in ihrer Not beim DOH Unterstützung - der Doping-Opfer-Hilfe, einem Verein, den es seit 20 Jahren gibt. Das Wichtigste für sie war, zu spüren: Ich bin nicht allein mit meinen Problemen und meiner Geschichte. Anderen ging es ähnlich. Das alles hatte System und ich war ein Teil davon.
"Diese Unbarmherzigkeit, wenn man Schmerzen angab, die nicht normal waren. Schmerzen waren normal für uns - ich sage mal, für mich. Wenn ich mich heutzutage mit Sportlern unterhalte, kommt diese Meinung auch rüber: Schmerzen waren normal. Es gab unnormale Schmerzen. Es wurde nur sehr widerwillig zum Arzt geschickt. Wir sind auch selbstständig zum Arzt gegangen. Wir hatten immer Angst, dass wir vom Trainer – und wenn es Körpersprache gewesen ist – negative Rückmeldungen bekommen haben. Und wir hatten starken Respekt vorm Trainer!"
Und: "Permanente Entwertung ist in vielen Sportarten an der Tagesordnung gewesen. Herabwürdigung, Beschimpfungen. Mein Eindruck ist, dass viele Trainer auch persönlich gekränkt reagiert haben, wenn die Sportler in der Tagesform oder insgesamt nicht die gewünschten Leistungen erbracht haben."
Stolz auf jedes Lob
So erlebte es auch Iris Buchholz beim Sportclub Dynamo Berlin. Täglich. "Einmal war ich so stolz, dass ich gelobt wurde vom Bundestrainer – Verbandstrainer hieß das ja damals. Zu 99 Prozent war ich grottenschlecht, unzureichend. Und wenn man das jahrelang hört, obwohl man eben auch gute Leistungen bringt – aber es zählte nur der Sieg. Und das hat sich leider auch doll eingeprägt: Selbstzweifel, Selbstkritik, da bin ich super drin. Auch heute noch. Ich bin nie gut genug!"
Buchholz fügt hinzu: "Es gab auch drastische Konsequenzen, dass Kinder bestraft wurden, wenn sie die geforderten Leistungen nicht erbracht haben, indem sie am Wochenende nicht ins Elternhaus fahren durften, während alle anderen weg waren. Es gibt auch eindeutige Berichte und Hinweise in Stasi-Unterlagen, dass zersetzende Maßnahmen gegen das Elternhaus gefahren wurden, um eben den uneingeschränkten Zugriff auf die Sportler haben zu können und den schützenden Einfluss der Eltern auszuschließen."
Denn welche Eltern hätten toleriert, dass Gaben des Doping-Mittels Oral-Turinabol, kombiniert mit der teilweise dauerhaften Verabreichung von Schmerzmitteln das Schmerzempfinden ihrer Kinder derart herab setzen würde, dass sie die harten Trainingsmethoden überhaupt überstanden? Nur so konnte bis über die körperlichen Grenzen hinaus trainiert werden - körperliche und seelische Schäden wurden von den Verantwortlichen dabei billigend in Kauf genommen. Bis heute leiden 63 Prozent der in der Studie begutachteten DDR-Athleten unter Schmerzstörungen. Kathy Pohl gehört dazu.
"Ich habe das niemals erlebt, dass jemand sagte: Ich mache das nicht mit! Zum Beispiel Feldabwehr auf Schlackeboden. Das ist wie so ein Armeeplatz, wo die Soldaten drauf marschieren. Darauf haben wir trainiert und haben Feldabwehr gemacht. Das heißt, wir sind nach Bällen gesprungen und haben diese Rollen gemacht, um die Bälle zu erwischen. Da ist jeder meterlang auf diesem Schutt gerutscht. Wir haben immer Schleifwunden gehabt. Verbundene Hände, Hüften, natürlich schlägt man auf die Hüften auf. Es hat keiner gewagt, sich irgendeiner Anweisung zu widersetzen."
Auswertung von Stasi-Akten als Basis
Massenhaft wurden in der Wendezeit in den Sportclubs Unterlagen vernichtet. Und Gesundheitsämter müssen Dokumente nur 30 Jahre aufbewahren. Deshalb verwendet man in der Aufarbeitung solcher Fälle sogenannte Systembelege - basierend auf der Auswertung von Stasi-Akten, Treffberichten und Dokumenten, die das planmäßige Doping in bestimmten Sportarten an Elite-Sportklubs belegen.
"Dann ist zum Beispiel klar, dass Sportler XY im Sportverein Z natürlich keine Ausnahme bildet, wenn der ganze Kader gedopt worden ist. Selbst wenn für ihn individuell keine Unterlagen mehr zu finden sind - aber die Zugehörigkeit zu der Altersklasse in der Zeit und der Sportart in dem Verein hat dann der Systembeleg abgesichert."
Keine individuellen Akten, ehemalige Ärzte und Trainer, die nicht reden und auch im Nachhinein nicht aufklären wollen - die Ungewissheit macht vielen ehemaligen Sportkadern zu schaffen. Dazu der Vorwurf, sie seinen Trittbrettfahrer und wollten nur das Geld. Vanessa Salata, Sozialarbeiterin beim Doping-Opfer-Hilfe-Verein in Berlin, widerspricht.
"Bei meiner Arbeit habe ich festgestellt, dass diese Vorwürfe völlig haltlos waren. Weil sich eben so viele Menschen gemeldet hatten, denen es wirklich schlecht ging. Die andere Sache ist, dass unsere Arbeit ja hier viel komplexer ist, als dass es nur um finanzielle Zuwendung geht. Wir haben alle möglichen Hilfen - von Therapeutensuche bis kosmetische Haarentfernung. Also Frauen, die unter Hysotismus leiden, immer noch, 30 Jahre später. Also Bartwuchs im Gesicht. Oder einfach nur zuhören. Den Geschichten zuhören. Das ist ganz, ganz vielfältig und hat nur zum Teil mit finanziellen Zuwendungen zu tun. Es geht eher darum, den Menschen zu zeigen, wie man jetzt noch ein schönes Leben haben kann. Oder ein besseres Leben. Das ist eigentlich die Hauptaufgabe des Vereins."
Noch viele Betroffene im Verborgenen
Tina Jürgens, eine ehemalige Turnerin aus Berlin, setzt sich bei der Doping-Opfer-Hilfe ehrenamtlich für die Betroffenen ein. Ende 2019 ist das zweite Doping-Opfer-Hilfegesetz ausgelaufen. Tina Jürgens weiß, dass es noch viele Betroffene gibt, die bisher noch nicht in der Lage waren, sich ihrer Geschichte zu stellen. Deshalb fordert ihr Verein eine Entfristung des Gesetzes.
"Wir möchten, dass die Leute weiter Anträge auf Entschädigung stellen können. Und wir möchten auch, dass es so etwas wie eine Opferrente gibt für die ehemaligen Sportler - für die schweren Fälle", sagt Jürgens.
Auch die Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern für die Aufarbeitung der SED-Diktatur unterstützt derzeit mit Musterklagen zwei schwer beeinträchtigte Sportler, die eine solche Opferrente beantragt haben.
Es sind Fälle wie jener der Volleyballerin Kathy Pohl. Aus ihrem seelischen Tief konnte sie sich mit Hilfe der Gespräche bei der Doping-Opfer-Hilfe in Berlin emporarbeiten und macht jetzt sogar selbst ehrenamtlich im Vorstand mit. Geht an Schulen, um für Aufklärung zu sorgen. Den Begriff Dopingopfer, überhaupt, Opfer, lehnt sie inzwischen für sich ab.
"Ich empfinde mich als Sportgeschädigte. Weil der Missbrauch an eigentlich fast allen Einflussbereichen passiert ist: Durch Training oder Manipulation oder Druck und Dopingmittel, die uns zu Maschinen gemacht haben. Also ich sehe mich als Sportgeschädigte."
"Was wir ganz oft erfahren in der Arbeit mit den Betroffenen: Wenn sie verstehen, dass es eine systemische Gewalt, ein systemischer Missbrauch war und keine individuelle Geschichte an sich. Dass sie dann diese Erleichterung spüren. Und sich einen Teil ihrer Identität zurückholen. Weil sie immer das Gefühl hatten, sie sind nicht richtig, irgendwas stimmt mit mir nicht. Aber glauben, sie sind selbst schuld. Aber in dem Moment, in dem sie verstehen, sie sind missbraucht worden von diesem Staat, in dem Moment können sie auch eher sagen: Ich kann mir mein Leben wieder zurückholen. Dass sie es schaffen, vom Opfer zum Überlebenden zu werden und ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen."
Jegliche Hilfe und Fürsorge verweigert
Aus einem Brief von Iris Buchholz: "Berlin, 26.November 1978. Liebe Mutti, lieber Vati, es gibt nichts Besonderes hier. Am Freitag habe ich dem Arzt gesagt, dass das Training meinem Rücken nicht gut tut. Da hat er mir 14 Tage Teiltraining verschrieben und jeden Tag muss ich zur Sprechstunde. Jedenfalls haben sie mir heute gesagt, dass sie mich nicht einfach gehen lassen. Wenn ich von mir aus gehe, dann müsste ich eben damit rechnen, dass mir jede Unterstützung entzogen wird. Das hatte ich auch erwartet."
Die Schweriner Ruder-Athletin Iris Buchholz wird mit 18 Jahren aus dem Kader "ausdelegiert", wie es hieß. Ohne weitere ärztliche Begleitung, ohne die Möglichkeit abzutrainieren. Obwohl sie ihr Abitur mit Eins abschließt, bekommt sie keinen Studienplatz. Jegliche Fürsorge und Hilfe wird ihr verweigert. Vater Staat ist beleidigt. Er entzieht dieser jungen Frau, die sich zum Lob der DDR für seine Ehre krank geschuftet hat, seine Liebe.
"Das ist so komplex, das anzusprechen. Und zu oft auch die Erfahrung, dass es von den damals Verantwortlichen auch negiert wird. Voraussichtlich wird das erst mit dem Generationenwechsel nach und nach passieren, dass die persönlichen Betroffenheiten immer weniger werden, dass das damit dann umschwenken wird. Und die Geschichtsbetrachtung nach und nach anders laufen wird. So ist das ja mit allen geschichtlichen Prozessen."