Keine Chance mehr für die Moral?
Gleich zwei Inszenierungen am Kieler Schauspielhaus haben sich die "Zehn Gebote" vorgeknöpft. Die Stücke des Dramatikerduos Feridun Zaimoglu und Günter Senkel sowie des Autors Shlomo Moskovitz stellen die Moralfrage - und das ausgerechnet im Krieg.
Der Heimspiel-Bonus gilt für diesen Autor immer – im allerhöchsten Norden schlug der türkischstämmige Feridun Zaimoglu ja Wurzeln, und das Kieler Publikum hat sich nicht nur gewöhnt an den smarten Grobian, seit er mit "Kanak Sprak" vor vielen Jahren den Sound seiner Generation beschwor.
Gemeinsam mit Ko-Autor Günter Senkel übertrug Zaimoglu in der Folge einige Shakespeare-Klassiker in zeitgenössische Sprache. Die beiden gingen dabei gern recht ruppig zu Werke, fanden aber den eigenen Ton – und speziell daheim in Kiel können sie sich des Zuspruchs immer sicher sein. Rhythmisch klatscht das Publikum sich jetzt in pure Begeisterung, als die beiden die zehn biblischen Moral-Gebote zum Thema machen.
Obwohl nicht recht auszumachen ist, worum es ihnen wirklich geht. Der israelische Autor Shlomo Moskovitz markiert dagegen in der Doppel-Uraufführung am Kieler Schauspielhaus sehr viel deutlicher die Fragen, die sich mit den ewigen "Du sollst nicht!"-Vorschriften verknüpfen müssen in Zeiten des Krieges.
Richtig gehört und gelesen – ausgerechnet im Krieg fragen beide Stücke nach Moral. Dabei weiß doch alle Welt, dass die Chancen für Moral gleich, ach was: unter Null rangieren, sobald die Waffen sprechen - und eben nicht mehr die menschliche Vernunft. Weil Zaimoglu und Senkel die zehn Szenen für den eigenen Dekalog nicht etwa (wie in der Film-Serie des Polen Krzysztof Kieslowski) in verschiedensten Regionen bürgerlichen Alltagslebens ansiedeln und dort die Moral nach Gültigkeit befragen, sondern in der extremstmöglichen Verirrung aller Menschlichkeit, in der Belagerung der Stadt Leningrad im Zweiten Weltkrieg, müssen sie scheitern. Denn wer fragt im Armageddon nach Moral …
Zombies fern aller Gebote
Niemand – nicht auf der Seite entmenschster deutscher Belagerer, auch nicht wirklich unter den Verteidigern in Hunger und Verrohung; und weil niemand im Kriegspanoptikum dieser "Zehn Gebote" letzte Reste von Menschlichkeit zu behaupten versucht, kein letzter versprengter Apostel und kein Janusz Korczak wie im Warschauer Ghetto zum Gegenbild zur Apokalypse werden soll, bestätigen Zaimoglu und Senkel nur: Krieg ist böse, Krieg ist dumm. Er verwandelt Menschen in Marionetten, in Zombies fern aller Gebote.
Ein deutsches Bilderbuch-Monstrum in schwarzer SS-Uniform, einer also vom Orden unter dem Totenkopf, steht im Zentrum. Den Bruder opfert er, nachdem er fern der Front schon dessen Frau geschwängert hat, und die eigene Truppe malträtiert er derart, dass einer in Feldgrau schließlich zum mörderischen Rache-Engel in der Familie des Killers wird. Mit dem charismatichen Führer des Leningrader Widerstands hat der Gottseibeiuns des deutschen Horrors zuvor Russisch Roulette gespielt … da driftet das Pappkameraden-Kabinett in der Inszenierung der Osnabrücker-Noch-Schauspielchefin Annette Pullen nachgerade ab in blanke Albernheit.
Wie belanglos und beiläufig aber auch herum gemordet und gestorben wird in diesem ersten Teil der Doppel-Uraufführung von Kiel – zentral bleibt das Fehlen jedes Motivs im Text von Zaimoglu und Senkel: Wann hätte vor Leningrad jemals jemand Gedanken verschwendet auf zehn Gebote?
Shlomo Moskovitz im zweiten Teil beschwört hingegen eine echte Auseinandersetzung. Adam, zu Beginn ein Funktionsträger auf der mittleren Führungsebene der israelischen Armee, widersetzt sich im Libanon-Krieg und bei der Belagerung von Beirut den Befehlen der Führung. Er fragt moralisch nach Sinn und Ziel des eigenen Tuns, und die schematischen Antworten staatlich-israelischer Moral genügen ihm nicht. Dem Gebetsmühlen-Mantra des "Nie wieder wehrlos sein nach dem Holocaust!" misstraut dieser Adam – Beirut will er nicht erobern. Er setzt für diese Erinnerung an moralische Gebote die eigene Karriere aufs Spiel.
Krieg in den Konflikt mit Menschlichkeit
Am Ende ist er dann Israels jüngster General (es gibt in historisches Vorbild für die Geschichte, wie Moskovitz sie erzählt), aber zum Feiern ist ihm nicht zu Mute. Alle ungelösten Fragen in der eigenen Familie sind diesem Adam auf die Füße gefallen - die Tochter will lieber sterben als auch zur Pflicht-Armee, der Vater, KZ-Überlebender, hat einst die eigene Tochter missbraucht und in den Selbstmord getrieben; und er selber, dieser beispielhafte "erste Mensch" Adam, wird wohl nie treu sein können … Auch Moskovitz hat die Fabel am Reißbrett konstruiert. Nicht wirklich zwingend an die Gebote geknüpft, und ein bisschen geschwätzig, zwingt er aber immerhin Macht und Krieg in den Konflikt mit Menschlichkeit und Moral.
Und wenn der sehr viel intensiveren und lustvolleren Inszenierung der Regisseurin Dedi Baron (der künstlerischen wie persönlichen Partnerin des Autors) auch nach etwa der Hälfte komplett die Luft ausgeht und nur noch herum konstruiert wird, hat sie immerhin eine richtig grandiose Idee – sie stellt diesem Adam, diesem Macho-Militär, ein weibliches Gewissen gegenüber: in Gestalt einer pfiffigen Eselin. Wer in der Bibel nachschlagen möchte – das ist Bileams Eselin. Mit dieser Idee überfallen Moskovitz und Baron das Publikum und im Grunde auch die übermächtige Ambition der Dramaturgen-Idee von den doppelten "Zehn Geboten", und für ein halbes Stündchen funkelt dieser Kieler Theater-Abend klug und frech. Dann verlieren sich Moskovitz wie Baron in der Familiengeschichte …
Am Schluss, bei der Karriere-Party des frisch gebackenen Generals, tragen alle Gäste die Gewissensmaske der Eselin – hier steckte ein kluges Motiv im Spiel. Und zwei komplette Ensembles, ziemliche Mengen also an Kieler Schauspiel-Personal, werfen sich mit starkem Engagement in die moralischen Schlachten. Doch letztlich bricht der Abend immer wieder zusammen unter der Last des biblischen Themas: zu Beginn, weil er nicht weiß, was er anfangen soll damit, am Ende, weil er nicht mehr weiß, wohin er wirklich will.